OGH 2Ob45/21p

OGH2Ob45/21p26.5.2021

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Veith als Vorsitzenden und den Hofrat Dr. Musger, die Hofrätin Dr. Solé und die Hofräte Dr. Nowotny und MMag. Sloboda als weitere Richter in der Pflegschaftssache der minderjährigen Kinder L* L*, geboren am * 2008, und A* L*, geboren am * 2009, beide *, Liechtenstein, über

(a) den (richtig) außerordentlichen Revisions-rekurs des Wahlvaters Dr. B* L*, Liechtenstein, vertreten durch Kerres Rechtsanwalts GmbH in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 4. Jänner 2021, GZ 45 R 518/20i‑459, mit welchem der Rekurs des Wahlvaters gegen den Beschluss des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 1. November 2020, GZ 9 Pg 191/12g‑448, teilweise zurückgewiesen und dieser Beschluss infolge Rekurses des Obsorgeberechtigten * Dr. * E*, Wien 1, Tuchlauben 13, teilweise abgeändert wurde (2 Ob 45/21p),

(b) die außerordentlichen Revisionsrekurse des Wahlvaters Dr. B* L* und des Obsorgeberechtigten * Dr. * E* gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 4. Jänner 2021, GZ 45 R 521/20f‑40, mit welchem der Beschluss des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 31. Oktober 2020, GZ 9 Ps 191/12g‑15, bestätigt wurde (2 Ob 46/21k), und

(c) den außerordentlichen Revisionsrekurs des Wahlvaters Dr. B* L* gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 16. Februar 2021, GZ 45 R 49/21w‑51, mit welchem der Beschluss des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 23. Dezember 2020, GZ 9 Ps 191/12g‑37, bestätigt wurde (2 Ob 62/21p),

in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E131714

 

Spruch:

(a) Der außerordentliche Revisionsrekurs des Wahlvaters gegen den Beschluss AZ 45 R 518/20i (9 Pg 191/12g‑459) wird zurückgewiesen, soweit er sich gegen die Bestimmung der Entschädigung des Obsorgeberechtigten richtet. Im Übrigen wird dem Revisionsrekurs teilweise Folge gegeben und der angefochtene Beschluss dahin abgeändert, dass von der Fortsetzung des Verfahrens abgesehen wird.

(b) Dem außerordentlichen Revisionsrekurs des Obsorgeberechtigten gegen den Beschluss AZ 45 R 521/20f (9 Ps 191/12g‑40) wird teilweise Folge, jenem des Wahlvaters wird nicht Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird dahin abgeändert, dass von der Fortsetzung des Verfahrens abgesehen wird.

(c) Der außerordentliche Revisionsrekurs des Wahlvaters gegen den Beschluss AZ 45 R 49/21w (9 Ps 191/12g‑51) wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Für L* L* (früher W*), geboren am * 2008, und A* L* (früher W*), geboren am * 2009, ist seit dem Tod ihres Vaters beim Bezirksgericht Innere Stadt Wien ein Pflegschaftsverfahren anhängig, das nach Punkt 8 des Einführungserlasses zum AußStrG 2005 (JMZ 11005/5/I8/04 JABl 2005/24) in zwei getrennten Akten – Personensorge (9 Ps 191/12g; in der Folge: „Ps‑Akt“) und Vermögenssorge (9 Pg 191/12g, zufolge Namensänderung der Kinder nun 1 Pg 18/21w; in der Folge: „Pg‑Akt“) – dokumentiert ist. Dabei wurden einzelne Aktenstücke zunächst falsch und dann doppelt einjournalisert. Chronologisch ist nur die Einjournalisierung im Pg-Akt.

[2] Die Kinder wurden mit Vertrag vom 3. März 2015 von Dr. B* L* an Kindes statt angenommen (in der Folge: „Wahlvater“). Das Erstgericht bewilligte die Adoption (nach dem Tod auch der Mutter) mit Beschluss vom 6. September 2016 (9 P 17/16s‑14 = Ps‑Akt ON 11).

[3] Dem Wahlvater kam zunächst die alleinige Obsorge zu. Mit Beschluss vom 10. Dezember 2017 (Pg‑Akt ON 260 = Ps‑Akt ON 17) entzog ihm das Erstgericht die Obsorge „im Umfang der Vermögensverwaltung und der Vertretung“ und übertrug sie dem Rechtsanwalt * Dr. * E* (idF: „Obsorgeberechtigter“). Dieser vertritt die Kinder insbesondere in den noch immer anhängigen Verlassverfahren nach ihrem Vater und ihrer Mutter. Der Wahlvater beharrt in seinen Schriftsätzen darauf, dass es sich beim Beschluss des Erstgerichts ungeachtet des eindeutigen Spruchs um die Bestellung eines „Kurators“ oder eines „Sachwalters“ handle.

[4] Im Februar 2020 übersiedelte der Wahlvater mit den Kindern nach Liechtenstein, die Kinder sind dort seit 19. Februar 2020 mit „Zuzug 18. Februar 2020“ gemeldet (Ps‑Akt ON 20 = Pg‑Akt ON 413). Der damit erfolgte Wechsel des gewöhnlichen Aufenthalts ist unstrittig. Das Zivilstandsamt des Fürstentums Liechtenstein bestätigte am 5. Februar 2020, dass die Kinder durch die Adoption das liechtensteinische Landesbürgerrecht des Wahlvaters erworben haben (Ps‑Akt ON 21 = Pg‑Akt ON 419). Am 5. März 2020 verzichtete der Wahlvater namens der Kinder auf die österreichische Staatsbürgerschaft. Dieser Verzicht ist nach Auffassung des Magistrats der Stadt Wien seit diesem Tage wirksam (Ps‑Akt ON 24, 25 = Pg‑Akt ON 430, 431).

[5] Das Erstgericht ersuchte auf dieser Grundlage das Fürstliche Landgericht Liechtenstein mit Schreiben vom 26. August 2020 um „Übernahme“ des Verfahrens und bot die Übermittlung von Aktenkopien an (Pg-Akt ON 439 = Ps-Akt ON 26). Das Landgericht lehnte eine solche Übernahme mangels Rechtsgrundlage im bilateralen Rechtshilfevertrag ab, hielt aber fest, dass den Beteiligten eine Antragstellung in Liechtenstein freistehe, worauf bei Bestehen der Zuständigkeit ein liechtensteinisches Verfahren eröffnet würde (Pg-Akt ON 444 = Ps-Akt ON 27).

