OGH 15Os18/21t

OGH15Os18/21t21.4.2021

Der Oberste Gerichtshof hat am 21. April 2021 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Kirchbacher als Vorsitzenden, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Mag. Lendl und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Michel‑Kwapinski, Mag. Fürnkranz und Dr. Mann in der Strafsache gegen C* F* wegen Vergehen der Verletzung der Unterhaltspflicht nach § 198 Abs 1 StGB, AZ 6 U 20/20m des Bezirksgerichts Graz‑West, über die von der Generalprokuratur gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz als Berufungsgericht vom 14. September 2020, AZ 2 Bl 27/20m, und gegen weitere in diesem Verfahren ergangene Beschlüsse erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin der Generalprokuratur, Generalanwältin Mag. Wehofer, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E131523

Rechtsgebiet: Strafrecht

 

Spruch:

 

In der Strafsache gegen C* F* wegen Vergehen der Verletzung der Unterhaltspflicht nach § 198 Abs 1 StGB, AZ 6 U 20/20m des Bezirksgerichts Graz‑West, verletzen

1./ der gemeinsam mit dem Urteil des Bezirksgerichts Graz‑West vom 25. Februar 2020 ergangene Beschluss auf Absehen vom Widerruf bedingter Strafnachsichten (und Verlängerung einer Probezeit) § 494a Abs 3 StPO;

2./ das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz als Berufungsgericht vom 14. September 2020, AZ 2 Bl 27/20m, § 467 Abs 2 und § 295 Abs 1 StPO iVm § 471 StPO.

3./ der gemeinsam mit dem zu 2./ genannten Urteil ergangene Beschluss auf Absehen vom Widerruf bedingter Strafnachsichten § 494a Abs 3 StPO.

Das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz wird aufgehoben und es wird insofern in der Sache selbst erkannt:

Die Berufung der Staatsanwaltschaft wird zurückgewiesen.

 

Gründe:

[1] Mit Urteil des Bezirksgerichts Graz‑West vom 25. Februar 2020, GZ 6 U 20/20m‑12,wurde C* F* (richtig:) der Vergehen der Verletzung der Unterhaltspflicht nach § 198 Abs 1 StGB schuldig erkannt und zu einer gemäß § 43 Abs 1 StGB unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehenFreiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt.

[2] Mit unter einem gefassten Beschluss sah das Bezirksgericht Graz‑West gemäß § 494a Abs 1 Z 2 StPO vom Widerruf der mit Urteilen desselben Gerichts vom 4. Jänner 2016, AZ 12 U 209/15t, und vom 9. August 2018, AZ 12 U 72/18z, sowie mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 28. Juni 2019, AZ 10 Hv 64/19v, gewährten bedingten Strafnachsichten ab und verlängerte hinsichtlich des letztgenannten Urteils gemäß § 494a Abs 6 StPO die Probezeit auf fünf Jahre.

[3] Eine Anhörung der bei der Hauptverhandlung anwesenden Angeklagten zur Widerrufsentscheidung erfolgte nicht (ON 11). Auch davor räumte ihr das Gericht – anlässlich ihrer Ladung samt Zustellung des Strafantrages (ON 1 S 3, ON 5) – keine Möglichkeit zur Stellungnahme ein (vgl RIS‑Justiz RS0111829 [T 8]). Eine Anhörung des Vertreters der Staatsanwaltschaft unterblieb ebenfalls.

[4] Gegen dieses Urteil meldete die Staatsanwaltschaft Graz am 28. Februar 2020 „Berufung wegen des Ausspruchs über die Strafe“ und Beschwerde „gegen den Beschluss auf Absehen vom Widerruf der bedingten Strafnachsicht gemäß § 494a Abs 4 und 6 StPO [...] zu AZ 12 U 209/15t des Bezirksgerichts Graz‑West“ an (ON 13).

[5] Nach Einlangen des Aktes samt Urteil zur Ausführung der Berufung am 29. Mai 2020 bei der Staatsanwaltschaft (ON 1 S 4) brachte diese (mittels Telefax) am 30. Juni 2020 – sohin verspätet (§ 467 Abs 1 StPO) – die Ausführung der Berufung gegen den Strafausspruch (nunmehr ausdrücklich „zum Nachteil der Angeklagten“) und die Beschwerde ein, die sich auch gegen das Absehen vom Widerruf der vom Bezirksgericht Graz‑West zu AZ 12 U 72/18z und vom Landesgericht für Strafsachen Graz zu AZ 10 Hv 64/19v gewährten bedingten Strafnachsichten wendete (ON 15).

[6] Mit Urteil vom 14. September 2020, AZ 2 Bl 27/20m, gab das Landesgericht für Strafsachen Graz der Berufung der Staatsanwaltschaft Folge und setzte die Freiheitsstrafe – unter Ausschaltung der bedingten Nachsicht – auf drei Monate herab.

[7] Unter einem fasste das Berufungsgericht im Rahmen der Strafneufestsetzung anlässlich der Berufungsentscheidung gegen den Strafausspruch (vgl RIS‑Justiz RS0101886; Jerabek, WK-StPO § 498 Rz 8) – ohne die anwesende Angeklagte dazu zu hören (siehe das – noch nicht journalisierte – Protokoll der Berufungsverhandlung) – den Beschluss auf Absehen vom Widerruf der mit Urteilen des Bezirksgerichts Graz‑West vom 4. Jänner 2016 zu AZ 12 U 209/15t und vom 9. August 2018 zu AZ 12 U 72/18z sowie mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 28. Juni 2019 zu AZ 10 Hv 64/19v gewährten bedingten Strafnachsichten gemäß § 494a Abs 1 Z 2 StPO.

Rechtliche Beurteilung

 

[8] Der gemäß § 494a Abs 1 Z 2 StPO ergangene Beschluss des Bezirksgerichts Graz‑West, das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz als Berufungsgericht und der von diesem unter einem gefasste Beschluss gemäß § 494a Abs 1 Z 2 StPO stehen – wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend ausführt – mit dem Gesetz nicht im Einklang:

 

[9] I./ Zu den Beschlüssen gemäß § 494a Abs 1 Z 2 StPO:

[10] Gemäß § 494a Abs 3 StPO hat das Gericht vor der Entscheidung über den Widerruf einer bedingten Nachsicht (ua) den Angeklagten zu hören (RIS‑Justiz RS0111829). Von der Anhörung des Angeklagten kann (nur dann) abgesehen werden, wenn das Urteil in seiner Abwesenheit gefällt wird und ein Ausspruch nach Abs 1 Z 1 oder Z 2 leg cit erfolgt.

[11] Indem sowohl das Erstgericht als auch das Berufungsgericht die Beschlüsse gemäß § 494a Abs 1 Z 2 StPO in Anwesenheit der Angeklagten ohne deren vorheriger Anhörung fassten, verletzen diese jeweils das Gesetz in § 494a Abs 3 StPO.

[12] Im Übrigen sei erwähnt, dass im Anlassfall – zumal sich die meritorische Erledigung der Berufung als verfehlt erweist (siehe dazu unten II./) – keine Beschlussfassung gemäß § 494a StPO durch das Berufungsgericht im Rahmen der „Gesamtregelung“ der Straffrage (RIS‑Justiz RS0101886), sondern vielmehr eine Erledigung der Beschwerde der Staatsanwaltschaft zu erfolgen gehabt hätte. In Ansehung des Absehens vom Widerruf der vom Bezirksgericht Graz‑West zu AZ 12 U 72/18z sowie mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 28. Juni 2019 zu AZ 10 Hv 64/19v gewährten bedingten Strafnachsichten wäre die Beschwerde als verspätet (§ 498 Abs 3 zweiter Satz StPO), zurückzuweisen gewesen (§ 89 Abs 2 StPO).

[13] Da das Landesgericht für Strafsachen Graz durch die neuerliche Beschlussfassung gemäß § 494a StPO die Beschlüsse des Bezirksgerichts Graz‑West – implizit – beseitigte, inhaltlich in Ansehung aller bezughabenden Verurteilungen vom Widerruf der bedingten Nachsichten absah und auch die Probezeit (zum Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 28. Juni 2019, AZ 10 Hv 64/19v) nicht verlängerte, hat sich die mehrfache Verletzung des § 494a Abs 3 StPO offenkundig nicht zum Nachteil der Angeklagten ausgewirkt, sodass es mit deren Feststellung sein Bewenden haben kann (§ 292 vorletzter Satz StPO).

 

[14] II./ Zum Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz als Berufungsgericht:

[15] Die Staatsanwaltschaft kann gegen Urteile des Bezirksgerichts sowohl zu Gunsten des Angeklagten als auch zu dessen Nachteil die Berufung ergreifen (§ 465 Abs 1 und Abs 3 StPO).

[16] Gemäß § 467 Abs 2 StPO hat der Berufungswerber bei der Anmeldung der Berufung oder in der Berufungsschrift (ua) ausdrücklich zu erklären, durch welchen Ausspruch (§ 464 StPO) er sich beschwert findet, widrigenfalls auf die Berufung vom Landesgericht keine Rücksicht zu nehmen ist.

[17] Nach § 471 StPO gilt für die Anberaumung und Durchführung des Gerichtstags zur öffentlichen Verhandlung (ua) § 295 StPO, dessen Abs 1 zufolge sich das Berufungsgericht bei seiner Entscheidung auf die der Berufung unterzogenen Punkte zu beschränken hat.

[18] Die Beschränkung des Berufungsgerichts auf die der Berufung unterzogenen Punkte bringt (ua auch) zum Ausdruck, dass deren Änderung nur nach Maßgabe einer den Berufungswerber treffenden Beschwer in Betracht kommt; nur insoweit kann dieser einen Ausspruch „der Berufung unterziehen“. Da der Staatsanwaltschaft die gegen den Strafausspruch gerichtete Berufung sowohl zu Gunsten als auch zum Nachteil des Angeklagten offensteht, ist deren Berufung nicht am Verfahrensrecht ausgerichtet, soweit weder bei der Anmeldung noch bei der Ausführung des Rechtsmittels eine Festlegung über die Richtung der Sanktionsanfechtung zu entnehmen ist (Ratz, WK‑StPO § 295 Rz 7; Leitner in Schmölzer/Mühlbacher, StPO 2 § 295 Rz 9; RIS‑Justiz RS0100560).

[19] Aus der Anmeldung der Berufung durch die Staatsanwaltschaft am 28. Februar 2020 (ON 13) ergibt sich lediglich, dass sich diese gegen den Strafausspruch richtet; eine Festlegung über die Richtung der Sanktionsanfechtung (zu Gunsten oder zum Nachteil der Angeklagten) erfolgte nicht. Die Ausführung der Berufung wurde verspätet eingebracht (§ 467 Abs 1 StPO), sodass die (erstmalig) darin vorgenommene Festlegung des Anfechtungsziels insofern unbeachtlich ist. Die Berufung wäre daher bereits bei nichtöffentlicher Sitzung zurückzuweisen gewesen (§ 470 Z 1 StPO).

[20] Das in meritorischer Erledigung der Berufung der Staatsanwaltschaft ergangene Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz verletzt daher das Gesetz in § 467 Abs 2 StPO und § 295 Abs 1 StPO iVm § 471 StPO.

[21] Da sich die Entscheidung des Landesgerichts für Strafsachen Graz über die Berufung aufgrund der Verhängung einer – wenngleich im Ausmaß reduzierten – unbedingten Freiheitsstrafe anstelle der vom Erstgericht bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe für die Verurteilte nachteilig auswirkte (vgl dazu RIS‑Justiz RS0120194), sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst, die Feststellung der Gesetzesverletzung mit konkreter Wirkung zu verknüpfen (§ 292 letzter Satz StPO), das Urteil, nicht aber den unter einem gefassten Beschluss (II.) aufzuheben, und die Berufung der Staatsanwaltschaft zurückzuweisen.

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