OGH 1Ob28/22g

OGH1Ob28/22g23.3.2022

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Bydlinski als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätin Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger, Dr. Hofer‑Zeni‑Rennhofer und Dr. Parzmayr als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj Kinder V*, geboren * 2009, M*, geboren * 2011, und N*, geboren * 2013, über den Revisionsrekurs des Landes Salzburg (als Kinder‑ und Jugendhilfeträger), gegen den Beschluss des Landesgerichts Salzburg als Rekursgericht vom 16. Dezember 2021, GZ 21 R 311/21p‑78, mit dem der Rekurs des Landes Salzburg gegen den Beschluss des Bezirksgerichts Salzburg vom 11. Oktober 2021, GZ 43 Ps 182/21f‑47, teilweise zurückgewiesen wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0010OB00028.22G.0323.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird im Umfang der Zurückweisung des Rekurses gegen Spruchpunkt 1a des erstgerichtlichen Beschlusses aufgehoben und dem Rekursgericht insoweit die inhaltliche Entscheidung über den Rekurs aufgetragen.

Die Mutter hat die Kosten ihrer Revisionsrekursbeantwortung selbst zu tragen.

 

Begründung:

[1] Der zuständige Kinder‑ und Jugendhilfeträger beantragte am 3. 8. 2021 die Übertragung der Obsorge für die drei Minderjährigen. Die Kinder befanden sich ab 7. 9. 2021 aufgrund einer am 10. 8. 2021 angeordneten vorläufigen Maßnahme gemäß § 211 Abs 1 ABGB in einer Kriseneinrichtung. Unstrittig ist, dass sie seit Zustellung des erstgerichtlichen Beschlusses wieder von der Mutter betreut werden.

[2] Über Antrag der Mutter erklärte das Erstgericht die Abnahme der Kinder und deren Unterbringung für unzulässig (Spruchpunkt 1a). Weiters entzog es der Mutter bis zur rechtskräftigen Beendigung des Obsorgeverfahrens das Aufenthaltsbestimmungsrecht für die Kinder und übertrug es dem Kinder‑ und Jugendhilfeträger (Spruchpunkt 2). Es verbot ihr, mit den Kindern auszureisen, und verpflichtete sie zur Übergabe der (Reise‑)Dokumente an den Kinder‑ und Jugendhilfeträger (Spruchpunkt 3). Zu den Spruchpunkten 1a, 2 und 3 sprach es aus, dass diesen Entscheidungen vorläufige Verbindlichkeit und Vollstreckbarkeit zukomme (Spruchpunkt 1b, 2 und 5). Überdies trug es der Mutter auf, einer therapeutisch ambulanten Familienhilfe (TAF‑Betreuung) sowie einer sozialpädagogischen Familienhilfe (SELF‑Betreuung), die seitens der Kinder‑ und Jugendhilfe einzurichten sei(en), „zuzustimmen“ (Spruchpunkt 4).

[3] Das Rekursgericht bestätigte Spruchpunkt 2 des Beschlusses. Den darüber hinaus auch gegen die Spruchpunkte 1 und 4 gerichteten Rekurs des Kinder- und Jugendhilfeträgers wies es aber als insoweit nicht (mehr) zulässig zurück.

[4] Die Zurückweisung des Rekurses gegen die Entscheidung über die Unzulässigerklärung der nach § 211 Abs 1 ABGB gesetzten Maßnahme (Spruchpunkt 1a) begründete es damit, dass dem Kinder‑ und Jugendhilfeträger die Beschwer fehle. Er sei, weil der Entscheidung vorläufige Verbindlichkeit und Vollstreckbarkeit zugekommen sei, verpflichtet gewesen, die vorläufige Maßnahme aufzuheben. Daran habe auch die Erhebung des Rekurses nichts ändern können. Die zwar gesetzlich vorgesehene Rekurslegitimation des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers sei damit ohne praktische Bedeutung. Ein Rekurs könne nämlich in einem solchen Fall seinen eigentlichen Zweck, die Rechtswirkungen des angefochtenen Beschlusses durch dessen Abänderung zu beseitigen, nicht mehr erreichen. Da es nicht Aufgabe der Rechtsmittelinstanzen sei, über bloß theoretische Fragen abzusprechen, sei das Rekursrecht des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers bei einer solchen Sachlage zu verneinen.

