OGH 7Ob134/21p

OGH7Ob134/21p15.9.2021

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätin und Hofräte Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich, Dr. Stefula und Dr. Weber als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei I* GmbH, *, vertreten durch Dr. Fritz Vierthaler, Rechtsanwalt in Gmunden, gegen die beklagte Partei A* SE, *, vertreten durch Mag. Martin Paar, Mag. Hermann Zwanzger, Rechtsanwälte in Wien, wegen Feststellung, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 29. März 2021, GZ 2 R 11/21h‑19, womit das Urteil des Handelsgerichts vom 12. Oktober 2020, GZ 41 Cg 49/20v‑15, abgeändert wurde, beschlossen und zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E132991

 

Spruch:

 

Der Revision wird Folge gegeben.

Die angefochtene Entscheidung wird dahin abgeändert, dass das Urteil des Erstgerichts insgesamt wieder hergestellt wird.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 4.401,46 EUR (darin enthalten 530,41 EUR an USt und 1.219 EUR an Barauslagen) bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Die Klägerin betreibt ein Trockenbauunternehmen und ist im Rahmen des zwischen der G* GmbH und der Beklagten bestehenden Rechtsschutz‑Versicherungsvertrags mitversichert. Dem Versicherungsvertrag liegen unter anderem die Allgemeinen Bedingungen für die Rechtsschutzversicherung (ARB 2015) zugrunde, die auszugsweise wie folgt lauten:

„...

Gemeinsame Bestimmungen

[...]

Artikel 2 Was gilt als Versicherungsfall und wann gilt er als eingetreten?

[...]

3. In den übrigen Fällen – insbesondere auch für die Geltendmachung eines reinen Vermögensschadens (Artikel 17.2.1., 18.2.1., 21.2.1.) sowie für die Wahrnehmung rechtlicher Interessen wegen reiner Vermögensschäden (Artikel 17.2.4., 18.2.4., 22.A.2.1., 22.B.2.1., 23.2.1.1., 23.2.2.2., 24.2.3., 25.2.1.1.1., 26.2.3., 27.2.4.) – gilt als Versicherungsfall der tatsächliche oder behauptete Verstoß des Versicherungsnehmers, Gegners oder eines Dritten gegen Rechtspflichten oder Rechtsvorschriften; der Versicherungsfall gilt in dem Zeitpunkt als eingetreten, in dem eine der genannten Personen begonnen hat oder begonnen haben soll, gegen Rechtspflichten oder Rechtsvorschriften zu verstoßen.

Bei mehreren Verstößen ist der erste, adäquat ursächliche Verstoß maßgeblich, (...)

Besondere Bestimmungen

[...]

Artikel 22

Allgemeiner Vertrags-Rechtsschutz

Der Versicherungsschutz erstreckt sich je nach Vereinbarung auf den – Allgemeinen Vertrags‑Rechtsschutz im Privatbereich und/oder – Allgemeinen Vertrags‑Rechtsschutz im Betriebsbereich.

[...]

2. Artikel 22.B.

Allgemeiner Vertrags-Rechtsschutz im Betriebsbereich

[...]

B.2. Was ist versichert?

[...]

B.2.3. Der Versicherungsschutz für die Wahrnehmung rechtlicher Interessen gemäß Punkt B.2.1.1., B.2.1.2., B.2.1.3. und B.2.1.4. besteht nur unter folgenden Voraussetzungen:

B.2.3.1. sofern der Gegner dem Grunde oder der Höhe nach Einwendungen gegen die Forderung des Versicherungsnehmers erhebt;

B.2.3.2. sofern und solange die tatsächlichen oder behaupteten Forderungen und Gegenforderungen der Vertragsparteien (Gesamtansprüche) aufgrund desselben Versicherungsfalles im Sinn des Artikel 2.3. die vertraglich vereinbarte Obergrenze unabhängig von Umfang, Form und Zeitpunkt der Geltendmachung nicht übersteigen.

Aufrechnungsweise geltend gemachte Forderungen werden dabei nicht berücksichtigt, sofern weder die Forderung noch die aufrechnungsweise geltend gemachte Gegenforderung die vereinbarte Obergrenze übersteigen.

Sinken die Gesamtansprüche vor der gerichtlichen Geltendmachung durch Zahlung, Vergleich oder Anerkenntnis unter die vereinbarte Obergrenze, besteht ab diesem Zeitpunkt Versicherungsschutz.

