OGH 11Os109/21w

OGH11Os109/21w8.2.2022

Der Oberste Gerichtshof hat am 8. Februar 2022 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schwab als Vorsitzenden sowie die Vizepräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Marek, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner‑Foregger und Mag. Fürnkranz und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl als weitere Richter in Gegenwart des Rechtspraktikanten Mag. Jäger, BA, als Schriftführer in der Strafsache gegen Dr. * M* und weitere Beschuldigte wegen des Vergehens des Missbrauchs von Tonaufnahme- oder Abhörgeräten nach § 120 Abs 2 StGBund anderer strafbarer Handlungen, AZ 711 St 1/19v der Staatsanwaltschaft Wien, AZ 352 HR 252/19x des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über den Erneuerungsantrag des Dr. M* in Bezug auf den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien vom 22. Februar 2021, AZ 19 Bs 196/20t, 19 Bs 238/20v, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0110OS00109.21W.0208.000

Rechtsgebiet: Strafrecht

 

Spruch:

Der Antrag wird zurückgewiesen.

 

Gründe:

[1] Bei der Staatsanwaltschaft Wien ist zu AZ 711 St 1/19v ein Ermittlungsverfahren gegen Dr. * M* und weitere Beschuldigte wegen § 120 Abs 2 StGB und anderer strafbarer Handlungen anhängig. Diesem Ermittlungsverfahren liegt – zusammengefasst – der Verdacht der Herstellung einer (mehrere Stunden umfassenden) Tonaufnahme nichtöffentlicher Äußerungen von Mag. * G* und * S* vom 24. Juli 2017 und Zugänglichmachen derselben ohne Einverständnis der Sprechenden zwischen 24. Juli 2017 und 17. Mai 2019 in Wien an * Z* und andere Personen gegen Entgelt zugrunde.

[2] In seinem am 23. Juni 2020 eingebrachten Einspruch wegen Rechtsverletzung gemäß § 106 Abs 1 StPO (ON 732) behauptet der Beschuldigte Dr. M* eine Verletzung seines subjektiven Rechts nach „§§ 20, 98, 101 StPO“: Danach hätten – ohne Kenntnis derStaatsanwaltschaft – die mit den kriminalpolizeilichen Ermittlungen im Rahmen der sogenannten S* betrauten Polizeibeamten Mag. * H*, M.A.,und * C*, B.A., am 27. Mai 2020 (Hintergrund‑)Gespräche mit Pressevertretern geführt. Sie hätten dabei den Einspruchswerber als „der Tat überführt“ hingestellt und zum „Mitglied einer kriminellen Vereinigung“ erklärt und solcherart eine Verletzung der Unschuldsvermutung bewirkt. Der Einspruchswerber verweist insofern auf – dem Einspruch beigeschlossene – Medienberichte. Überdies sei Mag. H* medialer Kritik an seiner Person mit der in einem „abwertenden Ton“ geäußerten Anschuldigung begegnet, der Einspruchswerber hätte Geld von der Behörde gefordert. Es bestehe zudem der Verdacht, dass seitens der Polizeibeamten den Vertretern der Medien anlässlich der Gespräche vom 27. Mai 2020 Akteneinsicht gewährt, Aktenbestandteile ausgefolgt bzw Informationen aus Verschlussakten erteilt worden seien. Die Staatsanwaltschaft sei ihrer Leitungsfunktion (durch Rücksprache, Rechtsbelehrung, Anordnung, Einschaltung der vorgesetzten Stellen oder andere Maßnahmen) nicht nachgekommen, was eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren nach Art 6 MRK sowie des Rechts auf den gesetzlichen Richter nach Art 83 Abs 2 B‑VG bedeute. Der Einspruch mündete in das Begehren auf Feststellung der Rechtsverletzung sowie auf Durchführung und Dokumentation einer Rechtsbelehrung des Leiters der S* durch die Staatsanwaltschaft Wien, dass „jegliche Medieninformation durch die Sicherheitsbehörden der vorhergehenden Herstellung des Einvernehmens unter zugrundeliegender vollständiger und richtiger Information über die geplante Vorgangsweise mit den beteiligten Staatsanwaltschaften, insbesondere mit der Staatsanwaltschaft Wien“ bedürfe.

