OGH 10ObS145/21b

OGH10ObS145/21b19.10.2021

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Martin Lotz (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Gerald Fida (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei H*, vertreten durch Korn & Gärtner Rechtsanwälte OG in Salzburg, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, wegen Ausgleichszulage, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 29. Juli 2021, GZ 11 Rs 57/21 p‑22, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E133328

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Im Revisionsverfahren ist noch der gewöhnliche Aufenthalt der Klägerin in Österreich als Voraussetzung für den Anspruch auf Ausgleichszulage für den Zeitraum von 1. 5. 2020 bis 20. 9. 2020 strittig.

[2] Die 1945 geborene Klägerin, eine türkische Staatsbürgerin, hat seit 1999 ihren Hauptwohnsitz im Land Salzburg. Sie bezieht zu ihrer Alterspension die Ausgleichszulage. Ab 29. 2. 2020 hielt sie sich in der Türkei auf, um dort bis 30. 4. 2020 Urlaub zu machen. Am 2. 4. 2020 gab sie gegenüber einem Mitarbeiter der beklagten Pensionsversicherungsanstalt telefonisch bekannt, dass sie in der Türkei „festsitze“ und nicht wisse, wann sie zurückkommen dürfe. Aufgrund dieser Mitteilung wurde die Ausgleichszulage mit Bescheid vom 2. 4. 2020 ab 1. 4. 2020 vorläufig eingestellt.

[3] Die Klägerin gehört einer SARS‑CoV‑Risikogruppe an. Wegen ihrer individuellen gesundheitlichen Situation (mehrere Vorerkrankungen in Verbindung mit ihrem Lebensalter) hat sie nach einer SARS‑CoV‑Infektion ein erhöhtes Risiko eines schweren Krankheitsverlaufs. Nach dem Attest eines Lungenfacharztes wäre für sie nach Ausbruch der COVID-19-Pandemie eine Flugreise aus der Türkei nach Österreich im Zeitraum von März 2020 bis August 2020 mit einem erhöhten Risiko einer SARS‑CoV‑Infektion und einem hohen Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf verbunden gewesen, sodass aus medizinischer Sicht von einer Flugreise abzuraten war. Insbesondere im Hinblick auf diese ärztliche Empfehlung und auch wegen der Bewegungseinschränkungen hatte sich die Klägerin entschieden, nach Ausbruch der COVID‑19‑Pandemie in der Türkei zu bleiben. Sie hielt sich im Raum Antalya an wechselnden Orten bei Freunden auf und kehrte am 21. 9. 2020 nach Österreich zurück.

[4] Mit Bescheid vom 1. 10. 2020 sprach die Beklagte aus, dass für den Zeitraum von 1. 1. 2020 bis 31. 12. 2020 kein Anspruch auf Ausgleichszulage bestehe und der im Zeitraum von 1. 1. 2020 bis 31. 3. 2020 entstandene Überbezug von 1.845 EUR in monatlichen Raten in Höhe von 49 EUR rückgefordert werde.

[5] Das Erstgericht sprach der Klägerin die begehrte Ausgleichszulage von 1. 1. 2020 bis 31. 12. 2020 zu und stellte fest, dass die beklagte Partei nicht berechtigt sei, einen Betrag von 1.845 EUR zurückzufordern.

[6] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin teilweise Folge und änderte das Urteil des Erstgerichts dahin ab, dass es der Klägerin die Ausgleichszulage für den Zeitraum von 1. 1. 2020 bis 30. 4. 2020 und für den Zeitraum von 21. 9. 2020 bis 31. 12. 2020 zuerkannte und das Mehrbegehren auf Zuspruch der Ausgleichszulage für den Zeitraum von 1. 5. 2020 bis 20. 9. 2020 abwies.

Rechtliche Beurteilung

[7] Die außerordentliche Revision der Klägerin ist wegen Fehlens einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO unzulässig.

[8] 1. Die Ausgleichszulage hat sozialhilfeähnlichen, auf den individuellen Mindestbedarf abgestellten Charakter. Mit dieser Leistung sollen (nur) die Lebenshaltungskosten im Inland abgedeckt werden; außerdem soll damit die typischerweise dem Aufenthaltsstaat zukommende Aufgabe erfüllt werden, soziale Mindeststandards für bedürftige Personen zu gewährleisten, die sich nicht bloß vorübergehend in seinem Territorium aufhalten (Pfeil in Mosler/Müller/Pfeil, SV‑Komm § 292 ASVG [233. Lfg] Rz 7).