Steigen die Gesamtansprüche nach Bestätigung des Versicherungsschutzes über die vereinbarte Obergrenze, entfällt ab diesem Zeitpunkt der Versicherungsschutz.

[...].“

[2] Im Rahmen des Rechtsschutz-Versicherungsvertrags wurde eine Streitwertobergrenze von 25.000 EUR für den Allgemeinen Vertrags‑Rechtsschutz im Betriebsbereich – Lieferungen und Leistungen Dritter an den versicherten Betrieb vereinbart.

[3] Die Klägerin hatte im Zusammenhang mit einem Bauvorhaben B* Z* (in Hinkunft: Subunternehmer) mit der Erbringung von Trockenbauarbeiten beauftragt. Aus diesem Werkvertragsverhältnis entstanden Abrechnungsdifferenzen.

[4] Die Klägerin wurde daraufhin von ihrem Subunternehmer zu AZ 3 C 148/20f des Bezirksgerichts Gmunden auf 13.958,07 EUR sA an restlichem Werklohn gerichtlich in Anspruch genommen. Gegen den antragsgemäß erlassenen Zahlungsbefehl des Bezirksgerichts Gmunden erhob die Klägerin als Beklagte am 9. 3. 2020 Einspruch und bestritt das dortige Klagebegehren dem Grunde als auch der Höhe nach. In ihrem Einspruch brachte sie unter anderem vor:

„...

Entgegen den Behauptungen in der Klage war zwischen den Streitteilen keine Abrechnung nach tatsächlichem Zeitaufwand vereinbart. Grundlage war ein Werkvertrag, in dem für die erbrachten Leistungen Einheitspreise vereinbart wurden. Abzurechnen war also nach tatsächlichem Aufmaß. Lediglich Leistungen, welche im Trockenbau üblicherweise als Regieleistungen abgerechnet werden, durften vom Kläger auf Regiebasis abgerechnet werden. Voraussetzung dafür war jedoch, dass diese Regiestunden jeweils angemeldet werden mussten und auch einzeln beauftragt werden mussten.

Mit dem Kläger war vereinbart, dass dieser in Abständen von 14 Tagen Teilrechnungen legen durfte, wobei diese Teilrechnungen auf Basis des tatsächlichen Leistungsfortschrittes zu erstellen waren. [...] Da auf der Baustelle großer Termindruck herrschte, hat die Beklagte die gelegten Rechnungen zunächst bezahlt. Es wurde dann allerdings erkennbar, dass ein Missverhältnis zwischen dem Arbeitsfortschritt und den gelegten Rechnungen vorlag. Daraufhin hat die Beklagte weitere Zahlungen eingestellt und den Kläger mit Vehemenz aufgefordert, prüfbare Aufmaßblätter zu übermitteln. [...] Nachdem diese Unterlagen nicht überprüfbar waren und auch keine verbesserten Unterlagen beigebracht wurden, hat der zuständige Projektleiter der Beklagten selbst das Aufmaß erstellt, wobei sich herausstellte, dass zu diesem Zeitpunkt bereits eine Überzahlung von mehr als 30.000 EUR vorlag. Festgestellt werden musste weiters, dass der Kläger und die von ihm beschäftigten Monteure zu diesem Zeitpunkt nicht mehr regelmäßig auf der Baustelle erschienen sind, […]. Ungeachtet dessen hat der Kläger Teilrechnungen gelegt, welche nachvollziebarerweise von der Beklagten nicht mehr bezahlt wurden, da sich herausstellte, dass auch Leistungen verrechnet wurden, welche gar nicht erbracht worden waren. Eine Qualitätskontrolle hat zudem ergeben, dass die damals erbrachten Leistungen mit erheblichen Mängeln behaftet waren. Zuletzt hat die Montagepartie des Klägers die Baustelle verlassen, ohne die gerügten Mängel zu beheben und ohne die beauftragten Leistungen fertigzustellen.

Abgesehen davon, dass die eingeklagten Rechnungen der Höhe nach nicht zu Recht bestehen, wird daher von Seiten der Beklagten auch ausdrücklich der Einwand mangelnder Fälligkeit erhoben.

...“

[5] In der Tagsatzung vom 3. 6. 2020 brachte die Klägerin als Beklagte im Vorverfahren vor dem Bezirksgericht Gmunden unter anderem ergänzend vor wie folgt:

„...

