OGH 7Ob174/21w

OGH7Ob174/21w24.11.2021

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätin und Hofräte Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich, MMag. Matzka und Dr. Weber als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei H*A*, vertreten durch Dr. Armin Exner, Rechtsanwalt in Innsbruck, gegen die beklagte Partei U* AG, *, vertreten durch Dr. Martin Wuelz, Rechtsanwalt in Innsbruck, wegen Feststellung, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgerichtvom 30. August 2021, GZ 4 R 117/21v‑30, womit das Urteil des Landesgerichts Innsbruck vom 9. Juni 2021, GZ 41 Cg 117/20d‑22, abgeändert wurde, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:0070OB00174.21W.1124.000

 

Spruch:

 

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 1.647,18 EUR (darin 274,53 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Zwischen den Streitteilen besteht ein Unfallversicherungsvertrag, dem die Klipp & Klar Bedingungen UD00 für die Unfallversicherung 2012 (Fassung 02/2016; AUVB 2012) zugrunde liegen. Diese lauten auszugsweise:

Dauernde Invalidität – Artikel 7

Soweit nichts anderes vereinbart ist, gilt:

1. Voraussetzung für die Leistung:

Die versicherte Person ist durch den Unfall auf Dauer in ihrer körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit beeinträchtigt. Die Invalidität ist innerhalb eines Jahres nach dem Unfall eingetreten. [...]

Kein Anspruch auf Invaliditätsleistung besteht, wenn die versicherte Person unfallbedingt innerhalb eines Jahres nach dem Unfall stirbt.

[…]

7. Im ersten Jahr nach dem Unfall wird eine Invaliditätsleistung von uns nur erbracht, wenn Art und Umfang der Unfallfolgen aus ärztlicher Sicht eindeutig feststehen.

8. Steht der Grad der dauernden Invalidität nicht eindeutig fest, sind sowohl die versicherte Person als auch wir berechtigt, den Invaliditätsgrad jährlich bis 4 Jahre ab dem Unfalltag ärztlich neu bemessen zu lassen.

[...]

Wann sind unsere Leistungen fällig und wann verjähren sie? – Artikel 18

1. Unsere Geldleistungen werden umgehend nach Beendigung aller unserer Erhebungen fällig, die zur Feststellung des Versicherungsfalles und des Umfanges der Leistungen nötig sind.

[...]“

[2] Am 18. Juli 2020 erlitt der Kläger bei einem Sturz auf seiner Terrasse eine Verletzung an der rechten Schulter. Am 20. Juli 2020 meldete er den Unfall der Beklagten. Mit Schreiben vom 21. August 2020 lehnte die Beklagte unter Hinweis darauf, dass sie wegen qualifizierten Prämienverzugs gemäß § 39 VersVG leistungsfrei sei, die Deckung für den Unfall ab und wies den Kläger gemäß § 12 VersVG darauf hin, dass ein Anspruch auf Versicherungsleistung innerhalb eines Jahres ab Zugang dieses Schreibens gerichtlich geltend zu machen sei.

[3] Der Kläger erlitt bei seinem Unfall eine Schultereckgelenkssprengung Grad III rechts. Diese Verletzung wird nicht folgenlos ausheilen, vielmehr wird eine Invalidität auf Lebenszeit verbleiben. Im Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung erster Instanz (25. Mai 2021) bestand eine Invalidität von 20 % des Armwerts, wobei noch kein Endstadium erreicht war. Üblicherweise heilen solche Verletzungen mit einer dauernden Invalidität von durchschnittlich 5 bis 10 % des Armwerts aus.

[4] Der Kläger begehrt die Feststellung der Versicherungsdeckung für den Unfall. Nachdem die Beklagte die Deckung abgelehnt habe und der Grad der zu erwartenden Invalidität innerhalb eines Jahres nach dem Unfall noch nicht eindeutig feststehe, habe er ein rechtliches Interesse an der Feststellung.

[5] Die Beklagte beantragt die Abweisung des Klagebegehrens. Sie wendete – soweit im Revisionsverfahren relevant – ein, die Invalidität stehe bereits fest, weshalb eine Leistungsklage möglich sei. Dem Kläger fehle es somit am Feststellungsinteresse.

[6] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab und führte – soweit im Revisionsverfahren noch relevant – aus, der Kläger hätte eine Leistungsklage erheben müssen, weil er den Invaliditätsgrad mit dem laut Gutachten feststehenden Mindestmaß von 5 % bereits beziffern hätte können. Dass die Verletzung noch nicht ausgeheilt sei, ändere daran nichts, weil nur klar sein müsse, welche Körperteile als Unfallfolge beeinträchtigt seien. Es fehle daher am rechtlichen Interesse für die begehrte Feststellung.

