European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:0010OB00164.20D.1127.000
Spruch:
Die Revision wird zurückgewiesen.
Die klagenden Parteien sind je zur Hälfte schuldig, der beklagten Partei die mit 1.292,50 EUR (darin 215,42 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung zu ersetzen.
Begründung:
[1] Die Revision ist – entgegen dem den Obersten Gerichtshof nicht bindenden Ausspruch des Berufungsgerichts – nicht zulässig, weil darin keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO aufgezeigt wird. Dies ist kurz zu begründen (§ 510 Abs 3 ZPO):
Rechtliche Beurteilung
[2] 1. Gleich ob eine vom Träger der Jugendwohlfahrt getroffene Sofortmaßnahme nach § 211 Abs 1 Satz 2 ABGB ihrer Natur nach als privatrechtlicher oder als behördlicher Akt in Vollziehung der Gesetze iSd § 1 Abs 1 AHG anzusehen ist (Privatwirtschaftsverwaltung: VfGH G 47/87 = VfSlg 11.492; B 750/87 = VfSlg 11.498; B 1874/88 = VfSlg 12.073; B 881/06 = VfSlg 18.154; VwGH 93/11/0221 = VwSlg 14.326 A/1995; dagegen für Hoheitsverwaltung: RS0120111; s schon 1 Ob 776/82; 1 Ob 4/12p), wäre – in jedem Fall – Voraussetzung für eine Haftung der Beklagten, dass den für den zuständigen Kinder- und Jugendhilfeträger (KJHT) handelnden Sozialarbeiterinnen oder Sozialarbeitern rechtswidriges und schuldhaftes Verhalten vorgeworfen werden könnte (1 Ob 4/12p). Beide Vorinstanzen beurteilten deren Handeln als vertretbar. Damit hat das Berufungsgericht auch die Voraussetzungen für einen Amtshaftungsanspruch der Sache nach verneint.
[3] 2. Nur bei einer klaren Fehlbeurteilung der nach den konkreten Besonderheiten des Einzelfalls zu beurteilenden Frage, ob die vorläufige Maßnahme vertretbar war, könnte (gleich ob die Prüfung im Rahmen der Amtshaftung oder nach allgemeinen Grundsätzen vorzunehmen wäre) eine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO vorliegen (s 1 Ob 86/09t; 1 Ob 4/12p).
[4] Das Berufungsgericht berücksichtigte, dass eine Änderung der Obsorgeverhältnisse nur äußerste Notmaßnahme sein darf, verhältnismäßig und gelindestes Mittel sein muss (1 Ob 4/12p mwN). Wegen des von den minderjährigen Klägern selbst mehrfach (auch in Abwesenheit der Mutter) wiederholt geäußerten (und als tatsächlich bestehend angenommenen) Leidensdrucks in Form eines über den typischerweise mit der Trennung der Eltern verbundenen weit hinausgehenden und massiven Loyalitätskonflikts, der als auf die lang andauernden Auseinandersetzungen ihrer Eltern zurückgehend qualifiziert wurde, sahen die Vorinstanzen die Maßnahme (Unterbringung im Krisenzentrum) – gemessen auch an dem zuvor dargestellten Maßstab – weder als unverhältnismäßig noch als unvertretbar (so das Erstgericht) bzw „jedenfalls nicht unvertretbar“ (so das Berufungsgericht) an, zumal die Sozialarbeiterinnen den Konflikt als durch das Verhalten des Vaters mitverursacht und als kindeswohlgefährdend einschätzten.
[5] Das Berufungsgericht erläuterte den Klägern, dass sich im vorliegenden Fall ein grundlegender Auffassungsunterschied zwischen Kinder‑ und Jugendhilfeträger (KJHT) und Pflegschaftsgericht offenbart habe: Während der KJHT auf die Gesamtsituation der Kinder unter Berücksichtigung des Verhaltens beider Elternteile auch in ihrem Zusammenwirken abgestellt habe, habe das Pflegschaftsgericht lediglich die Frage betrachtet, ob das Verhalten des Vaters einen Eingriff in sein Obsorgerecht rechtfertige. Darauf gehen die Kläger, die die Schlussfolgerungen des Pflegschaftsgerichts als Beleg für eine „Gesetzwidrigkeit“ des KJHT (in Hinblick auf eine Freiheitsentziehung) sehen, gar nicht ein. Sie ignorieren bei ihren Ausführungen zum angeblich aus dem festgestellten Sachverhalt hervorgehenden Wissensstand der Sozialarbeiterinnen, dass der Standpunkt der im Pflegschaftsverfahren beigezogenen Gutachterin im Wesentlichen erst in der Tagsatzung am 7. 11. zu Tage trat. Den (pauschalen) Feststellungen zu geführten Telefonaten lässt sich eine Erörterung (und wiederum daraus abgeleitet eine Kenntnis dieser Umstände durch die Sozialarbeiterinnen) nicht entnehmen. Zur Tagsatzung am 7. 11. war „das Jugendamt verspätet geladen“ worden, womit die in der Revision gezogene Schlussfolgerung, dass diese pflichtwidrig nicht erschienen wären, unrichtig ist.