[3] In ihrer dazu erstatteten (ablehnenden) Stellungnahme erklärte die Staatsanwaltschaft, dass ihr keine Leitungsbefugnis in Ansehung polizeilicher Medienarbeit zustehe (ON 757).

[4] Der Einspruchswerber äußerte hiezu (ON 793), es ergebe sich aus dem in § 19 Abs 3 StPO enthaltenen Verweis auf das StAG, dass die in § 35b StAG geregelte Medienarbeit eine nach der StPO wahrzunehmende Aufgabe der Staatsanwaltschaft im Rahmen ihrer Leitungsfunktion im Ermittlungsverfahren sei. Da die rechtswidrige Presseaktion der S* „noch immer“ nachwirke, bestehe ein besonderes rechtliches Interesse des Einspruchswerbers, „dass die Staatsanwaltschaft Wien ihre Leitungsfunktion hier wahrnimmt“.

[5] Das Landesgericht für Strafsachen Wien wies den Einspruch des Beschuldigten vom 23. Juni 2020 (ON 732) mit Beschluss vom 13. Juli 2020, GZ 352 HR 252/19x-795, zurück: Danach seien die „medial hinlänglich bekannte[n] Gespräche und Hintergrundgespräche“ der in der S* eingesetzten Polizeibeamten mit Vertretern der Presse, bei denen „Informationen aus dem Ermittlungsverfahren erteilt wurden“, nicht auf Basis einer Anordnung der Staatsanwaltschaft erfolgt, sondern „von der Kriminalpolizei von sich aus vorgenommen“ worden (BS 4). Ein eigenständiges Handeln der Kriminalpolizei unterliege keiner Kontrolle durch die ordentlichen Gerichte mittels Einspruchs wegen Rechtsverletzung nach §§ 106 f StPO. Die– die Medienarbeit der Staatsanwaltschaft regelnde – Bestimmung des § 35b StAG lege ebenso wenig ein subjektives Recht des Einspruchswerbers nach der StPO fest wie der Bezug habende („Medien“‑)Erlass des Bundesministeriums für Justiz vom 23. Mai 2016 über die Zusammenarbeit mit Medien, BMJ‑Pr50000/0021‑Kom/2016. Vielmehr seien Medienangelegenheiten und sonstige Öffentlichkeitsarbeit Angelegenheiten der Justizverwaltung.

[6] In seiner dagegen gerichteten Beschwerde (ON 816) reklamierte der Beschuldigte eine unrichtige rechtliche Beurteilung der angefochtenen Entscheidung. Aus Beschwerdesicht komme der Staatsanwaltschaft kraft „dynamischen“ Verweises in § 19 Abs 3 StPO auf das StAG Leitungsfunktion auch in Bezug auf Medieninformationen zu, wobei die Einhaltung des § 35b StAG im Interesse des Beschuldigten liege und solcherart ein subjektives Recht normiere, welchem durch eine entsprechende Anordnung der Staatsanwaltschaft Rechnung zu tragen wäre. Da keine Abhilfe erfolge, sondern die Bestreitung der Zuständigkeit einer Verweigerung der Sachentscheidung gleichkomme, sei Art 83 Abs 1 B‑VG verletzt und es werde der Beschuldigte– entgegen Art 6 MRK – zum „bloßen Objekt des Verfahrens“ gemacht und ihm überdies – entgegen Art 13 MRK – der Rechtsweg verweigert.