[7] Das Berufungsgericht gab der dagegen vom Kläger erhobenen Berufung Folge, änderte das Ersturteil ab und verpflichtete die Beklagte zur Deckung. Die maßgebliche Jahresfrist für die Beurteilung des Vorliegens einer dauernden Invalidität sei zum Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung erster Instanz noch nicht abgelaufen gewesen, sodass auf Art 7.7 AUVB 2012 abzustellen sei. Es stehe zwar die Art der Unfallfolge eindeutig fest, also welcher Körperteil betroffen sei, nicht jedoch auch der Umfang im Sinne des Grades der dauernden Invalidität, weil noch kein Endstadium erreicht sei. Die Voraussetzungen für eine Verpflichtung der Beklagten zur Erbringung einer Invaliditätsleistung seien zum Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung daher noch nicht vorgelegen, weshalb der Kläger noch kein Leistungsbegehren stellen habe können.

[8] Gegen dieses Urteil wendet sich die Revision der Beklagtenmit einem Abänderungsantrag; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[9] DerKläger beantragt in seinerRevisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[10] Die Revision ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig, sie ist aber nicht berechtigt.

[11] 1. Im Revisionsverfahren ist lediglich das rechtliche Interesse an der vom Kläger begehrten Feststellung der Versicherungsdeckung strittig.

[12] 2.1. Das Feststellungsinteresse ist Voraussetzung für die Begründetheit des Feststellungsanspruchs (RS0039177). Es ist vom Kläger durch Geltendmachung konkreter Umstände zu behaupten und (erforderlichenfalls) zu beweisen (RS0039239 [insb auch T1, T2]; RS0037977 [T1]). Die Feststellungsklage ist bei gleichem Rechtsschutzeffekt subsidiär zur Leistungsklage (RS0038849; RS0038817). Kann der Kläger bereits Leistungsklage erheben, fehlt seinem Feststellungsbegehren daher das rechtliche Interesse.

[13] 2.2. Wenn der Versicherer die Versicherungsleistung endgültig ablehnt, wird der Entschädigungsanspruch sofort fällig (RS0114507), sodass die Versicherungsleistung mit Leistungsklage geltend gemacht werden kann (RS0080481 [T5]; Steinbüchler in Fenyves/Perner/Riedler § 11 VersVG Rz 16; Armbrüster in Prölss/Martin, VVG31 § 14 Rn 3). War aber der Leistungsanspruch des Versicherungsnehmers zum Zeitpunkt der Leistungsablehnung durch den Versicherer noch nicht entstanden, weil etwa besondere Voraussetzungen für die Begründetheit des Anspruchs zum Zeitpunkt der Leistungsverweigerung noch nicht vorlagen, bewirkt die Leistungsablehnung nicht die Fälligkeit des Versicherungsanspruchs (Armbrüster in Prölss/Martin, VVG31 § 14 Rn 4; Fausten in MünchKommVVG2 § 14 Rn 77). Die (begründete) Leistungsablehnung bewirkt somit nur, dass der dem Versicherer zur Prüfung seiner Leistungspflicht eingeräumte Aufschub endet, nicht aber, dass ein noch gar nicht entstandener Anspruch fällig wird (BGH VersR 2002, 472; Veith in Veith/Gräfe/Gebert, Der Versicherungsprozess4 Abschnitt A § 1 Rn 124). Dies hat etwa Bedeutung für Invaliditätsansprüche in der Unfallversicherung (vgl BGH VersR 2002, 472; Rüffer in Rüffer/Halbach/Schimikowski, VVG4 AUVB 2014 Art 9 Rn 7).

[14] 2.3. Lehnt der Versicherer den Anspruch des Versicherungsnehmers – wie hier – wegen eines Prämienrückstands ab, führt diese Leistungsablehnung nicht zur Fälligkeit des Unfallversicherungsanspruchs. Voraussetzung für die Entstehung des Anspruchs auf die Invaliditätsleistung ist nämlich auch – soweit hier von Bedeutung –, dass nach Maßgabe des Art 7.7. AUVB 2012 innerhalb eines Jahres nach dem Unfall Art und Umfang der Unfallfolgen aus ärztlicher Sicht eindeutig feststehen müssen. Diese Regelung hat ihren Hintergrund darin, dass es nach einem Unfall zunächst oft Zweifel über die Frage geben kann, ob und in welchem Umfang Dauerschäden zurückbleiben; auch ist dies vom Genesungsprozess abhängig (Perner in Fenyves/Perner/Riedler § 179 VersVG Rz 32; Fähnrich, Die vom Versicherungsnehmer zu beachtenden Fristen in der Unfallversicherung, VR 2019 H 6, 44 [48]). Deshalb müssen Art und Umfang der Unfallfolgen im ersten Jahr eindeutig feststehen.

