OGH 17Os51/14z

OGH17Os51/14z9.4.2015

Der Oberste Gerichtshof hat am 9. April 2015 durch den Präsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Ratz als Vorsitzenden, die Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Prof. Dr. Danek und Hon.‑Prof. Dr. Kirchbacher sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer und Dr. Oberressl in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Kampitsch als Schriftführer in der Strafsache gegen Daniel H***** und einen anderen Angeklagten wegen des Verbrechens des Missbrauchs der Amtsgewalt nach § 302 Abs 1 StGB über die Nichtigkeitsbeschwerden und die Berufungen der Angeklagten Daniel H***** und Alireza M***** gegen das Urteil des Landesgerichts Korneuburg als Schöffengericht vom 16. September 2014, GZ 603 Hv 11/14d-19, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Mag. Höpler, der beiden Angeklagten und ihrer Verteidiger Dr. Frank und Dr. Stögerer zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2015:0170OS00051.14Z.0409.000

 

Spruch:

 

Aus Anlass der Nichtigkeitsbeschwerden wird das angefochtene Urteil aufgehoben und in der Sache selbst erkannt:

Daniel H***** und Alireza M***** werden gemäß § 259 Z 3 StPO vom Vorwurf freigesprochen, Letzterer habe „als Beamter, und zwar als VB/S (Polizeischüler)“ „im bewussten und gewollten Zusammenwirken“ mit Ersterem „mit dem Vorsatz, Gabriel Renato G*****, Elisabeth S*****, Matthias P***** und Kerima B***** an ihrem konkreten Recht auf Gesetzmäßigkeit sicherheitspolizeilicher Maßnahmen (§ 87 SPG) und dem Grundrecht auf persönliche Freiheit zu schädigen, seine Befugnis, im Namen des Bundes“ (richtig [vgl Art 11 Abs 1 Z 4 B‑VG]: des Landes) „als dessen Organ in Vollziehung der Gesetze Amtsgeschäfte, und zwar Anhaltungen und Kontrollen nach § 97 Abs. 5 StVO vorzunehmen, dadurch wissentlich missbraucht, dass er sich als Beifahrer des PKW VW Passat Kennzeichen *****, ohne Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen nach § 1 Abs. 3 RLV in den Dienst stellte, den Genannten als Insassen des PKW VW Sharan, Kennzeichen *****, zweimal seinen Dienstausweis vorzeigte und diesen mit seiner Handytaschenlampe beleuchtete, nachdem sich Daniel H***** als Lenker des PKW VW Passat, Kennzeichen *****, neben Genannte gesetzt hatte, woraufhin Daniel H***** jeweils das Fahrzeug VW Sharan, Kennzeichen *****, überholte, sich vor diesem einreihte und durch Betätigen des rechten Blinkers und Verringerung der Fahrtgeschwindigkeit zum Anhalten bringen wollte, wobei er wusste, dass Alireza M***** seine Befugnis, im Namen des Bundes“ (richtig: des Landes) „als dessen Organ in Vollziehung der Gesetze Amtsgeschäfte, und zwar Anhaltungen und Kontrollen nach § 97 Abs. 5 StVO, vorzunehmen, dadurch wissentlich missbraucht“.

Mit ihren Rechtsmitteln werden die Angeklagten auf diese Entscheidung verwiesen.

 

Gründe:

Mit dem angefochtenen Urteil wurden Daniel H***** und Alireza M***** wegen des zuvor wiedergegebenen Vorwurfs jeweils des Verbrechens des Missbrauchs der Amtsgewalt nach § 302 Abs 1 StGB schuldig erkannt (Ersterer verfehlt als unmittelbarer Täter [vgl zum Charakter dieses Tatbestands als Sonderdelikt im Sinn des § 14 Abs 1 zweiter Fall StGB Kienapfel/Schmoller BT III 2 § 302 Rz 4 und 73]).

Das Erstgericht ging im Wesentlichen von folgenden Feststellungen aus (US 4 ff): Den Angeklagten sei, als sie auf der Autobahn unterwegs und im Begriff gewesen seien, den im Spruch bezeichneten Pkw VW Sharan zu überholen, eine unsichere Fahrweise dessen Lenkers aufgefallen, weshalb beide den Verdacht seiner Alkoholisierung gehegt hätten. Sie hätten daher beschlossen, diesen Pkw anzuhalten, damit Alireza M*****, der sich zu diesem Zweck als Polizeischüler nach fünfmonatiger Grundausbildung in den Dienst gestellt habe (vgl § 1 Abs 3 Richtlinienverordnung [kurz: RLV]), „eine verkehrspolizeiliche Kontrolle“ durchführen könne. Die Angeklagten seien zweimal neben dem anderen Pkw auf gleicher Höhe einhergefahren und Alireza M***** habe dabei „seinen Polizeiausweis“ aus dem geöffneten Fenster vorgezeigt und mit der Taschenlampe seines Mobiltelefons beleuchtet. Weiters habe er dem Lenker des anderen Fahrzeugs „durch nach rechts winkende Gesten“ signalisiert, er solle „bei nächster Gelegenheit anhalten“. Einmal habe Daniel H***** „auf Anweisung“ des Mitangeklagten den anderen Pkw überholt und habe, dann vor diesem fahrend, die Geschwindigkeit (nicht verkehrsbedingt) „von rund 80 km/h auf 50 km/h“ verringert, „um auf diese Weise dem gegenbeteiligten Lenker des VW Sharan zu bedeuten, er möge rechts anhalten“. Da dieser von einer „bloß vorgetäuschten Polizeikontrolle ausgegangen“ sei, habe er diese Anordnung nicht befolgt; seine Beifahrerin habe vielmehr die Polizei über den Notruf verständigt. Kurz darauf habe auch Alireza M***** über Polizeinotruf mitgeteilt, er brauche „schnell einen Streifenwagen“, denn es gebe „da vermutlich alkoholisierten Autolenker“; er selbst sei „leider nicht im Dienst“.