[7] Mit seinem Schriftsatz vom 18. August 2020 (ON 851) erhob Dr. M* einen weiteren Einspruch wegen Rechtsverletzung gemäß § 106 Abs 1 Z 1 StPO und brachte vor, er gehe nunmehr davon aus, dass die Presse‑(hintergrund‑)gespräche vom 27. Mai 2020 sehr wohl im Einvernehmen mit der Staatsanwaltschaft erfolgt seien, zumal der Bundesminister für Inneres im Rahmen der zu Nr 2256/J ergangenen Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage am 7. August 2020 erklärt habe, die Medienarbeit sei „im Einvernehmen“ mit der zuständigen Staatsanwaltschaft Wien erfolgt, wobei die Medienerlässe des BMI und des BMJ „eingehalten“ worden seien. Dies „stelle in den Raum“, dass die (im Einspruch ON 732 kritisierte) polizeiliche Medienarbeit der Staatsanwaltschaft „zuzurechnen“ sei und solcherart dem Rechtsschutzregime des § 106 StPO unterliege. Da der Einspruchswerber als „überführt“ und als „Mitglied einer kriminellen Vereinigung hingestellt“ worden sei, liege eine Verletzung der Unschuldsvermutung, des Rechts auf ein faires Verfahren sowie des Rechts des Beschuldigten auf Einhaltung der Vorgaben über die inhaltliche Ausgestaltung der Medienarbeit nach den §§ 19 Abs 3, „151“ [StPO] iVm § 35b Abs 2 StAG vor. Gleiches gelte für abwertende Äußerungen des Mag. H* und für das Zugänglichmachen von Akteninhalten und Informationen einer Verschlusssache. Die fehlende Offenlegung der tatsächlichen Umstände durch die Staatsanwaltschaft stelle eine Verletzung des Wahrheits-, Objektivitäts- und Beschleunigungsgebots her und bedinge eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren nach Art 6 MRK und des Rechts auf wirksame Beschwerde nach Art 13 MRK. Diese Rechtsverletzungen seien festzustellen und es sei durch vollständige Offenlegung der wahren Sachlage Abhilfe zu schaffen.

[8] In ihrer hiezu erstatteten Stellungnahme (ON 871) erklärte die Staatsanwaltschaft, Medienarbeit sei ausschließlich eine Angelegenheit der Justizverwaltung; weder § 35b StAG noch der sogenannte „Medienerlass“ räumten subjektive Rechte nach der StPO ein. Der Staatsanwaltschaft sei keine Rechtsverletzung anzulasten.

[9] In seiner Äußerung vom 14. September 2020 (ON 891) wiederholte Dr. M* seine Argumentation, wonach der Staatsanwaltschaft auch die Leitungsbefugnis in Bezug auf Medieninformationen über das Ermittlungsverfahren zukomme und der Beschuldigte ein subjektives Recht auf rechtskonforme Ausübung dieser Leitungsfunktion habe.

[10] Mit Beschluss vom 17. September 2020, GZ 352 HR 252/19x‑892, wies das Landesgericht für Strafsachen Wien den Einspruch des Beschuldigten vom 18. August 2020 (ON 851) zurück. Begründend wurde auf den Beschluss vom 13. Juli 2020 verwiesen (BS 11 f) und (abermals) davon ausgegangen, dass die gegenständlichen polizeilichen Presse‑(hintergrund‑)gespräche ohne eine entsprechende Anordnung der Staatsanwaltschaft erfolgten. Nach Auffassung des Gerichts bestünde weder nach der StPO noch nach § 35b StAG ein subjektives Recht in Bezug auf die Medienarbeit der Polizei; ein solches werde auch nicht in den vom Einspruchswerber zitierten Medienerlässen begründet. Die vom Bundesminister für Inneres (im Rahmen einer parlamentarischen Anfragebeantwortung dargestellte) „Einhaltung von Medienerlässen“ betreffe wiederum eine – im Einspruchsverfahren nicht zu prüfende – Angelegenheit der Justizverwaltung.

[11] In seiner dagegen gerichteten Beschwerde (ON 906) reklamierte der Beschuldigte eine unrichtige rechtliche Beurteilung der angefochtenen Entscheidung und wendete abermals ein, die Information der Medien über ein Ermittlungsverfahren sei Teil desselben, zumal die Entscheidung nach § 35b StAG im (engsten) Zusammenhang mit der konkreten Ermittlungstätigkeit, Aufklärung und Verfolgung stehe, weshalb insofern auch ein subjektives Recht des Beschuldigten nach der StPO bestünde.

