OGH 10ObS50/21g

OGH10ObS50/21g27.4.2021

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann sowie die fachkundigen Laienrichter Johannes Püller (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Karl Schmid (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei E*****, vertreten durch Dr. Gerhard Rößler Rechtsanwalt KG in Zwettl, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, wegen Invaliditätspension, in eventu Berufsunfähigkeitspension, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 25. Jänner 2021, GZ 10 Rs 114/20p‑49, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:010OBS00050.21G.0427.000

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

[1] 1. Vom Berufungsgericht verneinte Verfahrensmängel erster Instanz (hier: angeblich unvollständige Erledigung der Sachanträge iSd § 496 Abs 1 Z 2 ZPO und Unterlassung der Vernehmung der Klägerin als Partei) können auch im sozialgerichtlichen Verfahren nicht mit Erfolg in der Revision geltend gemacht werden (RIS‑Justiz RS0043061).

[2] 2.1 Nach § 75 Abs 1 ASGG sind in Sozialrechtssachen die Bestimmungen über das Ruhen des Verfahrens infolge Nichterscheinens der Parteien (§ 170 ZPO) sowie über Versäumungsurteile nicht anzuwenden, ausgenommen in Rechtsstreitigkeiten nach § 65 Abs 1 Z 3 ASGG (Ersatzansprüche der Sozialhilfeträger) und § 65 Abs 1 Z 7 ASGG (IESG‑Streitigkeiten). Letztere sind deshalb ausgenommen, weil sie hinsichtlich des Verfahrens den Arbeitsrechtssachen gleichzuhalten sind (Neumayr in ZellKomm³ § 75 ASGG Rz 1).

[3] 2.2 Die beklagte Pensionsversicherungsanstalt hat die Klagebeantwortung in diesem Leistungsstreit (§ 65 Abs 1 Z 1 ASGG) verspätet eingebracht. Die von der Klägerin gewünschte Rechtsfolge eines Versäumungsurteils schließt § 75 Abs 1 ASGG unmissverständlich aus. Der Senat sieht sich durch die Ausführungen in der außerordentlichen Revision nicht veranlasst, ein Gesetzesprüfungsverfahren in Ansehung dieser Bestimmung einzuleiten. Eine – durch den generellen Ausschluss jedes Versäumnisurteils (§ 396 Abs 1 und 2 ZPO) – bedingte verfassungswidrige Ungleichbehandlung von versicherten Personen im Vergleich zu Versicherungsträgern ist nicht zu erkennen.

[4] 2.3 Die Vorinstanzen sahen in der Fristversäumnis der Beklagten, die mit dem angefochtenen Bescheid den Antrag der Klägerin auf Gewährung einer Invaliditätspension abgewiesen hatte und in der verspäteten Klagebeantwortung das Vorliegen von Invalidität bestritt, kein konkludentes Anerkenntnis. Eine vom Obersten Gerichtshof aufzugreifende Unrichtigkeit dieser Beurteilung erschließt sich aus der Argumentation der Revisionswerberin nicht.

[5] 3. Berufsschutz setzt nach § 255 Abs 2 ASVG voraus, dass innerhalb der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag in zumindest 90 Pflichtversicherungsmonaten eine qualifizierte Erwerbstätigkeit nach § 255 Abs 1 ASVG oder als Angestellte ausgeübt wurde. Nach den Feststellungen der Vorinstanzen war die Klägerin im Beobachtungszeitraum 129 Beitragsmonate als Reinigungskraft (nach ihrem Vorbringen in der Klage als Raumpflegerin bei einer Stadtgemeinde) tätig. Welche das Anforderungsprofil des Lehrberufs Reinigungstechnik erfüllende Tätigkeiten sie dabei erbracht haben soll, lässt die außerordentliche Revision offen.

[6] 4.1 „Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil“ im Sinn des § 255 Abs 3a Z 4 ASVG sind nach der gesetzlichen Definition in § 255 Abs 3b ASVG leichte körperliche Tätigkeiten, die bei durchschnittlichem Zeitdruck und vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden. Tätigkeiten gelten auch dann als vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt, wenn sie durch zwischenzeitliche Haltungswechsel unterbrochen werden (10 ObS 8/19b = SSV‑NF 33/33; RS0127383). Die Definition in § 255 Abs 3b ASVG beschreibt nicht das medizinische (Rest‑)Leistungskalkül von Versicherten, sondern jene Tätigkeiten unter allen in Betracht kommenden Verweisungstätigkeiten, die das leichteste Anforderungsprofil erfüllen (10 ObS 8/19b). Um den Anspruchsvoraussetzungen der Härtefallregelung zu genügen, darf der Pensionswerber nur mehr in der Lage sein, die in § 255 Abs 3b ASVG umschriebenen Tätigkeiten und sonst keine weiteren Verweisungstätigkeiten auszuüben (10 ObS 8/19b mwN).

[7] 4.2 Diese Voraussetzung ist nach den vorliegenden Feststellungen zu Leistungskalkül und Anforderungsprofil in den Verweisungstätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt (insbesondere einer Servierhilfskraft) nicht erfüllt. Die Frage, ob die Klägerin die sonstigen in § 255 Abs 3a Z 1 bis 3 ASVG aufgezählten Anspruchsvoraussetzungen der Härtefallregel erfüllt, stellt sich deshalb nicht.

Stichworte