Beide Angeklagten hätten mit dem Vorsatz gehandelt, die Insassen des Pkw VW Sharan an deren „Grundrecht auf persönliche Freiheit und an ihrem konkreten Recht auf Gesetzmäßigkeit sicherheitspolizeilicher Maßnahmen“ zu schädigen.

Rechtliche Beurteilung

Vorweg ist klarzustellen, dass Polizeischüler als Vertragsbedienstete für die exekutivdienstliche Ausbildung (VB/S [vgl § 2 Abs 1 EignungsprüfungsVO, BGBl II 2012/400]) mit einem Sondervertrag im Sinn des § 36 VBG Angehörige des Wachkörpers Bundespolizei und damit Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sind (§ 5 Abs 1, 2 Z 1 und Abs 6 SPG; EBRV 1726 BlgNR 24. GP , 5; Vogl in Thanner/Vogl [Hrsg] SPG 2 § 5 Anm 7). Als solche sind sie grundsätzlich vom Regelungsbereich des § 1 Abs 3 RLV erfasst und haben die mit der dort vorgesehenen Verpflichtung einhergehende (zumindest abstrakte [RIS-Justiz RS0096134, RS0096112]) Befugnis, sich unter bestimmten Voraussetzungen in den Dienst zu stellen und ‑ allenfalls auch außerhalb des örtlichen Zuständigkeitsbereichs ihrer Sicherheitsbehörde (§ 14 Abs 3 SPG; vgl auch § 27 Abs 3 VStG) ‑ sicherheitspolizeiliche Amtshandlungen zu führen. Ihr Einschreiten ist in einem solchen Fall als Organhandeln dem Staat zuzurechnen. Mit Blick auf die von § 1 Abs 3 RLV normierte Verpflichtung zur Indienststellung (vgl VwGH 95/12/0338; 2010/03/0058 ua) sind übrigens beim ‑ hier nicht erhobenen ‑ Vorwurf einer Verletzung dieser Verpflichtung unter dem Aspekt der Zumutbarkeit (etwa bei Polizeischülern) Ausbildungsstand und (fehlende) berufliche Erfahrung des Organwalters zu berücksichtigen (vgl Erlass des BMI vom 20. 1. 1993, abgedruckt bei Hauer/Keplinger , Sicherheitspolizeigesetz 4 , 1000).

Aus Anlass der Nichtigkeitsbeschwerden überzeugte sich der Oberste Gerichtshof, dass dem Urteil nicht geltend gemachte Nichtigkeit (Z 9 lit a) zum Nachteil der beiden Angeklagten anhaftet, die von Amts wegen wahrzunehmen war (§ 290 Abs 1 zweiter Satz erster Fall StPO):

Nach dem Urteilssachverhalt (US 6 und 11; vgl auch den ausdrücklich auf § 97 Abs 5 StVO Bezug nehmenden Urteilstenor) wollten die Beschwerdeführer den anderen Pkw anhalten, um Alireza M***** die Durchführung einer „Verkehrskontrolle“, also einer Maßnahme im Rahmen der Verkehrspolizei (zum Begriff vgl §§ 94a Abs 1, 94b Abs 1 lit a und 97 Abs 1 StVO; vgl 17 Os 16/12z, EvBl 2013/21, 130), nicht der Sicherheitspolizei (vgl § 2 Abs 2 und § 3 SPG; VwGH 2003/01/0596; 99/01/0427) zu ermöglichen. Angesichts dessen bleibt die ‑ nicht näher konkretisierte ‑ Feststellung, die Beschwerdeführer hätten mit dem Vorsatz gehandelt, die Insassen dieses Pkw „in ihrem konkreten Recht auf Gesetzmäßigkeit sicherheitspolizeilicher Maßnahmen“ zu schädigen (US 6 und 13), ohne Sachverhaltsbezug (RIS-Justiz RS0119090).