[12] Mit Beschluss vom 22. Februar 2021, AZ 19 Bs 196/20t, 238/20v, gab das Oberlandesgericht Wien den Beschwerden des Beschuldigten (ON 816 und ON 906) nicht Folge:

[13] Danach beziehe sich § 106 Abs 1 StPO zwar nicht nur auf ausdrücklich als „Rechte“ titulierte Bestimmungen der StPO, sondern auch auf Vorschriften (der StPO), deren Sinn und Zweck zeige, dass der Betroffene an der Einhaltung eben dieser Vorschrift ein berechtigtes Interesse hat, wobei die Garantien der MRK über die einfachgesetzliche Regelung des § 5 Abs 1 StPO in die Bestimmung des § 106 Abs 1 StPO einfließen. Die in § 35b StAG verankerte Medienarbeit der Staatsanwaltschaft stelle jedoch keine von der Strafprozessordnung erfasste (faktische) Tätigkeit im Sinne des § 1 Abs 1 StPO dar. Auch die Ableitungen des Einspruchswerbers, wonach § 35b StAG in den Rechtsbestand der StPO einfließe, es sich bei der Medienarbeit um eine Ermittlungstätigkeit nach der StPO handle und „§ 35b StAG iVm §§ 19 Abs 3, 20, 98, 101 StPO ein durch § 106 StPO abgesichertes subjektives Recht begründe, dass in Bezug auf Medieninformationen über ein Ermittlungsverfahren die Kriminalpolizei stets ein Einvernehmen mit der Staatsanwaltschaft herzustellen“ und letztere insofern eine Leitungsfunktion auszuüben habe, wobei „Verstöße dagegen auch eine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter“ bewirkten sowie ein Verstoß gegen die Vorgaben des § 35b Abs 2, Abs 3 StAG als Verletzung des § 3 Abs 1, Abs 2 und des § 9 StPO festzustellen sei, vermochten das Beschwerdegericht nicht zu überzeugen (BS 9). Da § 35b StAG kein subjektives Recht des Betroffenen nach der StPO normiere, erübrige sich ein Eingehen auf die weitere Beschwerdeargumentation.

Rechtliche Beurteilung

[14] Dagegen richtet sich der Antrag des Beschuldigten auf Erneuerung des Strafverfahrens, der eine Verletzung des Art 6 Abs 1, Abs 2 MRK darin erblickt, dass das Oberlandesgericht die Frage, ob § 35b StAG subjektive Rechte nach der StPO normiere, welche mittels Einspruch wegen Rechtsverletzung geltend gemacht werden könnten, unrichtig gelöst habe. Damit werde der Beschuldigte „zum bloßen Objekt staatsanwaltschaftlichen Handelns oder Unterlassens“ gemacht. Überdies sei der Beschluss des Oberlandesgerichts betreffend die Beschwerde ON 906 „ohne jegliche Begründung“ und damit „willkürlich“ ergangen. In der Prolongation der (aus Sicht des Erneuerungswerbers) geschehenen Verletzung der Unschuldsvermutung (Art 6 Abs 2 MRK) erachte er sich auch weiter in diesem Recht verletzt. Überdies bestünde „der Verdacht, dass Vertretern der Medien am 27.05.2020 von Beamten Akteneinsicht gewährt und Aktenteile ausgefolgt wurden, jedenfalls aber Informationen aus dem damals als Verschlusssache geführten Akt erteilt worden waren“. Eine Verletzung des Art 13 MRK sei darin zu erblicken, dass die Entscheidung des Oberlandesgerichts dazu führe, dass gegen die vom Erneuerungswerber aufgezeigten Grundrechtsverletzungen kein effektives Rechtsmittel zur Verfügung stünde. Die Information der Medien nach § 35b StAG sei (trotz der Auflistung dieser Agenda in § 11 [Abs 1 Z 24] Geo) keine Angelegenheit der Justizverwaltung, sondern eine – kraft dynamischen Verweises des § 19 Abs 3 StPO – von der StPO vorgesehene Aufgabe der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren, weshalb ihr insofern eine Leitungs- und Kontrollkompetenz (auch zum Schutz der Interessen des Beschuldigten) zukomme.

