European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E132077
Rechtsgebiet: Strafrecht
Spruch:
In Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde werden das angefochtene Urteil sowie demzufolge auch der Beschluss auf Erteilung einer Weisung aufgehoben, eine neue Hauptverhandlung angeordnet und die Sache an das Landesgericht Feldkirch verwiesen.
Mit seiner Berufung und seiner Beschwerde wird der Angeklagte auf diese Entscheidung verwiesen.
Gründe:
[1] Mit dem angefochtenen Urteil wurde Franz S* mehrerer Finanzvergehen der Abgabenhinterziehung nach § 33 Abs 1 FinStrG schuldig erkannt und zu einer Geldstrafe verurteilt.
Rechtliche Beurteilung
[2] Dagegen wendet sich die auf § 281 Abs 1 Z 1a, 4, 5 und 11 StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten.
[3] Der Rüge fehlender Verteidigung während der Hauptverhandlung (Z 1a) kommt – wie auch die Generalprokuratur zutreffend aufzeigt – Berechtigung zu:
[4] Verteidiger im Sinn des § 281 Abs 1 Z 1a StPO ist nach der Legaldefinition des § 48 Abs 1 Z 5 StPO – soweit hier von Bedeutung – eine zur Ausübung der Rechtsanwaltschaft berechtigte Person (RIS‑Justiz RS0126676; Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 146).
[5] Wer unter welchen gesetzlichen Voraussetzungen zur Ausübung der Rechtsanwaltschaft berechtigt ist, regelt die Rechtsanwaltsordnung. Danach kommt die Befugnis zunächst den in die Liste der österreichischen Rechtsanwälte eingetragenen Rechtsanwälten zu (vgl §§ 1, 5 und 8 RAO; Soyer/Stuefer, WK‑StPO § 48 Rz 41; Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 146), welche sich im Fall notwendiger Verteidigung vor allen Gerichten und Behörden auch durch bei ihnen in Verwendung stehende, substitutionsberechtigte, in die Liste der Rechtsanwaltsanwärter eingetragene Rechtsanwaltsanwärter unter ihrer Verantwortung vertreten lassen können (§§ 15 Abs 1, 30 RAO). Substitutionsberechtigt ist ein Rechtsanwaltsanwärter, der die Rechtsanwaltsprüfung mit Erfolg abgelegt hat (§ 15 Abs 2 erster Satz RAO) oder ein Rechtsanwaltsanwärter, dem das Erfordernis der Rechtsanwaltsprüfung auf Ansuchen des Rechtsanwalts, bei dem er in Verwendung steht, nach Abschluss eines Studiums des österreichischen Rechts (§ 3 RAO) und Erfüllung weiterer Voraussetzungen vom Ausschuss der Rechtsanwaltskammer aus rücksichtswürdigen Gründen erlassen wurde (§ 15 Abs 2 zweiter Satz RAO). Diese in § 15 Abs 2 RAO geregelte Substitutionsbefugnis ist in einer vom Ausschuss der Rechtsanwaltskammer auszustellenden großen Legitimationsurkunde ersichtlich zu machen (§ 15 Abs 4 RAO).
[6] Neben österreichischen Rechtsanwälten dürfen auch europäische Rechtsanwälte unter den Voraussetzungen des Europäischen Rechtsanwaltsgesetzes (EIRAG) verteidigen. Hiermit trägt der österreichische Gesetzgeber der im Primärrecht der Europäischen Union verbürgten Niederlassungs- (Art 49 ff AEUV) und Dienstleistungsfreiheit (Art 56 ff AEUV) Rechnung (Soyer/Stuefer, WK‑StPO § 48 Rz 43).
[7] Gemäß § 5 Abs 1 erster Satz EIRAG dürfen in Verfahren, in denen sich die Partei durch einen Rechtsanwalt vertreten lassen oder ein Verteidiger beigezogen werden muss (hier § 61 Abs 1 StPO iVm § 195 Abs 1 FinStrG), dienstleistende europäische Rechtsanwälte als Vertreter oder Verteidiger einer Partei nur im Einvernehmen mit einem in die Liste der Rechtsanwälte einer österreichischen Rechtsanwaltskammer eingetragenen Rechtsanwalt (Einvernehmensrechtsanwalt) handeln, es sei denn, sie haben die Eignungsprüfung im Sinn der §§ 24 ff EIRAG mit Erfolg abgelegt (§ 5 Abs 3 EIRAG).
[8] Eine § 15 RAO vergleichbare Substitutionsregelung für bei einem dienstleistenden europäischen Rechtsanwalt in Verwendung stehende Berufsanwärter enthält das EIRAG nicht. Eine Anwendung des § 15 RAO auf bei einem dienstleistenden europäischen Rechtsanwalt in Verwendung stehende Rechtsanwaltsanwärter kommt nicht in Betracht, weil diese Substitutionsregeln ausschließlich auf in Österreich tätige Berufsanwärter abstellen, die in Österreich in die Liste der Rechtsanwaltsanwärter eingetragen sind und entweder die österreichische Rechtsanwaltsprüfung absolviert haben oder denen das Erfordernis vom Ausschuss einer österreichischen Rechtsanwaltskammer auf Ansuchen eines inländischen Rechtsanwalts für die Dauer der Verwendung bei diesem erlassen worden ist.
[9] Nach den vom Obersten Gerichtshof eingeholten Aufklärungen war der in der Hauptverhandlung als Vertreter des Angeklagten eingeschrittene Mag. Norbert W*r (ON 59, 85 und 104) bei der Liechtensteinischen Rechtsanwaltskammer vom 3. April 2014 bis zum 13. Oktober 2020 in die Liste der Konzipienten bei Rechtsanwaltsgesellschaften als „substitutionsberechtigter Konzipient“ im Sinn des Art 43 Abs 2 lit a des liechtensteinischen RAG beim liechtensteinischen Advokaturbüro J* AG eingetragen, nicht aber in die Liste der liechtensteinischen Rechtsanwälte. Die Rechtsanwaltsprüfung hat er in Liechtenstein nicht abgelegt (Auskunft der Liechtensteinischen Rechtsanwaltskammer vom 4. März 2021). Als grenzüberschreitend tätiger Rechtsanwalt war er nicht erfasst (Auskunft der Vorarlberger Rechtsanwaltskammer vom 1. März 2021), ebenso wenig war er in die Liste der österreichischen Rechtsanwälte eingetragen (Auskunft des Österreichischen Rechtsanwaltskammertags vom 21. März 2021).
[10] Demzufolge war der Angeklagte während der gesamten Hauptverhandlung vor dem Landesgericht als Schöffengericht nicht durch einen Verteidiger (§ 48 Abs 1 Z 5 StPO) vertreten, obwohl dies zwingend (§ 61 Abs 1 Z 4 StPO iVm § 195 Abs 1 FinStrG) vorgeschrieben war.
[11] Der Nichtigkeit gemäß § 281 Abs 1 Z 1a StPO bewirkende Umstand führte zur Aufhebung des Urteils bereits bei der nichtöffentlichen Beratung (§ 285e StPO), und zwar unabhängig davon, ob der gewählte Verteidiger im Wissen um die fehlende Befugnis des von ihm Entsandten handelte oder ob dem Gericht ein darauf bezogener Fehler unterlaufen ist (vgl dazu Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 148 und 168 sowie RIS‑Justiz RS0097281).
[12] Der – verfehlt in Urteilsform ergangene (RIS‑Justiz RS0086112; Lässig in WK2 FinStrG § 26 Rz 9) – Beschluss auf Erteilung einer Weisung war mit Blick auf die Urteilsaufhebung ebenso zu kassieren.
[13] Mit seiner Berufung und seiner gemäß § 498 Abs 3 dritter Satz StPO als erhoben zu betrachtenden Beschwerde war der Angeklagte auf die Aufhebung zu verweisen.
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