[9] 2. Dieser Charakter legt es nahe, dass die Ausgleichszulage nur im Inland beansprucht werden kann. Sie setzt daher den (rechtmäßigen) gewöhnlichen Aufenthalt im Inland voraus (§ 292 Abs 1 ASVG).

[10] 3. Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts wurde aus § 66 Abs 2 JN übernommen (ErläutRV 214 BlgNR 20. GP  45). Ob demnach ein gewöhnlicher Aufenthalt im Inland vorliegt, richtet sich nach seiner Dauer, seiner Beständigkeit sowie anderen Umständen persönlicher oder beruflicher Art, die dauerhafte Beziehungen zwischen einer Person und ihrem Aufenthalt anzeigen (RS0085478).

[11] 4. Kurzfristige und vorübergehende Auslandsaufenthalte schaden dem Aufrechtbleiben eines gewöhnlichen Aufenthalts nicht (RS0106712). Der Ausnahmecharakter des Aufenthalts im Ausland muss aber stets gewahrt werden (10 ObS 34/11i, SSV‑NF 25/43 mwN). Seine zeitliche Begrenzung wird ein Auslandsaufenthalt jedenfalls dann finden müssen, wenn er eine Dauer erreicht hat, die geeignet ist, einen gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland zu begründen (10 ObS 2207/96y SSV‑NF 10/83). Hält sich ein Pensionsberechtigter etwa mehr als die Hälfte des Jahres im Ausland auf, kann jedenfalls nicht mehr davon ausgegangen werden, dass er noch einen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat (RS0119112). Daran kann auch beispielsweise das Beibehalten einer Wohnung im Inland nichts ändern. Ein gewöhnlicher Aufenthalt im Inland liegt erst dann wieder vor, wenn der Pensionsbezieher tatsächlich nach Österreich zurückgekehrt ist und nach den Umständen indiziert ist, dass er seinen Aufenthalt auf Dauer (wieder) ins Inland verlegt (10 ObS 34/11i SSV‑NF 25/43; Pfeil, Ausgleichszulagenanspruch und Auslandsaufenthalt, DRdA 1998, 214 [218]).

[12] 5. Ein gewöhnlicher Aufenthalt im Ausland kann auch dann begründet werden, wenn eine Person krankheitsbedingt nicht zu einer Rückkehr nach Österreich in der Lage ist (vgl 10 ObS 191/13f; in diesem Sinn auch Greifeneder, COVID‑19‑Pandemie – Verlust des Pflegegeldes durch verlängerten Auslandsaufenthalt? ÖZPR 2020/79, 141 [143]).

[13] 6. Ob ein gewöhnlicher Aufenthalt vorliegt, kann immer nur anhand der Umstände des Einzelfalls beurteilt werden (RS0106709 [T2]; RS0106712 [T5]), insbesondere auch im Zusammenhang mit „verlängerten“ Auslandsaufenthalten aufgrund der Auswirkungen der COVID‑19‑Pandemie (Greifeneder, ÖZPR 2020/79, 141 [142]).

[14] 7. Die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, die Klägerin habe ab dem Verstreichen des geplanten Rückkehrtermins aus dem Urlaub keinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland mehr gehabt, überschreitet nicht den durch die bisherige Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs vorgegebenen Rahmen. Nach den Feststellungen steht im Vordergrund, dass sie nach dem Ausbruch der COVID‑19‑Pandemie – entsprechend dem ihr erteilten ärztlichen Rat – im Hinblick auf ihre individuelle gesundheitliche Situation längerfristig die Rückreise nach Österreich nicht antreten wollte und sich deshalb entschloss, länger in der Türkei zu bleiben. Sie entschied sich auch nicht für die sofortige Rückkehr nach Österreich, nachdem ab Mai 2020 die Bewegungseinschränkungen in der Türkei gelockert und im Juni 2020 der (seit Mitte März 2020 eingestellte) Flugverkehr nach Österreich wieder aufgenommen worden war. Diese Umstände sprechen im strittigen Zeitraum für einen gewöhnlichen Aufenthalt in der Türkei.

[15] Die außerordentliche Revision ist daher zurückzuweisen.

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