[6] Inzwischen hat der Wahlvater dort „einen Antrag“ gestellt, wobei aber weder aus seiner Mitteilung noch aus einem von ihm vorgelegten Verhandlungsprotokoll vom 23. März 2021 hervorgeht, worauf dieser Antrag gerichtet ist. Das Landgericht verwarf in dieser Verhandlung die vom Obsorgeberechtigten erhobene Einrede der internationalen Unzuständigkeit.

[7] Weiters hat der Obsorgeberechtigte beim Erstgericht mehrere Anträge gestellt (insb Genehmigung einer neuerlichen Erbantrittserklärung, Bestimmung seiner Entlohnung für die Zeit ab 12. Dezember 2019), die noch nicht erledigt sind.

[8] Die dem Obersten Gerichtshof vorliegenden außerordentlichen Revisionsrekurse, die wegen des inhaltlichen Zusammenhangs gemeinsam zu erledigen sind, betreffen im Wesentlichen die Frage, ob die Übersiedlung der Kinder nach Liechtenstein, der Erwerb der liechtensteinischen Landesbürgerschaft und der Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft zum Wegfall der österreichischen internationalen Zuständigkeit geführt haben und welche Folge dies gegebenenfalls für die Rechtsstellung des Obsorgeberechtigten hätte.

[9] Der Wahlvater vertritt die Auffassung, dass die internationale Zuständigkeit für das Pflegschaftsverfahren nach Art 14 des bilateralen Rechtshilfevertrags auf Liechtenstein übergegangen sei. Dadurch sei die Funktion des Obsorgeberechtigten „als Kurator“ erloschen, er selbst sei (wieder) umfassend zur Vermögensverwaltung und Vertretung der Kinder befugt. Das österreichische Pflegschaftsverfahren sei einzustellen.

[10] Der Obsorgeberechtigte hält dem unter Hinweis auf die Entscheidung 5 Ob 114/04g entgegen, dass die österreichische Zuständigkeit nach dem Grundsatz der perpetuatio fori aufrecht geblieben sei; zudem sei sie wegen inländischen Vermögens auch nach § 110 Abs 1 Z 3 JN begründet. Dies liege auch im Interesse der Kinder. Die liechtensteinischen Gerichte hätten nicht die Abtretung des Verfahrens verlangt. Dieses sei daher in Österreich weiterzuführen.

[11] Über folgende Rechtsmittel ist zu entscheiden:

[12] (a) Verfahren 2 Ob 45/21p

Mit dem Beschluss Pg-Akt ON 448 vom 1. November 2020 bestimmte das Erstgericht die Entschädigung des Obsorgeberechtigten für die Zeit vom 11. Dezember 2017 bis 11. Dezember 2019 für jedes Kind mit 166.280,25 EUR und wies ein Mehrbegehren von jeweils 659.930 EUR ab. Weiters sprach es aus, dass es für die Fortsetzung des Verfahrens betreffend die Vermögensverwaltung aufgrund des bilateralen Rechtshilfevertrags mit Liechtenstein nicht zuständig sei, und es wies aus diesem Grund Anträge des Obsorgeberechtigten vom 7. bzw 9. September 2020 zurück, den Wahlvater zur Herausgabe einer Vereinbarung zu verpflichten (Pg‑Akt ON 440) und ein Erbteilungsübereinkommen im Verlassverfahren nach der Mutter zu genehmigen (Pg‑Akt ON 442).

[13] Dagegen erhoben der Obsorgeberechtigte und der Wahlvater Rekurs.

[14] Der Obsorgeberechtigte (Pg-Akt ON 449) beantragte eine höhere Entschädigung und bekämpfte den Ausspruch über die internationale Unzuständigkeit und die Zurückweisung seiner Anträge.

[15] Der Wahlvater (Pg‑Akt ON 451) beantragte „Aufhebung“ (Behebung) des gesamten Beschlusses wegen internationaler Unzuständigkeit und Verstoßes gegen die Geschäftsverteilung; hilfsweise strebte er eine Herabsetzung der Entschädigung an.

[16] Das Rekursgericht entschied mit dem Beschluss 45 R 518/20i vom 4. Dezember 2020 (Pg‑Akt ON 459).

[17] Es wies den Rekurs des Wahlvaters zurück, soweit er sich gegen den Ausspruch über die internationale Unzuständigkeit und die Zurückweisung der Anträge des Obsorgeberechtigten wandte, und gab ihm im Übrigen (also in Bezug auf die Entschädigung) nicht Folge.

[18] Hingegen gab es dem Rekurs des Obsorgeberechtigten teilweise Folge. Es behob den Ausspruch über die internationale Unzuständigkeit und trug dem Erstgericht die Entscheidung über die von ihm zurückgewiesenen Anträge auf. Weiters bestimmte es die Entschädigung des Obsorgeberechtigten mit jeweils 520.000 EUR und seinen Barauslagenersatz mit jeweils 49.410 EUR und wies das Mehrbegehren ab.

[19] Das Rekursgericht bewertete den Ausspruch über die internationale Zuständigkeit und die Zurückweisung des Antrags auf Verpflichtung des Wahlvaters zur Herausgabe einer Urkunde mit über 30.000 EUR und sprach aus, dass der Revisionsrekurs gegen die Bestimmung der Entschädigung und des Barauslagenersatzes jedenfalls unzulässig und in den übrigen Punkten der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei. In Bezug auf die Genehmigung des Erbteilungsübereinkommens vertrat es in der Begründung die Auffassung, dass ein Bewertungsausspruch wegen des im Inventar festgehaltenen, weit über 30.000 EUR liegenden Wertes des Nachlasses nicht erforderlich sei.

[20] Das Erstgericht habe die Entschädigung aus näher dargestellten Gründen zu niedrig bemessen. Insofern habe der Rekurs des Obsorgeberechtigten teilweise Erfolg, jener des Wahlvaters nicht.

[21] Durch die Aussprüche über die internationale Unzuständigkeit und die Antragszurückweisung sei der Wahlvater nicht beschwert. Er sei auch nicht im Interesse der Kinder rechtsmittellegitimiert, weil diese in Vermögensangelegenheiten durch den Obsorgeberechtigten vertreten würden und dieser ohnehin ein Rechtsmittel erhoben habe. Hingegen sei der Rekurs des Obsorgeberechtigten auch insofern berechtigt. Zwar ergebe sich aus Art 14 des bilateralen Rechtshilfevertrags die Zuständigkeit Liechtensteins. Allerdings sei in allen Sachen, die mit der bestehenden „Pflegschaft“ zusammenhingen, perpetuatio fori eingetreten. Selbst wenn man das verneinte, bestünde eine Notzuständigkeit nach § 110 Abs 1 Z 3 JN.