[6] Ein Fehler des Berufungsgerichts soll als „Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens“ (in Wahrheit geht es um die rechtliche Beurteilung) darin liegen, dass sich dieses nicht mit der angeblich „primär vorgeworfenen Aufrechterhaltung der Anhaltung“ befasst habe. Die Kläger legen dabei ihrer rechtlichen Beurteilung zugrunde, dass die Mitarbeiter im Krisenzentrum gewusst hätten, dass keine Gefährdung der Kinder vorgelegen wäre. Damit entfernen sie sich aber vom festgestellten Sachverhalt und führen die Rechtsrüge insoweit nicht gesetzmäßig aus.
[7] Beim in der Revision (wie schon in der Berufung) vorgetragenen Vorwurf, das Erstgericht habe den „wesentlichen Gegenstand des Verfahrens … schlichtweg nicht behandelt“, übersehen sie, dass im Revisionsverfahren nicht dessen Urteil, sondern die Entscheidung des Berufungsgerichts der Prüfung unterliegt und sie bereits das Berufungsgericht auf die Stelle im Ersturteil verwiesen hat, an der sich das Erstgericht damit befasste.
[8] Die Revision kann damit eine gravierende Fehlbeurteilung der Vertretbarkeit des Vorgehens der Sozialarbeiterinnen durch die Vorinstanzen – nur in einem solchen Fall könnte, wie bereits erläutert, eine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO vorliegen (1 Ob 4/12p) – nicht aufzeigen.
[9] 3. Eine erhebliche Rechtsfrage sprechen die Kläger ebenfalls nicht an, wenn sie sich (wie erstmals in der Berufung) auf eine vom Verschulden unabhängige Haftung nach Art 5 EMRK stützen. Dazu gehen sie davon aus, dass (wegen der Drittwirkung der Grundrechte) mangels entsprechender Anhaltspunkte im Gesetz (und in der Rechtsprechung) völlig bedeutungslos sei, ob dem Verfahren ein Amtshaftungsanspruch zu Grunde liegt oder nicht. Das Berufungsgericht habe mit seinen Ausführungen zum Neuerungsverbot übersehen, dass es sich „bei Art 5 EMRK nicht einmal um einen Anspruch, sondern nur um eine Rechtsgrundlage“ handle.
[10] Auch dazu bedarf es aber keiner Stellungnahme des Höchstgerichts. Es können zwar auch noch im Rechtsmittelverfahren neue rechtliche Gesichtspunkte vorgetragen werden, allerdings – ohne Verstoß gegen das Neuerungsverbot – nur soweit ihnen das bisherige tatsächliche Vorbringen (als ausreichend in Hinblick auf den neu geltend gemachten Rechtsgrund) zugrunde gelegt werden kann (RS0016473 [T10]).
[11] Die Kläger, die nicht konkretisieren, worin sie eine Freiheitsentziehung iSd Art 5 EMRK sehen, scheinen davon auszugehen, dass ihnen mit der Unterbringung im Krisenzentrum die Freiheit nicht „auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise“ entzogen worden sei. Aus der Entscheidung des vom Vater angerufenen Pflegschaftsgerichts, dass die (umgehend danach beendete) Maßnahme (nach § 107a Abs 1 AußStrG) unzulässig „ist“, kann (bindend) nur abgeleitet werden, dass die Maßnahme im Zeitpunkt der Entscheidung des Pflegschaftsgerichts unzulässig war und eine Weiterführung dieser vorläufigen Maßnahme trotz dieses Beschlusses rechtswidrig gewesen wäre. Letzteres ist ohnehin nicht erfolgt. Anders als die Revision dies annimmt, kann dem Beschluss dagegen nicht entnommen werden, dass die vorläufige Maßnahme schon ab dem Zeitpunkt der Aufnahme im Krisenzentrum unzulässig gewesen wäre. „Die Entscheidung des Gerichts nach Abs. 1 enthält“ nach den Gesetzesmaterialien ausdrücklich „keine Beurteilung darüber, ob die Maßnahme ursprünglich zu Recht vorgenommen worden ist oder nicht“ (ErläutRV 2004 BlgNR 24. GP 40; „aktuelle“ Zulässigkeit: 3 Ob 135/16y; RS0130951). Ein Antrag nach § 107a Abs 2 AußStrG nach Beendigung der Maßnahme (welche Bestimmung sowohl die Fälle der selbständigen Beendigung der Maßnahmen durch den KJHT als auch jene, in denen das Gericht die Unzulässigkeit der Maßnahme nach § 107a Abs 1 AußStrG ausgesprochen hat, umfasst [3 Ob 135/16y]), mit der Zielrichtung eines Ausspruchs darüber, ob die Maßnahme schon zum Zeitpunkt ihrer erstmaligen Vornahme unzulässig war (ErläutRV aaO) bzw ob sie zu Recht aufrechterhalten wurde (2 Ob 101/18v) liegt nicht vor; dass ein solcher gestellt worden wäre, haben die Kläger auch nicht behauptet. Insofern missverstehen sie den Beschluss des Pflegschaftsgerichts. Es steht damit weder bindend fest, dass die Maßnahme bis zu ihrer Aufhebung mit Beschluss des Pflegschaftsgerichts unzulässig gewesen wäre, noch lässt sich den Entscheidungen der Vorinstanzen entnehmen, dass diese davon ausgegangen wären, dass die vorläufige Maßnahme ab einem bestimmten Zeitpunkt vor der Aufhebung durch das Pflegschaftsgericht rechtswidrig geworden wäre.