Die vom Erstgericht ersichtlich gemeinte Verletzung von § 1 Abs 3 RLV ist nicht Gegenstand des Beschwerderechts nach § 88 SPG (welches der Durchsetzung des im Urteil ausdrücklich angesprochenen Rechts gemäß § 87 SPG dient), sondern jenes nach § 89 SPG. Dieses findet zwar auch außerhalb der Sicherheitspolizei Anwendung, gewährt jedoch kein subjektives Recht auf Einhaltung von nach § 31 SPG erlassenen Richtlinien, vielmehr bloß einen Feststellungsanspruch (vgl Wiederin , Einführung in das Sicherheitspolizeirecht Rz 723, 730 und 745; Hauer/Keplinger , Sicherheitspolizeigesetz 4 § 31 Anm 2 und § 89 Anm 1 und 4; Malz in Thanner/Vogl [Hrsg], SPG 2 § 31 Anm 2 und Wessely ebd § 89 Anm 1 und 7). Das durch die Beschwerde abgesicherte subjektive Recht ist demnach ein solches auf Feststellung der Erfüllung dem Staat gegenüber bestehender Verpflichtungen. Damit stellt sich vorliegend die Frage eines (im Sinn des § 302 StGB beachtlichen) Rechtes des Staates auf Einhaltung von § 1 Abs 3 RLV. Indem diese Vorschrift aber (bloß) eine Verpflichtung von Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes normiert, unter den dort genannten Voraussetzungen und Bedingungen auch außerhalb des Dienstes einzuschreiten (vgl VwGH 95/12/0338; 2005/12/0087), ergibt sich daraus kein unter dem Aspekt des Schädigungsvorsatzes relevanter Anspruch des Staates, ein Einschreiten bei Nichtvorliegen der Voraussetzungen zu unterlassen.

Die Tatrichter haben weiters konstatiert, die Angeklagten hätten die Insassen des anderen Pkw an deren Grundrecht auf persönliche Freiheit schädigen wollen (US 6).

Ein Eingriff in dieses Grundrecht (Art 1 BundesverfassungsG über den Schutz der persönlichen Freiheit kurz: PersFrG; Art 5 MRK) liegt jedoch nicht bei jeder Beeinträchtigung, sondern nur bei einer qualifizierten Beschränkung, einem Entzug, der persönlichen Freiheit vor. Darunter sind im Wesentlichen Festnahme oder Anhaltung (Letzteres im Sinn einer Aufrechterhaltung des durch die Festnahme erfolgten Freiheitsentzugs) zu verstehen. Freiheitsbeschränkungen unterhalb dieser Schwelle tangieren den Schutzbereich des Grundrechts von vornherein nicht. Maßgeblich ist nach ständiger verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung zudem die Zielsetzung des Eingriffs. Nur wenn die Intention primär auf die Freiheitsbeschränkung gerichtet ist, liegt ein Eingriff in das Grundrecht vor, nicht jedoch, wenn die Freiheitsbeschränkung bloß ein Mittel zur Durchführung einer anderen Maßnahme (etwa einer Sicherheitskontrolle, Identitätsfeststellung, Fahrzeugkontrolle oder eines „Alkotests“) darstellt ( Kopetzki in Korinek/Holoubek , B‑VG PersFrG Art 1 Rz 18 bis 21, 38 und 40; Walter/Mayer/Kucsko-Stadlmayer , Grundriss 10 Rz 1405; Öhlinger/Eberhard , Verfassungsrecht 10 Rz 838, jeweils mwN; zur Art 5 MRK betreffenden Spruchpraxis des EGMR, die nach Art eines beweglichen Systems eine einzelfallbezogene Gesamtwürdigung der die Freiheit beschränkenden Umstände [etwa Gewicht und Ausmaß] vornimmt vgl Grabenwarter/Pabel , EMRK 5 § 21 Rz 5; Renzikowski in Pabel/Schmahl IntKommEMRK Art 5 Rz   39 bis 42 und 57 bis 62). Dass das Verhalten der Angeklagten darauf abgezielt hätte, die Insassen des anderen Pkw über das für die Durchführung einer Lenker- oder Fahrzeugkontrolle (vgl § 97 Abs 5 StVO) erforderliche Ausmaß in ihrer Freiheit zu beschränken, etwa an einen bestimmten Ort zu verbringen und dort festzuhalten (vgl etwa VfSlg 15.372), ist dem Urteilssachverhalt gerade nicht zu entnehmen (vgl US 6). Auch die Konstatierung eines auf Schädigung am Grundrecht auf persönliche Freiheit gerichteten Vorsatzes bleibt daher ohne Sachverhaltsbezug (vgl RIS-Justiz RS0119090).

Dieser Rechtsfehler mangels Feststellungen zur subjektiven Tatseite erforderte eine Aufhebung der Schuldsprüche, demgemäß auch der Straf- und der Kostenaussprüche. Eine Erörterung des Beschwerdevorbringens erübrigt sich daher. Insbesondere kann dahingestellt bleiben, ob § 1 Abs 3 RLV in (hier vorliegenden) Angelegenheiten der Straßenpolizei (Art 11 Abs 1 Z 4 B‑VG) überhaupt Anwendung findet (vgl zum [kontroversiellen] Meinungsstand Wiederin , Einführung in das Sicherheitspolizeirecht Rz 403 ff; Hauer/Keplinger , Sicherheitspolizeigesetz 4 § 31 Anm 4.1.; Malz in Thanner/Vogl [Hrsg], SPG 2 § 31 Anm 3 ff).

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