OGH 9ObA18/21v

OGH9ObA18/21v24.3.2021

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Hopf als Vorsitzenden, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Fichtenau und Hon.‑Prof. Dr. Dehn sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Bianca Hammer (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Herbert Böhm (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei ***** M*****, vertreten durch bfp Brandstetter Feigl Pfleger Rechtsanwälte GmbH in Amstetten, gegen die beklagten Parteien 1.  ***** H*****, vertreten durch Weinrauch Rechtsanwälte GmbH in Wien, 2.  F*****, vertreten durch Krist Bubits Rechtsanwälte OG in Mödling, wegen 29.994,08 EUR und Feststellung (Revisionsinteresse: 34.393,88 EUR sA), über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 18. Dezember 2020, GZ 7 Ra 63/20s-43, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:009OBA00018.21V.0324.000

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision der klagenden Partei wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

[1] Die Unabwendbarkeit eines Ereignisses im Sinne des § 9 EKHG setzt voraus, dass Betriebsunternehmer und Betriebsgehilfen jede nach den Umständen des Falls gebotene Sorgfalt beachtet haben und dass das Unfallsgeschehen auch bei Anwendung äußerster und nach den Umständen möglicher Sorgfalt nicht zu vermeiden war (RS0058206). Der Umfang der gemäß § 9 Abs 2 EKHG gebotenen Sorgfalt hängt von den besonderen Umständen des Einzelfalls ab (RS0111708). Er begründet daher keine Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO, wenn die Beurteilung des Berufungsgerichts den Rahmen der Rechtsprechung nicht verlässt. Das ist auch hier nicht der Fall:

[2] Der verfahrensgegenständliche Arbeitsunfall ereignete sich dadurch, dass die Erstbeklagte mit Schrittgeschwindigkeit (5 km/h) einen Elektro-Hubstapler in einer großen Halle lenkte, als die Klägerin, die sich unmittelbar vor einem Kartoncontainer mit dem Rücken zum Fahrweg befunden hatte, eine Körperdrehung mit einem Schritt nach links hinten und einer Bewegung nach vorne machte, dadurch in den Fahrraum des Hubwagens kam und am Fuß schwer verletzt wurde. Es bestand keine Vermeidbarkeit der Kollision für die Erstbeklagte. Die Vorinstanzen verneinten eine Sorgfaltspflichtverletzung durch sie und wiesen das Klagebegehren ab.

[3] In ihrer nur eine Haftung der Zweitbeklagten betreffenden außerordentlichen Revision macht die Klägerin geltend, dass zwei vom Berufungsgericht zitierte Entscheidungen nicht auf den vorliegenden Fall übertragbar seien, zumal sie mit dem Rücken zur Fahrbahn gestanden sei, in der Halle beträchtlicher Lärm geherrscht habe, sie sich einem Arbeitsvorgang gewidmet habe und der Abstand des Fahrzeugs zur Klägerin sehr gering gewesen sei.

[4] In der Entscheidung 2 Ob 240/67 (ZVR 1968/206) wurde bekräftigt, dass ein Fahrzeuglenker annehmen könne, dass die in den Arbeitsprozess eingegliederten Personen mit dem Arbeitsvorgang so vertraut sind, dass sie diesem Vorgang die entsprechende Beachtung schenken (s auch RS0073124). In der Entscheidung 2 Ob 253/75 (ZVR 1976/295) wurde eine Sorgfaltspflichtverletzung des Lenkers verneint, als jene Klägerin ohne Rücksicht auf den Verkehr vom Gehsteig auf die Fahrbahn trat, womit der ohnehin nur mit Schrittgeschwindigkeit fahrende Lenker nicht zu rechnen brauchte.

[5] Diese Wertungen auf den vorliegenden Fall zu übertragen ist nicht weiter korrekturbedürftig. Die Klägerin war bereits seit 13 Jahren als Maschinistin in jenem Werk tätig und in den Arbeitsprozess eingegliedert. Ihr waren die an mehreren Stellen ausgehängten Arbeitsanweisungen bekannt, wonach die Fußgänger auf den Staplerverkehr achten müssen, rechtzeitig ausweichen und sich möglichst nicht an unübersichtlichen Stellen aufhalten dürfen, weil Stapler nicht immer rasch genug bremsen können. Die Erstbeklagte, die die Klägerin wahrgenommen hatte, fuhr lediglich in Schrittgeschwindigkeit bei ausreichender Durchfahrtsbreite und mit einem an sich ausreichenden Abstand (bei der für die Klägerin günstigsten Annahme rechnerisch 0,71 m) und musste mit der Rückwärtsbewegung der Klägerin auch nicht rechnen. Da keine kritische Situation zu befürchten war, hatte die Erstbeklagte hier auch keinen Grund, ihre Fahrgeschwindigkeit noch weiter zu verlangsamen oder den Stapler überhaupt zum Stillstand zu bringen. Die Ansicht der Klägerin liefe auf die Pflicht hinaus, ein Stapler-Fahrzeug selbst bei Schrittgeschwindigkeit jedenfalls für mit Arbeitsprozessen beschäftigte Arbeitnehmer anzuhalten. Das würde hier die zumutbaren Sorgfaltspflichten überspannen (s RS0058326 [T1]).

[6] Die Klägerin meint auch, das Berufungsgericht habe sich darüber hinweggesetzt, dass für einen Entfall der Haftung nach § 9 EKHG auch der Halter jede nach den Umständen gebotene Sorgfalt aufgewendet haben müsse, wofür die Zweitbeklagte als Haftpflichtige beweispflichtig sei.

[7] Der vorliegende Fall indiziert objektiv keine Anhaltspunkte dafür. Die Klägerin hat auch kein entsprechendes Tatsachensubstrat in den Raum gestellt, das überhaupt eine Sorgfaltsverletzung des Halters ergäbe und zu dem die Zweitbeklagte Vorbringen erstatten hätte können. Dass sich ein Halter von sämtlichen erdenklichen, im Verfahren nicht thematisierten Gründen freibeweisen müsste, trifft nicht zu.

[8] Die außerordentliche Revision der Klägerin ist daher zurückzuweisen.

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