OGH 4Ob24/21i

OGH4Ob24/21i15.3.2021

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Vogel als Vorsitzenden und die Hofräte Dr. Schwarzenbacher, Hon.‑Prof. Dr. Brenn, Hon.‑Prof. PD Dr. Rassi und MMag. Matzka als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj J***** L*****, geboren am ***** 2006, wegen Obsorge, über den außerordentlichen Revisionsrekurs des Landes Wien (Magistrat der Stadt Wien Wiener Kinder- und Jugendhilfe Rechtsvertretung *****) als Kinder‑ und Jugendhilfeträger gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 11. Dezember 2020, GZ 43 R 543/20a‑50, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:0040OB00024.21I.0315.000

 

Spruch:

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Der Kinder- und Jugendhilfeträger (KJHT) ist mit der Obsorge der Minderjährigen im Teilbereich der Pflege und Erziehung betraut. Im Übrigen kommt der Mutter die Obsorge zu.

[2] Der KJHT beantragte die Übertragung der Obsorge auch im Teilbereich Vermögensverwaltung im Umfang der Beantragung und Verwaltung des Eigenanspruchs des Kindes auf Familienbeihilfe.

[3] Die Vorinstanzen wiesen den Antrag ab, weil die Geltendmachung und Empfangnahme von dem Kind zustehenden Familienbeihilfeleistungen ohnehin zum Obsorgeteilbereich Pflege und Erziehung gehöre und es daher keines (weiteren) Entzugs der Obsorge der Mutter im Teilbereich der Vermögensverwaltung bedürfe. Das Rekursgericht erklärte den ordentlichen Revisionsrekurs im Hinblick auf die Entscheidung 6 Ob 62/20s für nicht zulässig.

[4] Mit seinem außerordentlichen Revisionsrekurs beantragt der KJHT neuerlich die Antragsstattgebung, um beim Finanzamt auch den rückwirkenden Teil des Antrags auf Zuerkennung der Familienbeihilfe im Rahmen der Vertretung des Kindes stellen zu können.

[5] Das Rechtsmittel zeigt jedoch keine erheblichen Rechtsfragen iSv § 62 Abs 1 AußStrG auf und ist daher als unzulässig zurückzuweisen.

Rechtliche Beurteilung

[6] 1.1. Die Familienbeihilfe soll nach § 1 FamLAG einen Lastenausgleich im Interesse der Familie herbeiführen. Sie dient dem Zweck, die Pflege und Erziehung des Kindes (als Zuschuss) zu erleichtern sowie die mit dessen Betreuung verbundenen Mehrbelastungen – zumindest zum Teil – auszugleichen (RS0058747; 4 Ob 7/17h; 6 Ob 62/20s). Weiters kommt ihr (gemeinsam mit dem mit ihr zur Auszahlung gelangenden Kinderabsetzbetrag gemäß § 33 Abs 3 EStG 1988) auch die Funktion zu, jene einkommensteuerliche Mehrbelastung abzugelten, der unterhaltspflichtige Eltern durch die steuerliche Nichtabzugsfähigkeit des Unterhalts ausgesetzt sind (6 Ob 62/20s).

[7] 1.2. Berücksichtigt man, dass aufgrund der nunmehr ständigen Rechtsprechung zum mit § 33 Abs 3a EStG idF BGBl I 2018/62 eingeführten Familienbonus Plus der Gesetzgeber den Familienbonus Plus mit der Zielsetzung eingeführt hat, die verfassungsrechtlich gebotene steuerliche Entlastung der Geldunterhaltspflichtigen nunmehr durch die steuergesetzlichen Maßnahmen Unterhaltsabsetzbetrag und Familienbonus Plus herbeizuführen, wodurch eine Entkoppelung von Unterhalts- und Steuerrecht stattgefunden hat und die so genannte Familienbeihilfeanrechnung nicht mehr vorzunehmen ist (RS0132928, RS0133181), so verbleibt als Zweck der Familienbeihilfe, die Pflege und Erziehung des Kindes (als Zuschuss) zu erleichtern und die mit dessen Betreuung verbundenen Mehrbelastungen – zumindest zum Teil – auszugleichen (6 Ob 62/20s).

[8] 2.1. Nach § 6 Abs 5 FamLAG haben Kinder, deren Eltern ihnen nicht überwiegend Unterhalt leisten und deren Unterhalt nicht zur Gänze aus Mitteln der Kinder- und Jugendhilfe oder nicht zur Gänze aus öffentlichen Mitteln zur Sicherung des Lebensunterhalts und des Wohnbedarfs getragen wird, unter denselben Voraussetzungen Anspruch auf Familienbeihilfe, unter denen eine Vollwaise Anspruch auf Familienbeihilfe hat (Abs 1 bis 3).

[9] 2.2. Nach dem Vorbringen des KJHT steht der Minderjährigen ein derartiger Eigenanspruch auf Familienbeihilfe zu. Die Antragstellung des KJHT zielt darauf ab, ihn rechtlich in die Lage zu versetzen, diesen Anspruch für das Kind – insbesondere für vergangene Zeiträume – auch geltend machen zu können.

[10] 3.1. Gemäß § 158 Abs 1 ABGB umfassen die Pflege und Erziehung sowie die Vermögensverwaltung auch die gesetzliche Vertretung in diesen Bereichen.

[11] 3.2. Der Unterhalt dient der Deckung der aktuellen, angemessenen (Lebens-)Bedürfnisse des Kindes. Dies betrifft vor allem die regelmäßig benötigten Betreuungs- und Versorgungsleistungen, die benötigten Leistungen zur Wahrung des körperlichen Wohls und der Gesundheit, weiters die Aufwendungen für die Ausbildung und zur Freizeitgestaltung. Die Vermögensverwaltung betrifft demgegenüber die Erhaltung und mögliche Vermehrung des Stammvermögens sowie die Gebarung mit den Erträgnissen. Nur wenn der Einsatz des eigenen Vermögens des Kindes im Einzelfall zur Befriedigung seiner aktuellen Bedürfnisse erforderlich ist, ist mit der Vermögensverwaltung auch die Bestreitung von Ausgaben für das Kind geboten. Die Vermögensverwaltung betrifft also die Heranziehung des eigenen Stammvermögens und der Erträgnisse des Kindes (8 Ob 99/12k; 6 Ob 50/20a; 6 Ob 62/20s).

[12] 3.3. Da Unterhaltsleistungen somit regelmäßig der Erbringung bzw Finanzierung jener Obsorgemaßnahmen dienen, die der Pflege und Erziehung zuzuordnen sind, kommt die gesetzliche Vertretung zur Geltendmachung und Empfangnahme von Unterhaltsansprüchen grundsätzlich demjenigen zu, der mit der Pflege und Erziehung betraut ist, wobei es sich auch um den KJHT handeln kann (RS0128525; 8 Ob 99/12k; 6 Ob 50/20a; 6 Ob 62/20s).

[13] 3.4. Die Vertretungsbefugnis der mit der Pflege und Erziehung betrauten Person umfasst auch die Geltendmachung von rückständigem Unterhalt (6 Ob 50/20a).

[14] 3.5. Die Familienbeihilfe soll die Pflege und Erziehung des Kindes als Zuschuss erleichtern und die mit der Betreuung verbundenen Mehrbelastungen ausgleichen. Da sie dem gleichen Zweck wie der Unterhaltsbeitrag des geldunterhaltspflichtigen Elternteils dient, gehört die Geltendmachung und Empfangnahme der dem Kind zustehenden Familienbeihilfeleistungen ebenfalls zum Obsorgeteilbereich Pflege und Erziehung (6 Ob 62/20s).

[15] 3.6. Wie sich aus der Entscheidung 6 Ob 50/20a ergibt, umfasst die Vertretungsbefugnis der mit der Pflege und Erziehung betrauten Person auch die Geltendmachung rückständigen Unterhalts. Die Beurteilung der Vorinstanzen, wonach diese Vertretungsbefugnis auch für die Geltendmachung rückwirkender Familienbeihilfe gilt, steht daher mit der zitierten Rechtsprechung im Einklang.

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