 

Der Oberste Gerichtshof hat erwogen:

[15] Für einen – wie hier – nicht auf ein Urteil des EGMR gestützten Erneuerungsantrag (RIS‑Justiz RS0122228), bei dem es sich um einen subsidiären Rechtsbehelf handelt, gelten alle gegenüber dem EGMR normierten Zulässigkeitsvoraussetzungen der Art 34 und Art 35 MRK sinngemäß (RIS‑Justiz RS0122737, RS0128394).

[16] Demnach hat – weil die Opfereigenschaft nach Art 34 MRK nur anzunehmen ist, wenn der Beschwerdeführer substantiiert und schlüssig vorträgt, in einem bestimmten Konventionsrecht verletzt zu sein (Grabenwarter/Pabel, EMRK7 § 13 Rz 16) – auch ein Erneuerungsantrag deutlich und bestimmt darzulegen, worin eine (vom angerufenen Obersten Gerichtshof sodann selbst zu beurteilende) Grundrechtsverletzung im Sinn des § 363a Abs 1 StPO zu erblicken sei (RIS‑Justiz RS0122737 [T17]). Dabei hat er sich mit der als grundrechtswidrig bezeichneten Entscheidung in allen relevanten Punkten auseinanderzusetzen (RIS‑Justiz RS0124359, RS0128393) und – soweit er (auf Grundlage der Gesamtheit der Entscheidungsgründe) nicht Begründungsmängel aufzuzeigen oder erhebliche Bedenken gegen die Richtigkeit getroffener Feststellungen zu wecken vermag – seine Argumentation auf Basis der Tatsachenannahmen der bekämpften Entscheidung zu entwickeln (RIS‑Justiz RS0125393 [T1]).

[17] Gemäß Art 6 Abs 2 MRK gilt jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig, wobei dieser Grundsatz und dessen einfachgesetzliche Ausformung (§ 8 StPO) für alle Strafverfahren in jedem Stadium – auch nach Abschluss durch rechtskräftigen Freispruch oder Verfahrenseinstellung – ohne Rücksicht auf ihren Ausgang anzuwenden ist. Diese Maxime gilt für Richter, Verwaltungsbehörden und Gesetzgeber, aber auch für Ermittlungsbeamte oder Medien (EGMR 30. 3. 2010, 44418/07, Poncelet/Belgien Rn 57 ff; Grabenwarter/Pabel, EMRK7 § 24 Rn 142 ff; Meyer‑Ladewig/Harrendorf/König in Meyer‑Ladewig/Nettesheim/Raumer, EMRK4 [2017] Art 6 Rz 84, 211 ff).

[18] Damit die in der Konvention gewährleisteten Rechte in den Mitgliedstaaten effektiv geschützt werden, hat jedermann, der eine Verletzung dieser Rechte durch einen dem Staat zurechenbaren Hoheitsakt der Exekutive, Judikative oder Legislative behauptet, das Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz. Diese muss kein Gericht iSd Art 5 und Art 6 MRK sein, jedoch muss nach ihren Kompetenzen, ihrer Organisation und den von ihr einzuhaltenden Verfahrensgarantien sichergestellt sein, dass eine Beschwerde wirksam ist.

[19] Nach § 106 Abs 1 StPO steht Einspruch an das Gericht jeder Person zu, die behauptet, im Ermittlungsverfahren durch [die] Staatsanwaltschaft in einem subjektiven Recht verletzt zu sein, weil ihr die Ausübung eines Rechts nach diesem Gesetz verweigert (Z 1) oder eine Ermittlungs- oder Zwangsmaßnahme unter Verstoß gegen Bestimmungen dieses Gesetzes angeordnet oder durchgeführt wurde (Z 2).

[20] „Ermitteln“ (§ 91 Abs 2 StPO) als dem Zweck der Sachverhaltsklärung dienender Gegenstand des Ermittlungsverfahrens (Abs 1 leg cit) ist jede Tätigkeit (der Kriminalpolizei, der Staatsanwaltschaft oder des Gerichts), die der Gewinnung, Sicherstellung, Auswertung oder Verarbeitung einer Information zur Aufklärung des Verdachts einer Straftat dient und als Erkundigung oder als Beweisaufnahme durchgeführt wird.

[21] Leitung im Ermittlungsverfahren (§ 101 Abs 1 erster Satz StPO) bedeutet Überordnung in der Führung und ist die Befugnis, also gleichermaßen Recht und Pflicht, Anordnungen und „einzelne Aufträge“ für die Entscheidung über die Stoffsammlung nach rechtlichen Kriterien zu erteilen. Die Staatsanwaltschaft kann den Gang der Ermittlungen aktiv beeinflussen, die Ermittlungstätigkeit der Kriminalpolizei durch Anordnungen in eine bestimmte Richtung lenken, der Kriminalpolizei Rechtsfragen beantworten bzw unrichtige Rechtsansichten aufzeigen; weiters ist sie dafür verantwortlich, dass Beschuldigte ihre prozessualen Rechte ausüben können und solcherart die Ermittlungsergebnisse vollständig und fehlerfrei sind (Ratz, Verfahrensführung und Rechtsschutz nach der StPO [2021] Rz 243, 474; Fabrizy/Kirchbacher StPO14 § 101 Rz 1; Flora, WK‑StPO § 101 Rz 5 f, 8; Hinterhofer/Oshidari, Strafverfahren Rz 7.82; Artner in LiK‑StPO § 101 Rz 1; K. Tauschmann in Schmölzer/Mühlbacher StPO 1 § 101 Rz 3, 20 f).

[22] Wo das Prozessrecht nicht Vorschriften des Organisations- oder Standesrechts konkrete Bedeutung „nach diesem Gesetz“ verleiht, indem es darauf verweist, sind die Rechtsbereiche auseinanderzuhalten. Organisations- und Standesrecht kommen somit nur dann ins Spiel, soweit die StPO ihnen Bedeutung für das Prozessrecht zubilligt, also darauf verweist. Wer als Staatsanwalt in der Führungs- und Leitungsverantwortung wirksame Handlungen setzen kann, ergibt sich aufgrund (dynamischer) Verweisung durch §§ 19 Abs 3 und 20 Abs 2 StPO aus §§ 3 Abs 1, Abs 3; 4 Abs 1 zweiter Satz, Abs 2 StAG (Ratz, Verfahrensführung und Rechtsschutz nach der StPO [2021] Rz 2, 3, 475).

[23] Die Information der Medien (vgl § 1 Abs 1 Z 1 MedienG) dient weder der „Aufklärung einer Straftat“ noch der „Verfolgung verdächtiger Personen“ noch stellt sie eine damit zusammenhängende „Entscheidung“ (iSd § 1 Abs 1 StPO) her; demnach ist sie nicht Gegenstand des Ermittlungsverfahrens (und dessen Leitung – Ratz, Aktuelle Rechtsprobleme des Ermittlungsverfahrens, ÖJZ 2021, 772 ff [774]), mag sie damit auch im Zusammenhang stehen. Vielmehr soll Öffentlichkeitsarbeit die Arbeitsweise von Strafverfolgungsbehörden „transparent und nachvollziehbar“ machen (Erlass des Bundesministeriums für Inneres vom 2. Jänner 2020, BMI‑ID1400/0117-I/5/2019 bzw vom 8. September 2021, GZ 2021‑0.627.040), „das Verständnis der Öffentlichkeit für die Rechtspflege fördern und das Vertrauen der Bevölkerung in die Einrichtungen der Justiz und ihrer Entscheidungen stärken“ (EBRV 181 BlgNR 25. GP S 20 [zu § 35b StAG]; vgl auch Erlass des Bundesministeriums für Justiz vom 23. Mai 2016 über die Zusammenarbeit mit Medien, BMJ‑Pr50000/0021‑Kom/2016).

