European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:0080OB00034.21I.0526.000
Spruch:
Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.
Begründung:
[1] Die Eltern vereinbarten, dass ihnen die Obsorge für ihre Tochter gemeinsam zusteht. Das Kind sollte hauptsächlich im Haushalt der Mutter betreut werden.
[2] In einem laufenden Verfahren über die Regelung des Kontaktrechts des Vaters zum Kind stellte der Vater in der Tagsatzung am 7. 10. 2020 den Antrag, den hauptsächlichen Aufenthalt der Minderjährigen vorläufig bei ihm festzulegen.
[3] Mit Beschluss vom 12. 10. 2020 trug das Erstgericht dem Vater vorläufig die hauptsächliche Betreuung der Minderjährigen in seinem Haushalt auf und räumte der Mutter vorläufig ein begleitetes Kontaktrecht zu ihrer Tochter ein.
[4] Mit Beschluss vom 15. 10. 2020 ordnete das Erstgericht die Abnahme des Kindes von der Mutter und die Übergabe an den Vater sowie die Abnahme der E‑Card, des Reisepasses und allfälliger Personenstandsurkunden der Minderjährigen an.
[5] Das Rekursgericht bestätigte beide Entscheidungen. Obwohl keine Hinweise auf ein Missbrauchsverhalten des Vaters vorliegen würden, halte die Mutter daran fest. Dadurch schaffe sie eine Gefährdungslage für ihre Tochter, der der Vater entfremdet werde. Die Mutter habe zwar ein Recht auf Überprüfung der Rechtmäßigkeit des Vollzugs. Dem Erstgericht sei jedoch beizupflichten, dass aufgrund des Verhaltens der Mutter mit einer Vereitelung des Vollzugs zu rechnen gewesen sei. Die Minderjährige sei im Übrigen freiwillig mit der Gerichtsvollzieherin mitgegangen.
Rechtliche Beurteilung
[6] Mit ihrem gegen diese Entscheidung erhobenen außerordentlichen Revisionsrekurs zeigt die Mutter keine erhebliche Rechtsfrage auf:
[7] 1.1 Die Mutter releviert in ihrem Rechtsmittel die Verletzung des rechtlichen Gehörs im erstinstanzlichen Verfahren (siehe RIS-Justiz RS0121265), weil ihr aufgrund der damals beim Erstgericht zur Hintanhaltung einer weiteren Ausbreitung von COVID‑19 geltenden Hausordnung wegen Fieber die Teilnahme an der Tagsatzung am 7. 10. 2020 untersagt war. Trotzdem sei die Tagsatzung nicht vertagt worden. Zumindest wäre ihr der in dieser Tagsatzung gestellte Antrag des Vaters vor Entscheidung zu einer allfälligen Äußerung zuzustellen gewesen.
[8] 1.2 Die Verletzung des rechtlichen Gehörs ist nur dann wahrzunehmen, wenn sie Einfluss auf die Richtigkeit der Entscheidung haben konnte (RS0120213 [T13]). Um einen erheblichen Verfahrensverstoß durch Verletzung des rechtlichen Gehörs wirksam geltend zu machen, ist daher im Revisionsrekurs die Relevanz des behaupteten Verfahrensmangels aufzuzeigen (RS0120213 [T14]).
[9] 1.3 Nach der Entscheidung des EGMR vom 15. 10. 2009, 17056/06, Micallef gegen Malta, gelten die Verfahrensgarantien des Art 6 Abs 1 EMRK im Allgemeinen zwar auch für das Provisorialverfahren. Der EGMR verneinte aber die Anwendbarkeit dieser Bestimmung für jene Ausnahmefälle, in denen die Effektivität der Maßnahme von einer raschen Entscheidung abhängt. Im Verfahren über die Obsorge ist daher, wie der Oberste Gerichtshof bereits mehrfach festgehalten hat, die Anordnung einer vorläufigen Maßnahme ohne vorangehende Anhörung des Antragsgegners insbesondere dann zulässig, wenn zum Schutz eines Minderjährigen aufgrund besonderer Umstände eine vorläufige Entscheidung unverzüglich zu treffen ist (1 Ob 57/19t; 10 Ob 61/14i mwN).
[10] 1.4 Nach den Feststellungen besteht insbesondere die Gefahr, dass die Minderjährige bei der Mutter, die die eigenen Sorgen und Ängste auf das Kind überträgt, noch weiter unter Druck kommt, sodass ein rascher Wechsel zum psychisch gesunden Elternteil (dem Vater) aus kinderpsychologischer Sicht besser dem Wohl des Kindes entspricht.
[11] Obgleich damit durchaus eine Dringlichkeit nahe liegt, die eine Einschränkung des rechtlichen Gehörs rechtfertigen kann, hat das Rekursgericht diese Voraussetzung offen gelassen, weil es der Mutter möglich gewesen wäre, ihren eigenen Standpunkt im Rekurs zu vertreten (RS0006057 [T11, T19]). Dem setzt die Mutter letztlich nichts Stichhältiges entgegen. Sie legt weder dar, welches relevante Vorbringen sie in erster Instanz zur Widerlegung der Auffassung des Vaters erstattet hätte, noch welche Fragen sie an die Sachverständige hätte stellen wollen, deren Gutachten die Grundlage für die erstgerichtlichen Feststellungen bildete. Schon deshalb vermag sie keinen relevanten Verfahrensfehler aufzuzeigen.
[12] 2.1 Die Fragen der Obsorgebetrauung und der Erlassung einer vorläufigen Maßnahme hängen regelmäßig von den Umständen des Einzelfalls ab, denen keine grundsätzliche Bedeutung im Sinn des § 62 Abs 1 AußStrG zuerkannt werden kann, es sei denn, dass bei dieser Entscheidung das Wohl des Kindes nicht ausreichend beachtet worden wäre (RS0007101 [T8, T13, T18]). Das ist hier nicht der Fall.
[13] 2.2 Nach den Feststellungen ist die Erziehungsfähigkeit der Mutter deutlich eingeschränkt. Bei ihrer Begutachtung zeigten sich Persönlichkeitszüge, die auf eine Pathologie hinweisen, und zwar Auffälligkeiten im Erleben und Verhalten und ausgeprägte Defizite in ihrer Empathiefähigkeit und ihrem Reflexionsvermögen. Die Mutter bezieht das Kind in ihre verzerrten Wahrnehmungen mit ein. So wird das Kind etwa durch Konflikte der Mutter mit dem Kindergarten oder durch Mehrfachbefragungen über den (nach den Feststellungen substanzlosen) Missbrauchsverdacht der Mutter gegen den Vater massiv belastet.
[14] Entgegen der Meinung der Mutter ergibt sich aus den Feststellungen daher sehr wohl eine über eine bloß fehlende Bindungstoleranz hinausgehende Kindeswohlgefährdung.
[15] 3.1 Nach § 110 Abs 2 AußStrG können Zwangsmittel zur Durchsetzung einer Obsorgeentscheidung auch von Amts wegen (sofort) angeordnet werden. Vor der Anordnung von Zwangsmitteln muss der Verpflichtete nicht unbedingt angehört werden (RS0122436). Etwa bei zu befürchtender Vereitelung des Vollzugs ist sofort mit der Kindesabnahme vorzugehen (3 Ob 177/07m).
[16] 3.2 Die Mutter meint, es gäbe keine Anhaltspunkte für die Annahme, dass sie den Vollzug vereitelt hätte.
[17] Die entsprechende Schlussfolgerung der Vorinstanzen liegt jedoch nahe, weil die Mutter – wie feststeht – nicht einmal begleitete Besuchskontakte zum Vater zugelassen hat.
[18] 3.3 Überdies beanstandet die Mutter in ihrem Rechtsmittel, der Wechsel des hauptsächlichen Aufenthalts sei nicht in einer dem Kindeswohl entsprechenden Art und Weise erfolgt; das Kind sei ohne jegliche Vorbereitung von einer fremden Person (Gerichtsvollzieherin) an den Vater übergeben worden, den es zu diesem Zeitpunkt schon über sechs Monate nicht gesehen habe.
[19] Damit zeigt die Mutter allerdings keinen Rechtsfehler im angefochtenen Beschluss auf.
[20] 4. Der außerordentliche Revisionsrekurs war daher mangels einer Rechtsfrage von der Qualität des § 62 Abs 1 AußStrG zurückzuweisen.
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