[5] Das Rekursgericht erklärte den ordentlichen Revisionsrekurs für zulässig, weil Rechtsprechung zur Frage der Beschwer des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers im (Rechtsmittel-)Verfahren nach § 107a Abs 1 AußStrG fehle.

Rechtliche Beurteilung

[6] Der (von der Mutter beantwortete) Revisionsrekurs des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers ist aus dem vom Rekursgericht genannten Grund zulässig und auch berechtigt.

1. Zum Umfang des Revisionsrekurses:

[7] Der Kinder- und Jugendhilfeträger wendet sich darin (nur) gegen die Zurückweisung des Rekurses „mangels Vorliegens von Beschwer“ und strebt mit seinem Rechtsmittelantrag die Abänderung (bloß) dahin an, dass festgestellt werde, dass die gemäß § 211 Abs 1 Satz 2 ABGB am  10. 8. 2021 gesetzte Maßnahme vorläufig zulässig ist (womit nur Spruchpunkt 1a betroffen ist). Die Zurückweisung des Rekurses gegen den Ausspruch über die „vorläufige Verbindlichkeit und Vollstreckbarkeit“ nach § 107a Abs 1 Satz 3 AußStrG (Spruchpunkt 1b) als unzulässig, wird im Revisionsrekurs (zutreffend) ebensowenig angefochten wie die Zurückweisung zu Spruchpunkt 4, zumal es auch dazu an einer inhaltlichen Auseinandersetzung damit, warum die Entscheidung des Rekursgerichts unrichtig sein sollte, und an einem entsprechenden Rechtsmittelantrag fehlt (vgl RIS‑Justiz RS0043624 [T1]).

2. Zur Berechtigung des Revisionsrekurses:

[8] 2.1. Der Kinder- und Jugendhilfeträger ist gemäß § 211 Abs 1 ABGB verpflichtet („hat“), die zur Wahrung des Wohles eines Minderjährigen erforderlichen gerichtlichen Verfügungen im Bereich der Obsorge zu beantragen. Er kann bei Gefahr im Verzug die erforderlichen Maßnahmen der Pflege und Erziehung vorläufig mit Wirksamkeit bis zur gerichtlichen Entscheidung selbst treffen.

[9] Das Kind und die Person, in deren Obsorge dadurch eingegriffen wurde, können gemäß § 107a Abs 1 AußStrG einen Antrag auf Überprüfung der aktuellen Zulässigkeit einer vorläufigen Maßnahme des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers stellen (vgl RIS‑Justiz RS0130951; 6 Ob 118/13s = RS0128953). Der (selbst nicht antragslegitimierte) Kinder‑ und Jugendhilfeträger ist in einem solchen Verfahren Antragsgegner (6 Ob 118/13s).

[10] Gegen die Zulässigerklärung der vorläufigen Maßnahme ist kein Rechtsmittel zulässig. Nur die Entscheidung, mit der eine Maßnahme nach § 211 Abs 1 Satz 2 ABGB für unzulässig erklärt wird, kann (binnen einer Frist von drei Tagen) angefochten werden (§ 107a Abs 1 Satz 3 und 4 AußStrG).

[11] 2.2. Mit der Entscheidung darüber, dass eine bestimmte Maßnahme im Zeitpunkt der Beschlussfassung erster Instanz (aktuell) für unzulässig erklärt wird, wird zwischen dem jeweiligen Antragsteller und dem Kinder- und Jugendhilfeträger bindend geklärt, dass die Maßnahme objektiv unberechtigt war. Der Kinder‑ und Jugendhilfeträger könnte, wenn er vom Antragsteller im Verfahren nach § 107a Abs 1 AußStrG in einem Zivilprozess – etwa auf Schadenersatz – belangt würde, nicht mehr einwenden, die Maßnahme sei in jenem Zeitpunkt (doch) zulässig (also nicht rechtswidrig) gewesen (vgl zum – wenn auch im Verfahren nach Abs 1 leg cit weniger stark als jenem nach Abs 2 ausgeprägten – Interesse an der Abwehr des Vorwurfs einer Grundrechtsverletzung Einberger in Schneider/Verweijen, AußStrG § 107a Rz 14). Schon aus diesem Grund ist er durch das Aufrechtbleiben der Entscheidung – entgegen der Ansicht des Rekursgerichts – beschwert.

[12] 2.3. Es mag zutreffen, dass – sofern das Erstgericht die vorläufige Verbindlichkeit und Vollstreckbarkeit der Entscheidung nicht ausschließt (s § 107a Abs 1 Satz 3 AußStrG) – der Kinder‑ und Jugendhilfeträger die für unzulässig erklärte vorläufige Maßnahme sofort zu beenden hat. Es wird daher im Regelfall – wie auch hier – im Zeitpunkt der Entscheidung des Rekursgerichts diese Maßnahme nicht mehr aufrecht sein (woraus Beck [in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG2 § 107a Rz 17] schließt, dass die Rekurslegitimation des Kinder- und Jugendhilfeträgers ohne praktische Bedeutung ist; ähnlich auch Thau,Überprüfbarkeit einer vom Kinder- und Jugendhilfeträger gesetzten Maßnahme – Gerichtliche Entscheidung über die [Un‑]Zulässigkeit der Maßnahme ist vorläufig verbindlich und vollstreckbar, iFamZ 2014, 152). Der Kinder‑ und Jugendhilfeträger hat aber den gesetzlichen Auftrag (vgl nur § 211 Abs 1 ABGB), das Wohl des Minderjährigen zu verfolgen. Sofern er der Ansicht ist, dass die Entscheidung des Erstgerichts unrichtig ist, wäre es daher aus seiner Warte unter dem Blickwinkel der Verfolgung des Kindeswohls geboten, eine der beendeten Maßnahme inhaltsgleiche (neue) Maßnahme zu setzen. Dies wäre aber ohne zwischenzeitig eingetretene Änderung der Umstände nicht möglich, da die (selbe) Maßnahme bei unveränderter Sachlage bereits einer Beurteilung durch das Erstgericht unterzogen worden ist. Bei Verweigerung eines Rechtsmittels bliebe die Beurteilung unüberprüfbar und bindend.

3. Zusammenfassend gilt daher:

[13] Einem vom Kinder- und Jugendhilfeträger erhobenen Rekurs gegen einen Beschluss nach § 107a Abs 1 AußStrG, mit dem eine vorläufige Maßnahme nach § 211 Abs 1 Satz 2 ABGB für unzulässig erklärt wurde, fehlt es (auch dann) nicht an der Beschwer, wenn das Gericht die „vorläufige Verbindlichkeit und Vollstreckbarkeit“ dieser Entscheidung nicht ausgeschlossen hat und die Maßnahme bereits beendet ist.

[14] 4. Da das Rekursgericht die Beschwer des Revisionsrekurswerbers gegen Spruchpunkt 1a zu Unrecht verneint hat, ist der Beschluss insoweit aufzuheben und ihm die meritorische Entscheidung über den Rekurs aufzutragen. Im Fall seiner Berechtigung wäre auszusprechen, dass die Maßnahme im Zeitpunkt der Beschlussfassung in erster Instanz vorläufig zulässig war.

[15] 5. Auch das Verfahren nach § 107a ist ein solches über die Obsorge. Ein Kostenersatz findet daher nicht statt (§ 107 Abs 5 AußStrG; 6 Ob 118/13s; Einberger in Schneider/Verweijen, AußStrG § 107a Rz 21).

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte