European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E130118
Rechtsgebiet: Strafrecht
Spruch:
Aus Anlass der Nichtigkeitsbeschwerde wird das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landesgericht Feldkirch verwiesen.
Mit seinen Rechtsmitteln wird der Betroffene auf die Aufhebung verwiesen.
Gründe:
Mit dem angefochtenen Urteil wurde Cemil Z* nach § 21 Abs 1 StGB in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen.
Danach hat er am 28. Juni 2019 in H* unter dem Einfluss eines die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustands (§ 11 StGB), der auf einer geistigen oder seelischen Abartigkeit von höherem Grad, nämlich einer paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie, beruht, einen Beamten, nämlich den Justizwachebeamten RInsp. Igor S*, mit Gewalt an seiner „infolge Betretung auf der Flucht vorgenommenen Anhaltung“ und „anschließenden Rückverbringung“ in die Anstalt zu hindern versucht, indem er sich dagegen auf im Ersturteil näher beschriebene Weise körperlich zur Wehr setzte, und dadurch das Vergehen des Widerstands gegen die Staatsgewalt nach §§ 15, 269 Abs 1 erster Strafsatz StGB begangen.
Rechtliche Beurteilung
Dagegen wendet sich die aus § 281 Abs 1 Z 5, 9 (richtig) lit a und 11 (iVm § 433 Abs 1) StPO ergriffene Nichtigkeitsbeschwerde des Betroffenen.
Aus ihrem Anlass überzeugte sich der Oberste Gerichtshof, dass dem angefochtenen Urteil nicht (prozessförmig) geltend gemachte materielle Nichtigkeit anhaftet, die dem Betroffenen zum Nachteil gereicht und daher von Amts wegen wahrzunehmen war (§ 290 Abs 1 zweiter Satz erster Fall StPO).
Den Urteilsfeststellungen zufolge war der Betroffene um die Mittagszeit des 28. Juni 2019 aus dem Vollzug der vorläufigen Anhaltung (§ 429 Abs 4 StPO) geflüchtet (§ 106 StVG). Der Justizwachebeamte RInsp. Igor S* begab sich nach dem Ende seines Dienstes um 13:25 Uhr desselben Tages mit der Eisenbahn auf den Weg zu seinem Wohnort. In einem der weiteren Fahrgäste erkannte er den flüchtigen Betroffenen. Er stellte sich ihm als Justizwachebeamter vor, der von seiner Flucht in Kenntnis sei, und forderte ihn auf, ihn zu begleiten. Sodann ergriff er den widerstrebenden Betroffenen am Unterarm und führte ihn zu seinem Sitzplatz. Von dort aus verständigte er umgehend seine Dienststelle und die Polizeiinspektion H* mit der Ankündigung, er werde bei der nächsten Haltestelle (H*) aussteigen und den Betroffenen bis zum Eintreffen der Polizei dort anhalten. Der Betroffene „schubste“ daraufhin RInsp. S* und versuchte, sich an diesem vorbeizuzwängen, dessen Festhaltegriff zu lösen sowie den Genannten durch heftige, kraftvoll ausgeführte Bewegungen an seiner weiteren Anhaltung zu hindern. Trotz dieser heftigen Gegenwehr gelang es RInsp. S* unter großem körperlichen Einsatz, den Betroffenen beim nächsten Halt aus dem Zug zu verbringen und ihn bis zum Eintreffen der Sicherheitskräfte auf dem Bahnsteig festzuhalten (US 9 bis 11).
Nach § 269 Abs 1 StGB handelt tatbildlich, wer (soweit hier von Bedeutung) einen Beamten mit Gewalt an einer Amtshandlung hindert. Als Amtshandlung im Sinn dieser Bestimmung gilt nur eine Handlung, durch die der Beamte als Organ der Hoheitsverwaltung oder der Gerichtsbarkeit eine Befehls- oder Zwangsgewalt ausübt (§ 269 Abs 3 StGB).
RInsp. S* ist (nach Maßgabe des § 104 StVG zur Anwendung unmittelbarer Gewalt befugter Justizwache‑)Beamter im Sinn des § 74 Abs 1 Z 4 StGB und kommt daher als Tatobjekt des § 269 Abs 1 StGB in Frage (Danek/Mann in WK2 StGB § 269 Rz 22 und 27). Dass er jedoch in concreto als Organ der Hoheitsverwaltung oder der Gerichtsbarkeit gehandelt hätte, ergibt sich aus den (oben referierten) Urteilsfeststellungen keineswegs. Danach hat er sich zur Tatzeit nicht im Dienst befunden. Eine Befugnis, außerhalb des Dienstes Befehls‑ oder Zwangsgewalt auszuüben (maW als Träger der Staatsgewalt einzuschreiten), kommt Justizwachebeamten – auch nach § 1 Abs 3 Richtlinien-Verordnung – nicht zu. Das Recht (und die Pflicht) hierzu haben – nach Maßgabe dieser Bestimmung – vielmehr ausschließlich die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes (§ 5 Abs 2 SPG), zu denen die Angehörigen der Justizwache (§ 13a StVG) de lege lata nicht zählen. Ein Entschließungsantrag mehrerer Abgeordneter zum Nationalrat vom 13. Oktober 2016 mit dem Ziel, „die Justizwache als Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes in das SPG aufzunehmen“ (1878/A[E] 25. GP), hat an dieser Gesetzeslage (bislang) nichts geändert. Schon deshalb unzutreffend ist die auf den bezeichneten Entschließungsantrag gestützte Rechtsansicht des Erstgerichts, die (fallkonkrete) Anhaltung des geflüchteten Betroffenen durch RInsp. S* sei – in rechtmäßiger (§ 104 Abs 1 Z 3 StVG) Anwendung von Zwangsgewalt erfolgte – Wiederergreifung im Zuge von Nacheile (§ 106 Abs 1 StVG). Auf der Feststellungsbasis des Ersturteils scheidet vielmehr die Beurteilung des konstatierten Verhaltens des RInsp. S* als Amtshandlung aus (vgl EBRV 30 BlgNR 13. GP 411; 10 Os 38/86; 17 Os 51/14z; Danek/Mann in WK2 StGB § 269 Rz 45).
Demzufolge ist die Subsumtion (§ 260 Abs 1 Z 2 StPO iVm § 430 Abs 2 StPO) der Tat des Betroffenen als Vergehen des Widerstands gegen die Staatsgewalt nach § 269 Abs 1 erster Strafsatz StGB verfehlt.
Kann man – wie hier nach dem Urteilssachverhalt – eines geflohenen vorläufig Angehaltenen nicht „sogleich“ (mittels der nach § 106 Abs 1 StVG gebotenen Nacheile) „habhaft werden“, so hat der Anstaltsleiter im Wege der nächsten Sicherheitsbehörde oder ‑dienststelle die Fahndung zu erwirken und rechtzeitig die Ausschreibung zur Festnahme zu beantragen (§ 106 Abs 2 StVG iVm § 167 Abs 1 erster Satz StVG und § 429 Abs 5 zweiter Satz StPO). Im Hinblick darauf konnte RInsp. S* annehmen, dass nach dem Betroffenen „wegen einer strafbaren Handlung“ (nämlich jener mit Strafe bedrohten Handlung [Lewisch in WK2 StGB Nach § 3 Rz 177 ff], die nach dem der vorläufigen Anhaltung [§ 429 Abs 4 StPO] zugrunde liegenden Tatverdacht verwirklicht wäre) „gefahndet werde“ (§ 80 Abs 2 StPO), und war seine Vorgangsweise vom – auch Privaten zukommenden – Anhalterecht gedeckt (vgl Schwaighofer, WK-StPO § 80 Rz 36; Lewisch in WK2 StGB Nach § 3 Rz 189). Hiervon ausgehend wäre die vom Antrag auf Unterbringung umfasste – zur Verhinderung dieser (rechtmäßigen) Vorgangsweise gesetzte (US 11) – Tat des Betroffenen (nicht gerechtfertigt [vgl Leukauf/Steininger/Tipold, StGB4 § 3 Rz 75], sondern) nach §§ 15, 105 Abs 1 StGB mit Strafe bedroht (vgl RIS-Justiz RS0093283 [T1] und Danek/Mann in WK2 StGB § 269 Rz 89 zur Spezialität des – hier [bloß] mangels Eigenschaft des zu verhindern erstrebten Verhaltens als Amtshandlung nicht begründeten – § 269 Abs 1 StGB gegenüber § 105 Abs 1 StGB).
Darauf könnte die Maßnahmenanordnung – mangels ein Jahr Freiheitsstrafe übersteigender Strafdrohung (§ 21 Abs 1 StGB) – freilich nicht gestützt werden. Ob die in Rede stehenden Tätlichkeiten gegen den betreffenden Beamten (US 9 ff) mit Verletzungsvorsatz (nicht während, sondern) wegen der – zurückliegenden oder zukünftigen (vgl Burgstaller/Fabrizy in WK2 StGB § 84 Rz 45) – Vollziehung seiner Aufgaben oder Erfüllung seiner Pflichten gesetzt wurden, hinwieder bleibt im Ersturteil offen. Nach der Aktenlage (vgl Ratz, WK-StPO § 288 Rz 24) ist allerdings nicht auszuschließen, dass in einem zweiten Rechtsgang Feststellungen getroffen werden könnten, die eine Subsumtion der – dann als Anlasstat in Betracht kommenden (vgl Ratz in WK2 StGB § 21 Rz 3 f) – Tat (auch) als Vergehen der schweren Körperverletzung nach §§ 15, 83 Abs 1, 84 Abs 2 StGB tragen (zum Erfordernis, im Einweisungserkenntnis alle idealkonkurrierenden mit Strafe bedrohten Handlungen, somit auch jene anzuführen, die für sich genommen keine ein Jahr Freiheitsstrafe übersteigende Strafdrohung aufweisen, siehe RIS‑Justiz RS0131928 und RS0090390 [T4]).
Da somit eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs in der Sache selbst (§ 288 Abs 2 Z 3 StPO) noch nicht einzutreten hat, führte die aufgezeigte materielle Nichtigkeit aus Z 9 lit a (RIS‑Justiz RS0132762) zur Aufhebung des angefochtenen Urteils bereits bei der nichtöffentlichen Beratung (§ 290 Abs 1 zweiter Satz StPO iVm § 285e StPO).
Mit seiner Nichtigkeitsbeschwerde und seiner Berufung war der Betroffene hierauf zu verweisen.
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