Für die Behebung der Mängel musste die Beklagte schließlich 96,5 Regiestunden für Mängelbehebungsarbeiten aufwenden, was bei einem Regiesatz von 30 EUR einem Aufwand von 2.895 EUR entspricht. Für die Fertigstellung von nicht montierten Wänden im Erdgeschoss musste die Beklagte 80 Stunden aufwenden, was bei einem Stundensatz von 30 EUR einen Betrag von 2.400 EUR entspricht.

Die Abrechnung der gesamten Baustelle nach den vereinbarten Einheitsleistungen und unter Berücksichtigung der berechtigten Regiestunden, hat eine Schlussrechnungssumme von 53.737,80 EUR ergeben. Demgegenüber hat die Beklagte bis zur Teilrechnung 22./2019 bereits Zahlungen in Höhe von 87.861,41 EUR geleistet, woraus eine Überzahlung von 34.123,61 EUR resultiert. Dementsprechend hat die Beklagte sämtliche erbrachten Leistungen bereits bezahlt und kann der Kläger daher nichts mehr fordern.

Es ergibt sich folgende Abrechnung:

Berechtigter Werklohn bei mängelfreier Fertigstellung 53.737,80 EUR

abzüglich Mängelbehebungskosten ‑ 2.895,00 EUR

abzüglich Fertigstellungskosten ‑ 2.400,00 EUR

ergibt 48.442,80 EUR

tatsächlich bezahlt 87.861,41 EUR

ergibt eine Überzahlung von 39.418,61 EUR.

Aufgrund der geleisteten Überzahlung besteht die eingeklagte Forderung des Klägers demnach nicht zu Recht.

...“

[6] Die Klägerin begehrt die Feststellung, dass die Beklagte ihr für den beim Bezirksgericht Gmunden zu AZ 3 C 148/20f anhängigen Rechtsstreit Rechtsschutzdeckung zu gewähren habe. Die wechselseitigen Prozessbehauptungen bestünden darin, dass zum einen vom Subunternehmer restlicher Werklohn in Höhe von 13.958,07 EUR gefordert werde, während die Klägerin als Beklagte eingewandt habe, dass im Wege mehrerer Teilrechnungen und der Schlussrechnung – tatsächlich nicht erbrachte – Leistungen verrechnet worden seien. Die Klägerin habe Überzahlungen von mehr als 30.000 EUR an den Subunternehmer geleistet, sodass die eingeklagte Werklohnforderung nicht zu Recht bestehe. Sie habe lediglich den Einwand der Schuldtilgung erhoben. Es sei daher weiterhin ausschließlich der Bestand der Werklohnforderung des Subunternehmers zu prüfen, nicht aber die Höhe einer allfälligen Gegenforderung. Die eingewandteAusschlussklausel gelange nicht zur Anwendung.

[7] Die Beklagte beantragt die Abweisung des Klagebegehrens. Allein der behauptete Überzahlungsbetrag von mehr als 30.000 EUR liege über der im Versicherungsvertrag vereinbarten Streitwertobergrenze von 25.000 EUR, sodass kein Versicherungsschutz bestehe. Zu berücksichtigen seien aufgrund des ausdrücklichen Bedingungswortlauts und des offenkundigen Zwecks der an der Anspruchshöhe orientierten Risikobegrenzung alle Forderungen und Gegenforderungen der Vertragspartner aufgrund desselben einheitlichen Versicherungsfalls.

[8] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Die Beklagte habe berechtigterweise ihre Deckungspflicht wegen Überschreitung der Streitwertobergrenze verneint.

[9] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin Folge und änderte das Ersturteil in eine Klagestattgebung ab. Die Behauptung der Überzahlung – also die eingeklagte Forderung bereits zur Gänze beglichen zu haben – stelle weder eine prozessuale Gegenforderung noch eine außergerichtliche Aufrechnungserklärung dar. Die behauptete Überzahlung sei damit weder eine behauptete noch eine tatsächliche Forderung bzw Gegenforderung der Klägerin aufgrund desselben einheitlichen Versicherungsfalls. Sie sei daher bei der Berechnung der Streitwertobergrenze des Artikel 22.B.2.3.2 ARB nicht zu berücksichtigen. Da die tatsächlich eingewendeten Compensandoforderungen (Mängelbehebungs‑ und Feststellungskosten) in Summe die Streitwertobergrenze nicht erreichen, habe die Beklagte Versicherungsdeckung zu gewähren.

[10] Das Berufungsgericht erklärte über Antrag der Beklagten die ordentliche Revision nachträglich für zulässig, weil die bisherige oberstgerichtliche Judikatur nicht zweifelsfrei erkennen lasse, ob die auf Klagsabweisung gerichtete Prozessbehauptung der erfolgten Erfüllung des mit der Klage verfolgten Anspruchs eine „behauptete Forderung“ im Sinn der ARB 2015 darstelle.

[11] Gegen dieses Urteil wendet sich die Revision der Beklagten mit einem Abänderungsantrag; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[12] Die Klägerin begehrt, die Revision zurückzuweisen; hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[13] Die Revision ist aus Gründen der Rechtssicherheit zulässig, sie ist auch berechtigt.

[14] 1.1. Allgemeine Versicherungsbedingungen (AVB) sind nach den Grundsätzen der Vertragsauslegung (§§ 914 f) auszulegen, und zwar orientiert am Maßstab des durchschnittlich verständigen Versicherungsnehmers und stets unter Berücksichtigung des erkennbaren Zwecks einer Bestimmung (RS0050063 [T71]; RS0112256 [T10]; RS0017960). Die Klauseln sind, wenn sie nicht Gegenstand und Ergebnis von Vertragsverhandlungen waren, objektiv unter Beschränkung auf den Wortlaut auszulegen; dabei ist der einem objektiven Betrachter erkennbare Zweck einer Bestimmung zu berücksichtigen (RS0008901 [insb T5, T7, T87]). Unklarheiten gehen zu Lasten der Partei, von der die Formulare stammen, das heißt im Regelfall zu Lasten des Versicherers (RS0050063 [T3]). Als Ausnahmetatbestände, die die vom Versicherer übernommenen Gefahren einschränken oder ausschließen, dürfen Ausschlüsse nicht weiter ausgelegt werden, als es ihr Sinn unter Betrachtung ihres wirtschaftlichen Zwecks und der gewählten Ausdrucksweise sowie des Regelungszusammenhangs erfordert (RS0107031).

[15] 1.2. Die allgemeine Umschreibung des versicherten Risikos erfolgt durch die primäre Risikobegrenzung. Durch sie wird in grundsätzlicher Weise festgelegt, welche Interessen gegen welche Gefahren und für welchen Bedarf versichert sind. Auf der zweiten Ebene (sekundäre Risikobegrenzung) kann durch einen Risikoausschluss ein Stück des von der primären Risikoabgrenzung erfassten Deckungsumfangs ausgenommen und für nicht versichert erklärt werden. Der Zweck liegt darin, dass ein für den Versicherer nicht überschaubares und kalkulierbares Teilrisiko ausgenommen und eine sichere Kalkulation der Prämie ermöglicht werden soll. Mit dem Risikoausschluss begrenzt also der Versicherer von vornherein den Versicherungsschutz, ein bestimmter Gefahrenumstand wird von Anfang an von der versicherten Gefahr ausgenommen (RS0080166 [T10]; RS0080068).

[16] 2.1. Nach Artikel 22.B.2.3.2 ARB besteht der Versicherungsschutz für die Wahrnehmung rechtlicher Interessen soweit hier relevant nur sofern und solange die tatsächlichen oder behaupteten Forderungen und Gegenforderungen der Vertragsparteien (Gesamtansprüche) aufgrund desselben Versicherungsfalls im Sinn des Artikel 2.3. ARB die vertraglich vereinbarte Obergrenze unabhängig von Umfang, Form und Zeitpunkt der Geltendmachung nicht übersteigen.

[17] 2.2. Diese Bestimmung stellt einen sekundären Risikoausschluss dar, sodass im Fall des Übersteigens der vereinbarten Streitwertobergrenze überhaupt kein Versicherungsschutz, auch nicht auf Tragung anteiliger Kosten, besteht (RS0117820 zum wortgleichen Artikel 23.2.3.1. ARB 1994/1995). Diese als Leistungsbeschreibung formulierte sekundäre Risikobeschränkung stellt seit Einführung des betrieblichen allgemeinen Vertrags‑Rechtsschutzes eine elementare Bedingung für die risikogerechte Prämienkalkulation dar (7 Ob 176/15f mzwN).

[18] 2.3. Durch die Bestimmung Artikel 22.B.2.3.2. ARB soll verhindert werden, dass die Risikobegrenzung durch die Geltendmachung von Teilansprüchen oder auch durch ein zu niedrig beziffertes Feststellungebegehren unterlaufen oder die Geltendmachung des gesamten Anspruchs für einen späteren Zeitpunkt zurückbehalten wird, wenn vorerst Gegenforderungen erhoben werden, um die Erfolgsaussichten der Durchsetzung der weiteren Ansprüche nach Beendigung eines Vorverfahrens besser abschätzen zu können. Auch wenn diese Vorgangsweise aus wirtschaftlichen, taktischen und prozessökonomischen Überlegungen auf Seiten des Forderungsinhabers durchaus ihre Berechtigung haben mag, kann dadurch nicht ein Versicherungsschutz erlangt werden, der aufgrund der Gesamtanspruchshöhe nicht besteht (7 Ob 176/15f mwN).

[19] 2.4. Der Oberste Gerichtshof hat bereits mehrfach ausgesprochen, dass bei der Beurteilung des Risikoausschlusses die Höhe der tatsächlichen oder behaupteten Forderung ausschlaggebend ist. Nach dem Sinn der Bestimmung kommt es dabei auf die Forderung an, die sich aus der Darstellung des Versicherungsnehmers ergibt und nicht auf die einseitige (Verzichts‑)Erklärung des Versicherungsnehmers, wenn sie keine Rechtswirkungen nach sich zieht und die Forderung unverändert (klagbar) bestehend ist (7 Ob 98/06x zu ARB 1995, 7 Ob 176/15f zu ARB 2003). Die Streitwertobergrenze würde ihren Sinn verlieren, wenn es im Belieben des Versicherten stünde, einen aus einem bestimmten Geschäftsfall resultierenden Anspruch in mehreren Teilbeträgen einzuklagen (7 Ob 98/06x zu ARB 1995, 7 Ob 176/15f zu ARB 2003).

[20] 2.5.1 Auch der durchschnittlich verständige Versicherungsnehmer erkennt aus dem Bedingungswortlaut, der ausdrücklich auf die tatsächlichen oder behaupteten Forderungen und Gegenforderungen der Vertragsparteien (Gesamtansprüche) aufgrund desselben Versicherungsfalls unabhängig von Umfang, Form und Zeitpunkt der Geltendmachung abstellt, dass der Gesamtanspruch aus den wechselseitigen Forderungen der Konfliktparteien aus demselben Versicherungsfall gebildet wird und zwar unabhängig von einer bereits erfolgten konkreten– gerichtlichen oder außergerichtlichen – Geltendmachung.

[21] 2.5.2 Daran ändert auch der Hinweis nichts, dass bloße Einwände einer Konfliktpartei gegen Grund/Höhe erhobener Ansprüche ohne Geltendmachung eigener Forderungen bei der betragsmäßigen Ermittlung der Gesamtansprüche unbeachtlich sind (zB Einwand der fehlenden Fälligkeit oder der Preisminderung wegen behaupteter Mängel) (vgl Kronsteiner, Die Rechtsschutzversicherung [2018], S 76 f). Dies trifft nur insoweit zu, als die Einwendungen ausschließlich den Bestand der Forderung betreffen, nicht aber, wenn aus der Darstellung des Versicherten gleichzeitig eine eigene klagbare Forderung folgt.

[22] 2.6.1 Die Klägerin – als Beklagte – hält in dem zu deckenden Prozess der ihrer Ansicht nach richtig abgerechneten Werklohnforderung von 53.757,18 EUR ihres Subunternehmers eine bereits erfolgte Überzahlung von 34.123,61 EUR (unter Berücksichtigung von Mängelbehebungs‑ und Fertigstellungskosten eine solche von 39.418,61 EUR) entgegen, ohne nach den Feststellungen eine prozessuale Aufrechnungseinrede zu erheben oder eine außergerichtlich erfolgte Aufrechnung zu behaupten. Sie vertritt, dass es sich dabei ausschließlich um einen für die Streitwertobergrenzen nicht relevanten Schuldtilgungseinwand handle.

[23] 2.6.2 Die behauptete Überzahlung mag zwar in dem zu deckenden Verfahren nur einen (Schuldtilgungs‑)Einwand darstellen, die Behauptungen der Klägerin begründen aber – wovon sie selbst ausgeht – einen gesondert klagbaren bereicherungsrechtlichen Rückforderungsanspruch nach § 1431 ABGB wegen (teilweiser) Zahlung einer Nichtschuld (vgl 8 Ob 96/15y); eine Forderung auf die sie auch nicht verzichtet hat.

[24] 2.7. Zusammengefasst bedeutet dies, dass nach der insoweit klaren Bedingungslage auch der von der Klägerin dargestellte Rückforderungsanspruch nach § 1431 ABGB bei der Ermittlung der Streitwertobergrenze zu berücksichtigen ist.

[25] 3.1. Die Klägerin meint nun, dass der im Wege einer eigenen (Wider‑)Klage geltend zu machende bereicherungsrechtliche Rückforderungsanspruch einen gesonderten Versicherungsfall im Sinn des Artikel 2.3. ARB auslöse.

[26] 3.2. Nach Artikel 2.3. ARB liegt der Versicherungsfall in der Vertrags‑Rechtsschutzversicherung vor, wenn einer der Beteiligten begonnen hat oder begonnen haben soll, gegen Rechtspflichten oder Rechtsvorschriften zu verstoßen. Es bedarf daher eines gesetzwidrigen oder vertragswidrigen Verhaltens eines Beteiligten, das als solches nicht sofort oder nicht ohne weiteres nach außen zu dringen braucht. Ein Verstoß ist ein tatsächlich objektiv feststellbarer Vorgang, der immer dann, wenn er auch wirklich vorliegt oder ernsthaft behauptet wird, den Keim eines Rechtskonflikts in sich trägt, der zur Aufwendung von Rechtskosten führen kann. Damit beginnt sich die vom Rechtsschutzversicherer übernommene Gefahr konkret zu verwirklichen. Es kommt nicht darauf an, ob der Handelnde sich des Verstoßes bewusst oder infolge von Fahrlässigkeit oder unverschuldet nicht bewusst war, es soll sich um einen möglichst eindeutig bestimmbaren Vorgang handeln, der in seiner konfliktauslösenden Bedeutung für alle Beteiligten, wenn auch erst nachträglich erkennbar ist. Es kommt weder auf den Zeitpunkt an, zu dem die Beteiligten von dem Verstoß Kenntnis erlangten, noch darauf, wann aufgrund des Verstoßes Ansprüche geltend gemacht oder abgewehrt werden (RS0114001). Ist kein einheitliches Verstoßverhalten des Schädigers erkennbar, handelt es sich bei den einzelnen schädigenden Verhaltensweisen jeweils um einen rechtlich selbständigen neuen Verstoß. War nach der Sachlage beim Erstverstoß mit weiteren gleichartigen Verstößen zu rechnen, liegen in der Regel nicht mehrere selbständige Verstöße, sondern ein einheitlicher Verstoß im Rechtssinn vor (RS0111811). Es ist grundsätzlich auf den ersten Verstoß abzustellen (RS0114209), der den Keim des Rechtskonflikts in sich trägt, der zur Aufwendung von Rechtskosten führen kann, wenn dieser schon für sich allein betrachtet nach der Lebenserfahrung geeignet war, den Rechtskonflikt auszulösen, oder zumindest noch erkennbar nachwirkte und den endgültigen Ausbruch der Streitigkeit nach dem Vorliegen eines oder weiterer Verstöße noch mitauslöste, sohin „adäquat kausal“ war (7 Ob 85/20f mwN).

[27] 3.3. Die Klägerin geht vom Nichtbestehen der im zu deckenden Prozess von ihrem Subunternehmer geltend gemachten Werklohnforderung infolge einer unrichtigen Leistungsabrechnung und ihrer daraus resultierenden Übererfüllung des Werklohnanspruchs aus. Den Keim der Streitigkeiten über die Höhe des Werklohnanspruchs des Subunternehmers – und auch des bereicherungsrechtlichen Rückforderungsanspruchs – bildet die behauptete unrichtige Abrechnung des Subunternehmers, mit der die Gefahr von Kosten einer Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung konkretisiert wurde. Der Verstoß der unrichtigen Abrechnung löste nicht nur die Rechtsverteidigung in dem zu deckenden Prozess aus, sondern sie ist auch adäquat kausal für den behaupteten bereicherungsrechtlichen Rückabwicklungsanspruch. Die Streitigkeiten gehen daher auf einen Verstoß zurück und bilden einen einheitlichen Versicherungsfall.

[28] 3.4. Da bereits der von der Klägerin behauptete bereicherungsrechtliche Rückabwicklungsanspruch über der Streitwertobergrenze von 25.000 EUR liegt, besteht kein Versicherungsschutz. Das Ersturteil war daher wieder herzustellen.

[29] 4. Die Kostenentscheidung gründet auf die §§ 41, 50 ZPO.

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