[22] Gegen diese Entscheidung richtet sich ein als „ordentlich und außerordentlich“ bezeichneter Revisionsrekurs des Wahlvaters (Pg-Akt ON 465). Er beantragt (in teilweise nicht ganz klaren Formulierungen)

a. die ersatzlose Behebung der Entscheidung über die Entschädigung und den Barauslagenersatz, hilfsweise die Festsetzung der Entschädigung in deutlich geringerer Höhe (5.011,83 EUR für den Sohn und 4.983,92 EUR für die Tochter),

b. in der Sache (wohl) die Wiederherstellung der erstgerichtlichen Entscheidung über die internationale Zuständigkeit und die Zurückweisung der Anträge.

 

[23] Die Zuständigkeit für das gesamte Pflegschaftsverfahren sei auf Liechtenstein übergegangen. Dadurch sei auch die Funktion des Obsorgeberechtigten „als Kurator“ erloschen, weswegen Vermögensverwaltung und Vertretung der Kinder wieder umfassend ihm zustünden.

[24] Der Obsorgeberechtigte beantragt in seiner schon vor Freistellung erstatteten Revisionsrekursbeantwortung, den Revisionsrekurs zurückzuweisen, hilfsweise ihm nicht Folge zu geben. Die Zuständigkeit sei wegen des Grundsatzes der perpetuatio fori nicht übergangen. Daher hätten weiterhin die österreichischen Gerichte zu entscheiden.

[25] (b) Verfahren 2 Ob 46/21k

[26] Mit dem Beschluss Ps-Akt ON 15 vom 31. Oktober 2020 sprach das Erstgericht seine internationale Unzuständigkeit für das Verfahren über die Personensorge aus und wies zwei im Juli und Oktober 2020 gestellte Anträge des Wahlvaters ab, den Obsorgeberechtigten „als Kurator“ zu entheben (Pg-Akt ON 423 = Ps‑Akt ON 22; Pg-Akt ON 446). Die in Pg-Akt ON 446 gestellten Anträge, die Sache dem nach der Geschäftsverteilung (zufolge Namensänderung) zuständigen Richter zu übertragen, das Verfahren wegen Unzuständigkeit einzustellen und den Akt „gegebenenfalls“ an das Fürstliche Landgericht zu übermitteln, erledigte es in den Gründen.

[27] Zur Begründung stützte sich das Erstgericht auf § 110 Abs 2 JN. Der Schutz der Kinder sei durch die Zuständigkeit des Fürstlichen Landgerichts gewahrt, wo auch schon ein Pflegschaftsakt eröffnet sei.

[28] Dagegen erhoben wiederum der Obsorgeberechtigte und der Wahlvater Rekurs.

[29] Der Obsorgeberechtigte (Ps-Akt ON 28) beantragte die Feststellung der internationalen Zuständigkeit des Erstgerichts und die Fortsetzung des Verfahrens über die Personensorge.

[30] Der Wahlvater (Ps-Akt ON 30) beantragt die Abänderung des Beschlusses durch den zusätzlichen Ausspruch, dass der „Kurator“ im Sinn seiner Anträge als seines Amtes enthoben gelte und nicht mehr berechtigt sei, die Kinder in Vermögensangelegenheiten zu vertreten.

[31] Das Rekursgericht gab mit Beschluss 45 R 521/20f vom 21. Dezember 2020 (Ps-Akt ON 40) den Rekursen nicht Folge und bestätigte den angefochtenen Beschluss mit der Maßgabe, dass das Erstgericht für die Personensorge „insofern international nicht zuständig“ sei, als der Wahlvater die Wiederherstellung seiner vollen Obsorge begehre. Den ordentlichen Revisionsrekurs ließ es nicht zu.

[32] Anzuwenden sei primär Art 14 des bilateralen Rechtshilfevertrags, aus dem sich die internationale Zuständigkeit Liechtensteins ergebe. Eine perpetuatio fori trete (entgegen 5 Ob 114/04g) aufgrund historischer Interpretation nicht ein, weil § 29 JN die internationale Zuständigkeit bei Abschluss des Rechtshilfevertrags nicht erfasst habe. Zudem sei die Sache durch die Bestellung des Obsorgeberechtigten mit dem Beschluss ON 17 „beendet“ worden, sodass es sich beim Antrag des Wahlvaters um eine neue Sache handle. Der Wahlvater könne sein Begehren auf Wiederherstellung der vollen Obsorge beim zuständigen Gericht in Liechtenstein geltend machen. Ein Schutzdefizit bestehe nicht, weil pflegschaftsgerichtliche Maßnahmen, die mit der bestehenden partiellen Obsorge eines Dritten untrennbar verbunden seien, ohnehin von der perpetuatio fori erfasst würden oder zumindest bei Untätigkeit des international zuständigen Gerichts nach § 110 Abs 1 Z 3 JN gesetzt werden könnten. Damit rechtfertigt das Rekursgericht auch die unterschiedliche Beurteilung im Vergleich zu 45 R 518/20i.

[33] Gegen diese Entscheidung richten sich außerordentliche Revisionsrekurse des Obsorgeberechtigten und des Wahlvaters.

[34] Der Obsorgeberechtigte (Ps-Akt ON 47) beantragt die Feststellung der internationalen Zuständigkeit des Erstgerichts für die Fortsetzung des Verfahrens über die Personensorge. Er stützt sich auf 5 Ob 114/04g (perpetuatio fori) sowie darauf, dass § 110 Abs 1 Z 3 JN neben dem Rechtshilfevertrag anwendbar bleibe. Damit begründe auch das in Österreich gelegene Vermögen die Zuständigkeit.

[35] Der Wahlvater (Ps-Akt ON 49 = Pg-Akt ON 464) begehrt, wie schon im Rekurs, die weitergehende Feststellung, dass die Berechtigung des „Kurators“ zur Vertretung der Kinder erloschen sei.

[36] In den vom Senat freigestellten Rechtsmittelbeantwortungen halten die Beteiligten ihre Rechtsstandpunkte aufrecht.

[37] Nach Auffassung des Obsorgeberechtigten ist die österreichische Zuständigkeit wegen des Grundsatzes der perpetuatio fori aufrecht. Er beantragt daher, dem Revisionsrekurs des Wahlvaters im Aufhebungsantrag Folge zu geben und dem Erstgericht die Entscheidung über dessen Antrag auf Wiederherstellung der uneingeschränkten Obsorge aufzutragen.

[38] Der Wahlvater steht weiterhin auf dem Standpunkt, dass die Zuständigkeit auf die liechtensteinischen Gerichte übergegangen sei und dass dies ohne weiteres zur Wiederherstellung seiner vollen Obsorge geführt habe. Er beantragt daher, den Revisionsrekurs des Obsorgeberechtigten zurückzuweisen, hilfsweise ihm nicht Folge zu geben. Weiters wiederholt er die Anträge seines Revisionsrekurses.

[39] (c) Verfahren 2 Ob 62/21p

[40] Noch vor den zuvor genannten Entscheidungen des Rekursgerichts beantragte der Wahlvater (Ps-Akt ON 36), den „klarstellenden“ Ausspruch, dass die Bestellung des Obsorgeberechtigten „als Sachwalter“ für aufgehoben gelte. Dies folge aus dem Wegfall der internationalen Zuständigkeit, zudem habe er inzwischen „einen Antrag“ beim Fürstlichen Landgericht eingebracht.

[41] Das Erstgericht wies diesen Antrag mit dem Beschluss Ps-Akt ON 37 vom 28. Dezember 2020 zurück. Der Wegfall der internationalen Zuständigkeit führe bis zu einer abändernden Entscheidung des nun zuständigen Gerichts zu keiner Änderung in der Obsorge.

[42] Das Rekursgericht gab dem dagegen gerichteten Rekurs des Wahlvaters mit Beschluss 45 R 49/21w vom 16. Februar 2021 (Ps-Akt ON 51) nicht Folge und ließ den ordentlichen Revisionsrekurs nicht zu. Die rechtskräftige Bestellung des Obsorgeberechtigten bleibe bis zu einer abändernden Entscheidung des zuständigen Gerichts verbindlich. Der Wegfall der internationalen Zuständigkeit führe insofern zu keiner Änderung.

[43] Dagegen richtet sich ein außerordentlicher Revisionsrekurs des Wahlvaters, mit dem er eine seinem Antrag stattgebende Entscheidung anstrebt (Ps-Akt ON 55). Ausländische Entscheidungen über eine „Sachwalterbestellung“ seien nicht anzuerkennen (3 Ob 218/02f). Das gelte auch für die Anerkennung der Entscheidung Ps-Akt ON 17 (Bestellung des Obsorgeberechtigten) in Liechtenstein. Nach dem Wegfall der internationalen Zuständigkeit sei ein österreichisches Gericht nicht mehr befugt, einen „Kurator“ zu bestellen oder dessen Befugnisse „aufrecht zu erhalten“.

Rechtliche Beurteilung

[44] A. Der Erledigung der Rechtsmittel sind folgende Erwägungen voranzustellen:

[45] 1. Alle Rechtsmittel betreffen – abgesehen von der jedenfalls unzulässigen Bekämpfung des Beschlusses über die Entlohnung des Obsorgeberechtigten durch den Wahlvater (unten B.1.) – folgende Fragen:

a. Begründete der Wechsel des gewöhnlichen Aufenthalts und der Staatsangehörigkeit die internationale Zuständigkeit Liechtensteins?

b. Wenn ja: Liegt ein Fall von perpetuatio fori vor, und wie ist dieser Begriff gegebenenfalls zu verstehen?

c. Wenn perpetuatio fori bejaht wird: Kommt ein Vorgehen nach § 110 Abs 2 JN in Betracht?

d. Welche Folgen hätte eine Verneinung des Fortbestands der internationalen Zuständigkeit oder ein Vorgehen nach § 110 Abs 2 JN für die Rechtsstellung des Wahlvaters und des Obsorgeberechtigten?

 

[46] Diese Fragen haben wegen des Fehlens von Rechtsprechung erhebliche Bedeutung iSv § 62 Abs 1 AußStrG. Sie sind vorweg zu klären (unten A.2.–A.5.), auf dieser Grundlage sind dann die einzelnen Rechtsmittel zu erledigen (unten B.).

[47] 2. Die internationale Zuständigkeit ist grundsätzlich nach Art 14 des Vertrags zwischen der Republik Österreich und dem Fürstentum Liechtenstein über Rechtshilfe, Beglaubigung, Urkunden und Vormundschaft vom 13. März 1956 (BGBl 1956/213) in der Fassung des ergänzenden Vertrags vom 1. Juni 1966 (BGBl 1968/99) zu beurteilen.

[48] 2.1. Dieser Rechtshilfevertrag hat Vorrang vor der Brüssel IIa-VO und dem Haager Kinderschutzübereinkommen (KSÜ).

[49] (a) Die Brüssel IIa-VO ersetzt nach ihrem Art 59 nur Verträge zwischen Mitgliedstaaten, sodass (ältere, also zulässig geschlossene) bilaterale Verträge mit Drittstaaten nicht verdrängt werden (Nademleinsky/Neumayr, Internationales Familienrecht2 Rz 8.32; Mayr in Rechberger/Klicka, ZPO5 § 110 JN Rz 7; Höllwerth in Höllwerth/Ziehensack, ZPO-TaKom § 110 JN Rz 17). Im konkreten Fall ergibt sich der Vorrang des Rechtshilfevertrags auch aus Art 351 AEUV, wonach Übereinkommen mit Drittstaaten, die ein Mitgliedstaat vor seinem Beitritt geschlossen hat, durch die „Verträge“ nicht berührt werden (Kaller-Pröll in Fasching/Konecny 2 Art 59 EuEheKindVO Rz 13 ff).

[50] (b) Das KSÜ lässt nach seinem Art 52 Abs 1 internationale Übereinkünfte, denen die Vertragsstaaten angehören, unberührt. Das gilt unstrittig auch für den Rechtshilfevertrag zwischen Österreich und Liechtenstein (Nademleinsky/Neumayr, Internationales Familienrecht2 Rz 8.21; Fuchs in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG2 §§ 112–116 Rz 78).

[51] 2.2. Art 14 des bilateralen Rechtshilfevertrags lautet:

(1) Die vormundschafts- oder pflegschaftsbehördlichen Geschäfte über Angehörige des einen vertragschließenden Teiles, die nach den Rechtsvorschriften ihres Heimatstaates der Fürsorge bedürfen und im Gebiete des anderen ihren ständigen Aufenthalt haben oder nehmen, werden von den Gerichten oder den sonst mit der Führung dieser Geschäfte befaßten Behörden des anderen vertragschließenden Teiles geführt.

(2) Das Recht des Staates, in dem der Angehörige des anderen Staates seinen ständigen Aufenthalt hat, vormundschafts- oder pflegschafts-behördliche Maßnahmen nach seinen Rechtsvorschriften auch dann zu treffen, wenn eine Fürsorgebedürftigkeit nach den Rechtsvorschriften des Heimatstaates nicht gegeben ist, bleibt unberührt.

(3) Die Führung der vormundschafts- oder pflegschaftsbehördlichen Geschäfte ist im Falle des Abs. 1 auf Verlangen einer Vormundschafts- oder Pflegeschaftsbehörde des Heimatstaates des Pflegebefohlenen dieser abzutreten.

 

[52] Nach Absatz 1 dieser Bestimmung ist grundsätzlich jener Staat international zuständig, in dem die Pflegebefohlenen (schutzberechtigten Personen) ihren ständigen Aufenthalt haben (5 Ob 114/04g; 4 Ob 189/06g). Dieser liegt im konkreten Fall seit dem 18. Februar 2020 in Liechtenstein. Zwar können die Gerichte des „Heimatstaates“ – also jenes Staates, dem die Betroffenen angehören – das Verfahren nach Art 14 Abs 3 RH-Vertrag an sich ziehen, wodurch ihre internationale Zuständigkeit begründet wird. Dabei ist bei Doppelstaatern allerdings die „effektive“ Staatsangehörigkeit maßgebend, die jedenfalls durch einen gewöhnlichen Aufenthalt in einem der beiden Staaten begründet wird (4 Ob 189/06g). Die bis zum 5. März 2020 bestehende österreichische Staatsangehörigkeit der Kinder war daher ab dem Umzug nach Liechtenstein mangels Effektivität zuständigkeitsrechtlich irrelevant.

[53] 2.3. Art 14 RH-Vertrag hat als staatsvertragliche Sonderregel Vorrang vor § 110 Abs 1 JN (Höllwerth in Höllwerth/Ziehensack, ZPO-TaKom § 110 JN Rz 15; Fuchs in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG2 § 110 JN Rz 5). Der vom Rekursgericht (hilfsweise) herangezogene § 110 Abs 1 Z 3 JN (inländische Pflegschaftsgerichtsbarkeit für Maßnahmen in Bezug auf inländisches Vermögen) könnte daher nur dann anwendbar sein, wenn Art 14 RH-Vertrag ergänzende nationale Regeln zuließe. Dafür gibt es allerdings nicht den geringsten Anhaltspunkt. Der RH-Vertrag enthält eine klare Regelung der internationalen Zuständigkeit, die am ständigen Aufenthalt der Pflegebefohlenen anknüpft. Hätten die vertragschließenden Staaten eine davon abweichende Zuständigkeit für vermögensrechtliche Angelegenheiten gewollt, so hätten sie diese zweifellos in den Vertrag aufgenommen. Gründe für die Annahme, dass die vertragschließenden Staaten Art 14 RH-Vertrag bei Vorliegen eines ständigen Aufenthalts in einem dieser Staaten nicht als abschließende Regelung angesehen hätten, sind nicht erkennbar.

[54] 3. Fraglich ist allerdings, ob die österreichische Zuständigkeit trotzdem nach dem Grundsatz der perpetuatio fori fortbesteht.

[55] 3.1. Der Oberste Gerichtshof hat in 5 Ob 114/04g die perpetuatio fori auch im Anwendungsbereich des bilateralen Vertrags mit Liechtenstein bejaht. Zur Begründung verwies er auf den mit der WGN 1997 (BGBl 1997/140) geänderten § 29 JN, der nun auch die internationale Zuständigkeit erfasst (RS0119204). Das Rekursgericht ist dem in 45 R 518/20i (Vermögenssorge) gefolgt, in 45 R 521/20f (Personensorge) hingegen nicht. Allerdings hat es in der zweitgenannten Entscheidung auch darauf abgestellt, dass es sich bei den Anträgen auf „Enthebung“ des „Kurators“ um „neue“ Sachen handle, die nach dem Übergang der internationalen Zuständigkeit anhängig geworden seien und daher von vornherein nicht unter die perpetuatio fori fielen.

[56] 3.2. Der Rechtshilfevertrag enthält zu dieser Frage keine Regelung, sodass – im Sinn von 5 Ob 114/04g – ein Rückgriff auf nationales Recht nahe liegt. Dagegen könnte allerdings eingewendet werden, dass nach der österreichischen Rechtsprechung vor der Neufassung des § 29 JN die inländische Gerichtsbarkeit (im weiteren Sinn) nicht perpetuiert wurde (speziell für Pflegschaftssachen RS0007405; allgemein Fasching, Lehrbuch2 Rz 228) und dass das liechtensteinische Recht von vornherein keine § 29 JN vergleichbare Regelung enthält. Die Vertragspartner könnten daher bei Abschluss des Rechtshilfevertrags angenommen haben, dass bei einer Änderung der für die internationale Zuständigkeit maßgebenden Tatsachen keine perpetuatio fori eintrete. Auch wenn sie das nicht ausdrücklich in den Vertrag aufgenommen haben, könnte er doch ergänzend in diesem Sinn ausgelegt werden. Dies entspräche im Ergebnis der Rechtslage nach dem MSA und dem KSÜ (RS0046199, RS0128438 [insb T1]), während nach der Brüssel IIa-VO eine einmal bestehende Zuständigkeit (allerdings wohl nur in Bezug auf den konkret gestellten Antrag) aufrecht bleibt (3 Ob 213/07f; 3 Ob 56/16f).

[57] 3.3. Allerdings hat der Oberste Gerichtshof des Fürstentums Liechtenstein ausgesprochen, dass der Perpetuatio-fori-Grundsatz trotz des Fehlens einer ausdrücklichen Regelung auch für das liechtensteinische Recht gilt (5 CG 2008.119; 8 CG 2009.106; 2 CG 2015.476). Dabei verwies er in 5 CG 2008.119 ausdrücklich auf § 29 öJN in der geltenden Fassung und nahm auf die darin vorgesehene Ausnahme nur für die inländische Gerichtsbarkeit im engeren Sinn (Immunität) Bezug. Auch die in der Entscheidung 5 CG 2008.119 für die perpetuatio fori genannten Belegstellen betreffen die internationale Zuständigkeit (Kropholler, Europäisches Zivilprozessrecht6 Vor Art 2 Rz 14; Gottwald in MükoZPO Art 2 [EuGVVO] Rz 17; schwBG 5 C 56/2002 BGE 129 III 404). Es ist daher anzunehmen, dass der Grundsatz der perpetuatio fori auch im liechtensteinischen Recht gilt und dass er – ebenso wie nun nach § 29 öJN – auch die internationale Zuständigkeit erfasst.

[58] 3.4. Auf dieser Grundlage ist an der Entscheidung 5 Ob 114/04g festzuhalten. Dem RH-Vertrag kann mangels ausdrücklicher Anordnung nicht unterstellt werden, dass er die Anwendung eines im Entscheidungszeitpunkt in beiden Rechtsordnungen akzeptierten Rechtsinstituts verhindern sollte. Dies lässt sich mittelbar auch aus den EB zum RH‑Vertrag ableiten, die im Zusammenhang mit dessen Art 14 ausdrücklich auf die „Ähnlichkeit des Vormundschaftsrechts als auch des Verfahrens in Vormundschaftssachen“ hinweisen (705 BlgNR 7. GP  6). Besteht eine solche Ähnlichkeit in Bezug auf ein konkretes Rechtsinstitut, so verstieße eine Auslegung des bilateralen Vertrags dahin, dass dieses Rechtsinstitut im Verhältnis zwischen den Parteien ausgeschlossen würde, gegen die für die Auslegung maßgebenden (objektiven) Ziele und den Zweck dieses Vertrags (Art 31 Abs 1 WVK).

[59] 3.5. Damit bleibt zu prüfen, ob sich der Grundsatz der perpetuatio fori auf das Pflegschaftsverfahren als solches oder auf die einzelnen Anträge bezieht. Im zweitgenannten Fall wäre er auf nach dem 18. Februar 2020 gestellte Anträge nicht anwendbar. Davon wären alle von den angefochtenen Beschlüssen betroffenen Anträge erfasst.

[60] (a) Nach ständiger Rechtsprechung zum österreichischen Recht ist die Einleitung des Pflegschaftsverfahrens maßgebend; die zu diesem Zeitpunkt bestehende Zuständigkeit bleibt auch bei nachträglichen Sachverhaltsänderungen aufrecht (RS0046077; RS0046068 [T7]). Es wird also nicht auf den konkret zu erledigenden Antrag abgestellt, sondern auf die Einleitung des Pflegschaftsverfahrens als solches. Dadurch wird verhindert, dass im Fall von vor dem Zuständigkeitswechsel gestellten „Altanträgen“ und danach eingebrachten „Neuanträgen“ getrennte Verfahren bei verschiedenen Gerichten geführt werden müssten. Eine solche Vorgangsweise wäre wegen des typischerweise bestehenden Zusammenhangs zwischen den im Pflegschaftsverfahren zu treffenden Maßnahmen unpraktikabel und daher auch nicht im Interesse der schutzberechtigten Personen.

[61] (b) Der Grundsatz der perpetuatio fori kann allerdings den Interessen der schutzberechtigten Personen zuwiderlaufen, wenn dadurch trotz einer grundlegenden Änderung der zuständigkeitsbegründenden Umstände ein Verfahren vor einem räumlich entfernten Gericht erzwungen würde, ohne dass die oben dargestellte Problematik von Alt- und Neuanträgen vorläge. Umso mehr gilt das dann, wenn nicht bloß die örtliche, sondern (auch) die internationale Zuständigkeit betroffen ist. Denn in solchen Fällen stellt sich nicht nur (typischerweise) das Distanzproblem in besonderer Schärfe, sondern es besteht auch die Gefahr paralleler Verfahren, wenn der andere Staat die Sperrwirkung der perpetuatio fori nicht anerkennt. Dies spräche bei isolierter Betrachtung für eine möglichst eingeschränkte Anwendung der perpetuatio fori, also für ein Anknüpfen am jeweils gestellten Antrag und nicht an der Einleitung des Verfahrens.

[62] (c) Das Gesetz sieht allerdings ohnehin Möglichkeiten vor, im Interesse einer schutzberechtigten Person von der perpetuatio fori abzuweichen.

[63] In Inlandsfällen erfolgt das durch eine Zuständigkeitsübertragung nach § 111 JN (Mayr in Rechberger/Klicka, ZPO5 § 111 JN Rz 1; Simotta in Fasching/Konecny 3 § 111 JN Rz 2). Eine solche Vorgangsweise, die zu einem echten Wechsel der Zuständigkeit führt, ist in grenzüberschreitenden Fällen nur möglich, wenn es dafür eine völker- oder unionsrechtliche Grundlage gibt. Ein Beispiel dafür ist Art 15 Brüssel IIa-VO.

[64] Der bilaterale RH-Vertrag enthält keine solche Regelung. Allerdings kann das österreichische Gericht nach § 110 Abs 2 JN von der Ausübung einer an sich bestehenden Zuständigkeit absehen, wenn die Interessen der schutzberechtigten Person durch im Ausland getroffene oder zu erwartende Maßnahmen ausreichend gewahrt sind. Damit ist die Starre des Perpetuatio-fori-Grundsatzes auch hier durchbrochen: Ist die internationale Zuständigkeit eines anderen Staates begründet und das Wohl der schutzberechtigten Person, also insbesondere das Kindeswohl, auch durch ein dort geführtes Verfahren gewährleistet, so bleibt die österreichische Zuständigkeit zwar grundsätzlich aufrecht, das Gericht kann aber von ihrer Ausübung absehen. Das ermöglicht eine Koordination der Verfahren (RS0113639, RS0099363 [T3]; Höllwerth in Höllwerth/Ziehensack, ZPO‑TaKom § 110 JN Rz 12; Nademleinsky, Glosse zu 3 Ob 252/13z, EF-Z 2014/144), wobei § 110 Abs 2 JN wegen des Aufrechtbleibens der Zuständigkeit und der Möglichkeit einer Fortsetzung des inländischen Verfahrens (Höllwerth in Höllwerth/Ziehensack, ZPO-TaKom § 110 JN Rz 12; Fuchs in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG2 § 110 JN Rz 11; beide mwN) noch flexibler ist als § 111 JN. Damit können die Interessen der Betroffenen in jeder Hinsicht angemessen berücksichtigt werden.

[65] 3.6. Angesichts der Möglichkeit eines flexiblen Vorgehens nach § 110 Abs 2 JN stehen Interessen der schutzberechtigten Personen der Maßgeblichkeit des Zeitpunkts der (ursprünglichen) Verfahrenseinleitung auch im Verhältnis zum Ausland nicht entgegen. Aus diesen Gründen ist perpetuatio fori anzunehmen und die internationale Zuständigkeit der österreichischen Gerichte trotz der Übersiedlung der Kinder nach Liechtenstein und des Erwerbs der dortigen Landesbürgerschaft zu bejahen.

[66] 4. Allerdings ist nach § 110 Abs 2 JN vorzugehen.

[67] 4.1. Nach dieser bereits erwähnten Bestimmung kann das Gericht bei (wie hier) ausländischen schutzberechtigten Personen trotz bestehender oder (wie hier) perpetuierter internationaler Zuständigkeit von der Einleitung oder Fortsetzung des Verfahrens absehen,

„soweit und solange durch die im Ausland getroffenen oder zu erwartenden Maßnahmen die Rechte und Interessen des Minderjährigen oder der sonstigen schutzberechtigten Person ausreichend gewahrt werden. “

 

[68] Die Anwendung dieser Bestimmung setzt nach der Rechtsprechung im Allgemeinen voraus, dass bereits eine Entscheidung der ausländischen Behörde vorliegt oder aufgrund eines anhängigen Verfahrens konkret und in angemessener Zeit zu erwarten ist (7 Ob 238/00a; 6 Ob 98/10w; Höllwerth in Höllwerth/Ziehensack, ZPO‑TaKom § 110 JN Rz 13; Fuchs in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG2 § 110 JN Rz 9; beide mwN).

[69] 4.2. Ein Vorgehen nach § 110 Abs 2 JN ist umso mehr geboten, wenn sich die Zuständigkeit des anderen Staates (wie hier) aus einem Staatsvertrag ergibt, die österreichische Zuständigkeit nur auf einer perpetuatio fori beruht und Entscheidungen des anderen Staates grundsätzlich anzuerkennen sind (hier Art 15a RH-Vertrag). In diesem Fall drohen parallele Verfahren und in weiterer Folge ein Konflikt zwischen einander widersprechenden Entscheidungen. Das ist im Interesse der schutzberechtigten Personen soweit wie möglich zu vermeiden. Vielmehr ist eine Koordination der Verfahren erforderlich. Das inländische Verfahren könnte nur zur Vermeidung einer echten Rechtsschutzlücke fortgesetzt (oder allenfalls wieder aufgenommen) werden (5 Ob 114/04g).

[70] 4.3. Eine solche Rechtsschutzlücke liegt hier nicht vor.

[71] (a) Zwar vertritt das Fürstliche Landgericht die Auffassung, dass eine – in 5 Ob 114/04g erwogene – formelle „Übernahme“ des österreichischen Verfahrens mangels Grundlage im RH-Vertrag nicht in Betracht komme. Es hat aber auch mitgeteilt, dass es im Fall der Zuständigkeit ein Verfahren über bei ihm gestellte Anträge eröffnen werde. Inzwischen ist das auch geschehen. Es besteht daher (derzeit) kein Zweifel, dass das Fürstliche Landgericht über alle bei ihm gestellten Anträge entscheiden wird. Diese Entscheidungen sind nach Art 15a RH-Vertrag in Österreich anzuerkennen.

[72] (b) Ausreichende Gründe dafür, das inländische Verfahren dennoch fortzusetzen, liegen nicht vor:

[73] Zwar werden möglicherweise (Genehmigungs-) Entscheidungen zu treffen sein, die österreichische Verlassverfahren betreffen. Allerdings sind die Rechtsordnungen sehr ähnlich: Die erbrechtlichen Regelungen des liechtensteinischen ABGB entsprechen weitgehend jenen des österreichischen ABGB in der Fassung vor dem ErbRÄG 2015, die im Verlassverfahren nach dem Vater weiterhin anwendbar sind; das liechtensteinische Außerstreitgesetz 2010 sieht ein Abhandlungsverfahren nach dem Vorbild der §§ 156 AußStrG vor. Bedenken, dass liechtensteinische Richter bei der Beurteilung von Fragen des österreichischen Erbrechts oder Verlassverfahrens Schwierigkeiten haben könnten, bestehen daher nicht.

[74] Der beträchtliche Umfang des bisherigen Pflegschaftsverfahrens ist ebenfalls kein Grund für dessen Fortsetzung. Es mag zwar zutreffen, dass der Erstrichter aufgrund seiner mehrjährigen Tätigkeit (auch im Verlassverfahren) in besonderer Weise mit der Sache vertraut ist. Dieses Argument hat aber angesichts der Möglichkeit eines Richterwechsels – hier unter Umständen nach Art III.1. der Geschäftsverteilung des Erstgerichts aufgrund der Namensänderung der Kinder – nur geringes Gewicht. Ihm steht der Umstand gegenüber, dass sowohl der Wahlvater als auch die Kinder ihren ständigen Aufenthalt in Liechtenstein haben, sodass die liechtensteinischen Gerichte der Sache nicht nur aufgrund rechtlicher Erwägungen (Art 14 RH-Vertrag), sondern auch faktisch näher stehen als die österreichischen.

[75] 4.4. Aus diesen Gründen ist von einer Fortsetzung des österreichischen Pflegschaftsverfahrens abzusehen. Dabei ist – anders als vom Rekursgericht angenommen – nicht zwischen Einzelmaßnahmen der Vermögensverwaltung und der Obsorgeberechtigung als solcher zu unterscheiden. Zwar ließe § 110 Abs 2 JN eine differenzierende Vorgangsweise zu, da von der Einleitung oder Fortsetzung des Verfahrens nur abzusehen ist, „soweit“ (also nicht „wenn“) die Interessen der schutzberechtigten Personen auch durch das ausländische Verfahren gewahrt werden. Ebenso wie in rein nationalen Fällen (10 Nc 42/16g; Gitschthaler in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG2 § 111 JN Rz 22 ff mwN) hat eine solche Spaltung aber zur Vermeidung einander widersprechender Entscheidungen und eines unnötigen Verfahrensaufwands die Ausnahme zu bleiben. Gründe, weshalb sie hier trotzdem angebracht wäre, sind (derzeit) nicht erkennbar.

[76] 5. Die Nichtfortsetzung des Verfahrens ändert nichts an der Rechtsstellung des teilweise mit der Obsorge betrauten Rechtsanwalts.

[77] 5.1. Entgegen der vom Wahlvater vertretenen Auffassung wurde für die Kinder kein „Kurator“ oder „Sachwalter“ bestellt. Vielmehr hat das Erstgericht dem Wahlvater die Obsorge im Bereich der Vermögensverwaltung und gesetzlichen Vertretung – gemeint: soweit vermögensrechtliche Angelegenheiten betroffen sind – entzogen und damit einen Rechtsanwalt betraut. Dieser Beschluss wurde rechtskräftig und gestaltete damit die Rechtslage. Eine solche Maßnahme wäre auch nach § 176 Abs 1 liechtABGB möglich (diese Bestimmung stimmt wörtlich mit § 181 Abs 1 ABGB überein), sodass es auf die Frage des im Zeitpunkt der Beschlussfassung anwendbaren Rechts auch abgesehen von der eingetretenen Rechtskraft nicht ankommt. Das Verhältnis zwischen § 26 Abs 2 IPRG (Adoptionswirkungen) und § 27 IPRG (Obsorge einer anderen Person) ist daher nicht weiter zu prüfen.

[78] 5.2. Der vom nach Art 14 Abs 1 RH-Vertrag zuständigen Gericht getroffene Beschluss über die teilweise Entziehung der Obsorge ist in Liechtenstein nach Art 15a RH‑Vertrag (außer bei Annahme eines Ordre-public-Verstoßes) anzuerkennen. Weshalb der bloße Wechsel der Staatsangehörigkeit und des gewöhnlichen Aufenthalts der Kinder dennoch dazu führen sollte, dass wieder der Wahlvater umfassend mit der Obsorge betraut wäre, ist schlechthin nicht erkennbar. Auch wenn sich dadurch das anwendbare Recht geändert haben sollte, bliebe dies (auch abgesehen von der Rechtskraft des Beschlusses) nach § 7 IPRG ohne Einfluss auf bereits vollendete Tatbestände, hier also auf die teilweise Obsorgeübertragung. Aufgrund der Nichtfortsetzung des österreichischen Pflegschaftsverfahrens obliegt es daher allein den liechtensteinischen Gerichten, über einen Antrag des Wahlvaters auf Rückübertragung der teilweise entzogenen Obsorge zu entscheiden.

[79] B. Auf der Grundlage dieser Erwägungen ist über die Rechtsmittel wie folgt zu entscheiden:

[80] 1. Verfahren 2 Ob 45/21p:

[81] 1.1. Der (zufolge Nichtzulassung durch das Rekursgericht richtig nur) außerordentliche Revisionsrekurs des Wahlvaters gegen den Beschluss AZ 45 R 518/20i (9 Pg 191/12g‑459) ist jedenfalls unzulässig, soweit er sich gegen die Bestimmung der Entschädigung des Obsorgeberechtigten richtet. Denn dabei handelt es sich – wie bei der Entscheidung über die Kosten eines Kurators, Sachwalters oder (früher) Vormunds (RS0007696) – um eine Entscheidung im Kostenpunkt iSv § 62 Abs 2 Z 1 AußStrG. Der Revisionsrekurs ist daher in diesem Punkt ohne inhaltliche Prüfung zurückzuweisen. Nur zur Klarstellung ist festzuhalten, dass das Fassen dieses Beschlusses ungeachtet des nun vom Obersten Gerichtshof angenommenen Vorliegens der Voraussetzungen für ein Vorgehen nach § 110 Abs 2 JN im Beurteilungsspielraum der Vorinstanzen lag.

[82] 1.2. Im Übrigen ist der Revisionsrekurs zur Klarstellung der Rechtslage zulässig und teilweise berechtigt. Der angefochtene Beschluss ist dahin abzuändern, dass nach § 110 Abs 2 JN von der Fortsetzung des Verfahrens abgesehen wird. Über die von der Entscheidung betroffenen und die weiteren inzwischen eingelangten Anträge ist daher nicht zu entscheiden. Eine Zurückweisung der vom angefochtenen Beschluss erfassten Anträge kommt wegen der möglichen Fortsetzung des Verfahrens nicht in Betracht. Eine solche Fortsetzung wäre allerdings nur möglich, wenn die Voraussetzungen des § 110 Abs 2 JN nicht mehr vorlägen.

[83] 2. Verfahren 2 Ob 46/21k:

[84] 2.1. Die außerordentlichen Revisionsrekurse beider Seiten gegen den Beschluss AZ 45 R 521/20f ( 9 Ps 191/12g‑40) sind ebenfalls zur Klarstellung der Rechtslage zulässig.

[85] 2.2. Nur der Revisionsrekurs des Obsorgeberechtigten ist teilweise berechtigt. Auch in der Frage, ob er zu entheben und die volle Obsorge des Wahlvaters wiederherzustellen ist, ist nicht die internationale Unzuständigkeit der österreichischen Gerichte auszusprechen, sondern es ist nur von der Fortsetzung des Verfahrens abzusehen. Der Antrag des Wahlvaters ist daher nicht zurückzuweisen, es ist aber nicht darüber zu entscheiden. Eine Fortsetzung des Verfahrens käme auch hier nur in Betracht, wenn die Voraussetzungen des § 110 Abs 2 JN nicht mehr vorlägen.

[86] 2.3. Hingegen ist der Revisionsrekurs des Wahlvaters nicht berechtigt. Der Wechsel des Aufenthalts und der Staatsangehörigkeit führt nicht dazu, dass die Betrauung des Rechtsanwalts mit der Obsorge ohne weiteres endet. Vielmehr wird das Fürstliche Landgericht über einen entsprechenden Antrag zu entscheiden haben.

[87] 3. Verfahren 2 Ob 62/21p:

[88] Der außerordentliche Revisionsrekurs des Wahlvaters gegen den Beschluss AZ 45 R 49/21w (9 Ps 191/12g‑51) zeigt keine erhebliche Rechtsfrage auf, weil die Rechtslage bereits im Verfahren 2 Ob 46/21k geklärt wurde. Er ist daher zurückzuweisen.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte