OGH 10ObS8/19b

OGH10ObS8/19b25.6.2019

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätin Dr. Fichtenau und den Hofrat Mag. Ziegelbauer, sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Martin Lotz (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Günter Hintersteiner (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei M*****, vertreten durch Mahringer Steinwender Bestebner Rechtsanwälte OG in Salzburg, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Josef Milchram, Dr. Anton Ehm und Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Invaliditätspension, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 16. Oktober 2018, GZ 12 Rs 93/18k‑31, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichts Salzburg als Arbeits-  und Sozialgericht vom 25. Mai 2018, GZ 59 Cgs 39/17w‑27, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2019:010OBS00008.19B.0625.000

 

Spruch:

 

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 418,78 EUR bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin enthalten 69,80 EUR USt) binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

Strittig ist im Revisionsverfahren noch die erste Anspruchsvoraussetzung des § 255 Abs 3a Z 4 ASVG, nämlich, ob der 1957 geborene Kläger nur mehr in der Lage ist, Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil, die auf dem Arbeitsmarkt noch bewertet werden (§ 255 Abs 3b ASVG) auszuüben (Standpunkt des Klägers), oder ob dies nicht der Fall sei (Standpunkt der Beklagten). Dass der Kläger die Anspruchsvoraussetzungen des § 255 Abs 3a Z 13 ASVG und auch die zweite Anspruchsvoraussetzung des § 255 Abs 3a Z 4 ASVG erfüllt, ist im Revisionsverfahren nicht (mehr) strittig.

Der Kläger kann nur noch zweidrittelzeitig bis 5 kg tragen und bis 10 kg heben. Die Arbeiten können nur vorwiegend im Sitzen (mehr als zwei Drittel der Gesamtarbeitszeit) verrichtet werden, den Rest der Tagesarbeitszeit kann der Kläger im Gehen bzw Stehen verrichten, wobei durchgehend gehende und stehende Tätigkeiten auf maximal 30 Minuten zu beschränken sind. Nach spätestens 30 Minuten in einer dieser Körperhaltungen ist ein Wechsel für zwei bis drei Minuten erforderlich, wobei die Arbeit hiefür nicht unterbrochen werden muss. Dynamisches Sitzen ist als Ersatz für einen Körperhaltungswechsel nicht ausreichend. Ausschließlich sitzende Tätigkeiten sind dem Kläger nicht zumutbar. Die psychische Belastbarkeit ist deutlich reduziert, es ist maximal ein durchschnittlicher Zeitdruck zumutbar. Auszuschließen sind Schichtdienste, Überstunden oder Fließbandarbeiten. Die Arbeiten müssen geistig einfach und gut überschaubar sein, dann bestehen keine Einschränkungen hinsichtlich der sozialen oder persönlichen Kompetenz. Kundenkontakt ist mit Hörgeräten möglich, Telefonieren nur in ruhiger Umgebung. Einschränkungen der Tages‑ und Wochenarbeitszeit bestehen keine, eine Wohnsitzverlegung bzw Wochenpendeln ist nicht zumutbar, Tagespendeln von 45 bis 60 Minuten hingegen schon.

Das Leistungskalkül des Klägers entspricht dem Anforderungsprofil eines Bürohilfsarbeiters, der einfachste Angestelltentätigkeiten verrichtet, nicht jedoch dem Anforderungsprofil einer weiteren Verweisungstätigkeit.

Die einfachen Bürotätigkeiten (wie Sortier‑ und Kopierarbeiten, Arbeiten mit Formularen und Vordrucken, Posteingangs‑ und ‑ausgangsarbeiten, Registraturarbeiten, einfache Computereingaben etc) werden üblicherweise im Sitzen verrichtet, es kann aber die Körperhaltung vom Beschäftigten frei zwischen Stehen, Sitzen und Gehen so gewählt werden, dass die Tätigkeiten nicht mehr vorwiegend (mehr als zwei Drittel der Zeit) im Sitzen verrichtet werden müssen.

Am regionalen Arbeitsmarkt existieren zumindest 30 Arbeitsplätze für solche einfachste Angestelltentätigkeiten. Es ist davon auszugehen, dass ein Arbeitsplatz in einer der psychischen und physischen Beeinträchtigung entsprechenden Entfernung vom Wohnort des Klägers innerhalb eines Jahres nicht erreicht werden kann.

Mit Bescheid vom 9. 12. 2016 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt die Zuerkennung der Invaliditätspension an den Kläger ab, weil keine Invalidität vorliege.

Der Kläger begehrt mit seiner gegen diesen Bescheid erhobenen Klage die Zuerkennung der Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß ab 1. 6. 2016.

Dagegen wendete die Beklagte insbesondere auch ein, dass der Kläger weiterhin in der Lage sei, auch das geringste Anforderungsprofil übersteigende Tätigkeiten zu verrichten, sodass kein Härtefall vorliege.

Das Erstgericht sprach dem Kläger die Invaliditätspension dem Grund nach ab dem 1. 6. 2016 zu und verpflichtete die Beklagte zur Erbringung einer vorläufigen Leistung von monatlich 300 EUR. Der Kläger sei nur mehr in der Lage, einfachste Tätigkeiten eines Bürohilfsarbeiters auszuüben. Die Tätigkeit der Bürohilfskraft werde vorwiegend im Sitzen ausgeübt, sie ermögliche jedoch jederzeit den vom Kläger benötigten Haltungswechsel. Unter diesen Umständen gelange die Härtefallregelung nach § 255 Abs 3a und Abs 3b ASVG zur Anwendung.

Das Berufungsgericht gab der von der Beklagten gegen dieses Urteil erhobenen Berufung nicht Folge. Es traf – von den Parteien im Revisionsverfahren ungerügt – die oben unter Anführungszeichen wiedergegebene ergänzende Feststellung und führte rechtlich aus, dass nicht auf die Möglichkeit der Wahl der Körperhaltung bei der Ausübung der Verweisungstätigkeit einer Bürohilfskraft abzustellen sei, sondern, ausgehend vom Wortlaut des § 255 Abs 3b ASVG, auf die übliche Ausübungsform dieser Verweisungstätigkeit. Da die Tätigkeit der Bürohilfskraft überwiegend im Sitzen ausgeübt werde, handle es sich um eine Tätigkeit mit geringstem Anforderungsprofil nach dieser Bestimmung. Die Revision an den Obersten Gerichtshof sei zulässig, weil zu klären sei, was unter Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil zu verstehen sei, insbesondere ob es auf die theoretisch mögliche oder die im Arbeitsleben übliche Arbeitshaltung ankomme.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die vom Kläger beantwortete Revision der Beklagten, mit der diese die Abweisung des Klagebegehrens anstrebt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zur Klarstellung zulässig, sie ist jedoch nicht berechtigt.

Die Revisionswerberin führt aus, dass die Härtefallregelung des § 255 Abs 3a und 3b ASVG nur für eine sehr kleine Anzahl sehr stark leistungseingeschränkter Versicherter geschaffen werden sollte. Stehe wie im vorliegenden Fall einfacher Bürotätigkeiten die freie Wahl zwischen Stehen, Sitzen und Gehen für die Ausübung einer Arbeitstätigkeit offen, so könne nicht von einer Tätigkeit mit geringstem Anforderungsprofil im Sinn des § 255 Abs 3b ASVG ausgegangen werden. Dem ist entgegenzuhalten:

1. „Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil“ iSd § 255 Abs 3a Z 4 ASVG sind nach der gesetzlichen Definition in § 255 Abs 3b ASVG (idF des 2. SVÄG 2013, BGBl I 2013/139) leichte körperliche Tätigkeiten, die bei durchschnittlichem Zeitdruck und vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden. Tätigkeiten gelten auch dann als vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt, wenn sie durch zwischenzeitliche Haltungswechsel unterbrochen werden (stRsp seit 10 ObS 105/11f, RS0127383).

2. Es entspricht ebenfalls der ständigen, von den Vorinstanzen auch beachteten Rechtsprechung, dass die Definition in § 255 Abs 3b ASVG nicht das medizinische (Rest‑)Leistungskalkül von Versicherten beschreibt, sondern jene Tätigkeiten unter allen in Betracht kommenden Verweisungstätigkeiten, die das leichteste Anforderungsprofil erfüllen. Anders ausgedrückt: Um den Anspruchsvoraussetzungen der Härtefallregelung zu genügen, darf der Pensionswerber nur mehr in der Lage sein, die in § 255 Abs 3b ASVG umschriebenen Tätigkeiten und sonst keine weiteren Verweisungstätigkeiten auszuüben (10 ObS 105/11f mwH; RS0127382, zuletzt 10 ObS 77/16w).

3. Es ist daher die erste Anspruchsvoraussetzung des § 255 Abs 3a Z 4 ASVG, wonach ein Versicherter nur mehr Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil, die auf dem Arbeitsmarkt noch bewertet sind, ausüben kann, von der in § 255 Abs 3b ASVG enthaltenen Definition der Tätigkeiten gemäß § 255 Abs 3a Z 4 ASVG („Tätigkeiten …, die … ausgeübt werden.“) zu unterscheiden.

4. Richtig weist das Berufungsgericht darauf hin, dass es für die Beurteilung der Frage, ob eine in § 255 Abs 3b ASVG umschriebene Tätigkeit vorliegt, auf deren „übliche Ausübungsform“ ankommt. Dies ergibt sich schon aus dem Wortlaut des § 255 Abs 3a Z 4 ASVG, wonach es auf das „Anforderungsprofil“ der Verweisungstätigkeiten ankommt. Zur Beantwortung der Frage, ob die Anspruchsvoraussetzungen des § 255 Abs 3a Z 4 ASVG erfüllt sind, bedarf es daher genauer Feststellungen zum Anforderungsprofil sämtlicher dem Pensionswerber noch möglicher Verweisungstätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt (10 ObS 105/11f, Pkt 4.5, weitere Hinweise in RS0127383, zuletzt 10 ObS 152/14x).

5.1 Nach den hier getroffenen Feststellungen werden die dem Kläger allein noch zumutbaren einfachen Bürohilfstätigkeiten üblicherweise im Sitzen und bei durchschnittlichem Zeitdruck verrichtet. Es handelt sich daher nach ihrem Anforderungsprofil am allgemeinen Arbeitsmarkt um Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil im Sinn des § 255 Abs 3a Z 4 iVm § 255 Abs 3b ASVG. Daran ändert der Umstand, dass die Beschäftigten die Körperhaltung beim Arbeiten frei zwischen Stehen, Gehen und Sitzen wählen können, nichts, weil dies Ausfluss einer individuellen Entscheidung des Beschäftigten ist, nicht aber dem festgestellten (gewöhnlichen) Anforderungsprofil von einfachen Bürohilfstätigkeiten am allgemeinen Arbeitsmarkt entspricht.

5.2 Der Kläger ist trotz seines eingeschränkten Leistungskalküls (nur) noch in der Lage, die festgestellte Verweisungstätigkeit geringsten Anforderungsprofils auszuüben. Der Umstand, dass er zwischendurch aus medizinischen Gründen einen Haltungswechsel benötigt, schadet gemäß § 255 Abs 3b Satz 2 ASVG nicht.

Der Revision war daher nicht Folge zu geben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a iVm Abs 2 ASGG.

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