[24] Im Übrigen sind gemäß § 11 Abs 1 Z 24 Geo Medienangelegenheiten und sonstige Öffentlichkeitsarbeit Justizverwaltungssachen, Medienstellen demnach – von §§ 106 f StPO nicht umfasste – Einrichtungen der Justizverwaltung und ressortieren (entgegen den Ausführungen des Erneuerungswerbers) in jenen Bereich der Gesetzesvollziehung, die ihrem Inhalt nach das Funktionieren der Gerichtsbarkeit sicherstellen soll (RIS‑Justiz RS0109257; vgl Markel, WK‑StPO Vor §§ 29–42 Rz 5; vgl neuerlich den Erlass des Bundesministeriums für Justiz vom 23. Mai 2016 über die Zusammenarbeit mit Medien, BMJ‑Pr50000/0021‑Kom/2016).

[25] Dazu kommt, dass die Aufgabe eines Mediensprechers einer Staatsanwaltschaft allein in einer Informationserteilung iSd § 35b Abs 1 StAG (der sich nur auf die Information der Medien durch die Staatsanwaltschaften bezieht und Medienarbeit durch die Kriminalpolizei selbst nicht ausschließt) liegt und keine Leitungs- und Kontrollbefugnis gegenüber der kriminalpolizeilichen Medienarbeit beinhaltet.

[26] Soweit sich der Erneuerungswerber gegen eine von ihm geortete Verletzung der Unschuldsvermutung durch eine am 27. Mai 2020 erfolgte polizeiliche (der Exekutive zuzurechnende) Medieninformation wendet und in der Ablehnung einer darauf bezogenen, von ihm im Wege des § 106 Abs 1 StPO begehrten judiziellen Abhilfe eine Verletzung des Art 6 Abs 1, Abs 2 MRK, des Art 13 MRK sowie des Rechts auf den gesetzlichen Richter nach Art 83 Abs 2 B‑VG erblickt, spricht er demnach von vornherein keine Ausübung von Befugnissen der Staatsanwaltschaft in Vollziehung der Strafprozessordnung als Leiterin des Ermittlungsverfahrens an. Nur gegen rechtsfehlerhafte Befugnisausübung dieser Art (§ 101 Abs 1 erster Satz StPO) aber steht Einspruch wegen Rechtsverletzung (arg „im Ermittlungsverfahren“) und damit Erneuerung des Verfahrens ohne Befassung des EGMR offen (17 Os 14/13g, EvBl‑LS 2014/16 = RIS‑Justiz RS0129012; Hinterhofer/ Oshidari, Strafverfahren Rz 7.1062 f; zu Befugnis und Rechtseingriff instruktiv Wiederin, WK‑StPO § 5 Rz 39 ff; zu den hoheitlichen Handlungsformen der Staatsanwaltschaft auch Schroll, WK‑StPO Vor §§ 19–24 Rz 10 f).

[27] Soweit der Antrag Spekulationen zur vermeintlichen Gewährung von Akteneinsicht, Häufung angeblich grundrechtswidriger Medieninformationen durch Bezug auf andere Strafverfahren sowie das möglicherweise „doch“ hergestellte Einvernehmen mit der Staatsanwaltschaft vor den gegenständlichen Pressemitteilungen anstellt, entspricht das Vorbringen nicht den eingangs dargelegten Erfordernissen (RIS‑Justiz RS0122737 [T17]).

[28] Das Oberlandesgericht hat somit zu Recht von einer inhaltlichen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der vom Einspruchswerber behaupteten Vorgänge abgesehen.

[29] Der Antrag auf Erneuerung war daher – in weitgehender Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur, jedoch entgegen der hiezu erstatteten Äußerung des Antragstellers – bereits bei nichtöffentlicher Beratung zurückzuweisen.

[30] Verbleibt mit Blick auf Art 13 MRK anzumerken, dass die Schließung von im Zusammenhang mit der Medienarbeit von Ermittlungsbehörden allenfalls bestehenden Rechtsschutzlücken nicht in die Kompetenz der Gerichte fällt.

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