[15] 2.4. Allgemeine Versicherungsbedingungen (AVB) sind nach den Grundsätzen der Vertragsauslegung (§§ 914 f ABGB) auszulegen, und zwar orientiert am Maßstab des durchschnittlich verständigen Versicherungsnehmers und stets unter Berücksichtigung des erkennbaren Zwecks einer Bestimmung (RS0050063 [T71]; RS0112256 [T10]; RS0017960). Die Klauseln sind, wenn sie nicht Gegenstand und Ergebnis von Vertragsverhandlungen waren, objektiv unter Beschränkung auf den Wortlaut auszulegen; dabei ist der einem objektiven Betrachter erkennbare Zweck einer Bestimmung zu berücksichtigen (RS0008901 [insb T5, T7, T87]). Unklarheiten gehen zu Lasten der Partei, von der die Formulare stammen, das heißt im Regelfall zu Lasten des Versicherers (RS0050063 [T3]).

[16] 2.4.1. Der Begriff „Art“ der Unfallfolgen in Art 7.7. AUVB 2012 bezieht sich, wie die Vorinstanzen zutreffend ausführten, auf die Einschränkungen von Körperteilen und Sinnesorganen und nicht auf die Leistungsart (zB Invalidität, Tod). Es muss demgemäß klar sein, welche Körperteile als Unfallfolge beeinträchtigt sind (Maitz, AUVB Art 7, 102).

[17] Dies ist im vorliegenden Fall das rechte Schultergelenk des Klägers, weil die beim Unfall erlittene Schultereckgelenkssprengung Grad III nicht folgenlos ausheilen und dadurch eine Invalidität auf Lebenszeit verbleiben wird. Die „Art“ der Unfallfolge steht somit fest.

[18] 2.4.2. Der Begriff „Umfang“ kann sich nur auf den Leistungsbaustein dauernde Invalidität beziehen, zahlt der Versicherer doch etwa im Fall des Todes der versicherten Person innerhalb des ersten Jahres nach dem Unfall gar keine Leistungen aus diesem Baustein (vgl Art 7.1. letzter Satz AUVB 2012). Damit ergibt sich aus Sicht des durchschnittlich verständigen Versicherungsnehmers, dass sich der „Umfang der Unfallfolge“ auf den Grad der verbleibenden Einschränkung, also den Grad der dauernden Invalidität beziehen muss, wie dies das Berufungsgericht zutreffend erkannt hat. Dieser Grad muss innerhalb des ersten Jahres „eindeutig feststehen“ (Maitz, AUVB Art 7, 102). Diese Auslegung steht schon deshalb nicht in Widerspruch zum Neubemessungsrecht gemäß Art 7.8 AUVB 2012, weil dieses an eine Erstbemessung anknüpft.

[19] Im vorliegenden Fall ist nach der Sachverhaltsgrundlage davon auszugehen, dass sich die verbleibende Invalidität gegenüber dem maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt zum Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz – der wie dargelegt vor Ablauf der Jahresfrist des Art 7.1 AUVB 2012 lag – noch maßgeblich ändern wird, also nicht, wie die Beklagte vermeint, mit 20 % feststeht. Entgegen der Ansicht des Erstgerichts steht auch ein Mindestmaß an Invalidität nicht fest, sondern nur, dass solche Verletzungen üblicherweise mit einer dauernden Invalidität von durchschnittlich 5 bis 10 % des Armwerts ausheilen. Damit steht aber der Umfang der Unfallfolgen aus ärztlicher Sicht gerade nicht eindeutig fest, weshalb der Anspruch auf die Versicherungsleistung nach Art 7.7 AUVB zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt noch nicht fällig war.

[20] 2.4.3. Mangels Fälligkeit der Versicherungsleistung hat der Kläger daher ein rechtliches Interesse an der Feststellung der Versicherungsdeckung.

[21] 3. Die Revision ist erfolglos.

[22] 4. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 41 Abs 1, 50 Abs 1 ZPO.

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