[12] Die Frage, ob eine gegen den Willen der betroffenen Person (Peukert in Frowein/Peukert, EMRK‑Kommentar³, Art 5 Rz 10) gerichtete Freiheitsentziehung iSd Art 5 Abs 1 EMRK vorliegt oder eine unbeachtliche bloße Freiheitsbeschränkung (vgl Renzikowski in Pabel/Schmahl IntKommEMRK Art 5 Rz 45 f), ist nach der Rechtsprechung des EGMR zu lösen. Dieser unterzieht in seiner Spruchpraxis die Umstände des Einzelfalls (Art, Dauer und Auswirkungen der Maßnahme) einer Gesamtwürdigung nach Art eines beweglichen Systems (17 Os 16/18h mwN). Wenn die europäischen Menschenrechtsinstanzen eine Verletzung des Art 5 EMRK bei alterstypischen Einschränkungen von Minderjährigen – etwa zum Zweck „überwachter Erziehung“ (Art 5 Abs 1 lit d EMRK) – verneinen (vgl EGMR, 28. 11. 1988, Nielsen, A/144 = ÖJZ 1989, 666 ff; EKMR, 14. 12. 1989, 14013/88; EGMR, 19. 5. 2016, Bsw 7472/14), bei Ausübung von (unverhältnismäßigem) Zwang gegenüber einem Minderjährigen aber bejahen (so etwa EGMR, 23. 3. 2016, Blokhin, Bsw 47152/06 [Unterbringung eines strafunmündigen zwölfjährigen Kindes in einem geschlossenen Anhaltezentrum für jugendliche Straftäter wegen der Annahme der Elemente der Straftat der Erpressung bei 24‑Stunden‑Überwachung von Häftlingen; Bestehen eines Disziplinarregimes]), fehlt es bei Aufnahme und Verbleib in einem Krisenzentrum an von den Klägern behaupteten Umständen, die ihre (implizite) Beurteilung decken könnten, sie seien „von Festnahme oder Haft“ Betroffene nach Art 5 Abs 5 EMRK, die Anspruch auf (verschuldensunabhängigen [RS0031690]) Schadenersatz nach dieser Bestimmung verlangen könnten.
[13] Nach dem festgestellten Sachverhalt bestand gemeinsame Obsorge beider Eltern. Die Aufnahme im Krisenzentrum ging von der Mutter aus (schon darin unterscheidet sich der vorliegende Fall wesentlich von dem zu 5 Ob 33/15m entschiedenen, auf den sich die Revisionswerber berufen). Sie war es, die die Kinder dazu zum Krisenzentrum brachte. Ganz wesentlich beruhte deren Aufenthalt dort auf dem mehrfach, auch in Zeitabständen und ohne Beisein der Mutter deponierten Wunsch beider Kläger. Diese äußerten eindringlich und unter Beispielen (Packen am Genick, Zwingen zum Alleinsein trotz Angst davor mit Zuhalten der Zimmertüre), warum sie nicht zum Vater wollten. Die (damals 8 bzw 10 Jahre alten) Kinder gaben mehrmals und im Abstand von (jeweils) ca einer Woche (am 24. 10. 2017, 2. 11. 2017, 9. 11. 2017 und 17. 11. 2017) „glaubhaft“ an, „lieber ins Krisenzentrum als wieder zurück zum Vater zu gehen“. Einschränkungen in ihrer Bewegungsfreiheit, die über alterstypische Maßnahmen hinausgegangen wären (etwa im Sinne einer geschlossenen, bewachten Anstalt), wurden gar nicht behauptet und lassen sich dem Sachverhalt auch nicht entnehmen. Die Kläger beschweren sich – offenbar auch aus dem Blickwinkel des Vaters – im Prozess darüber, dass die vorläufige Maßnahme der Mutter die Möglichkeit eröffnete hätte, sie (entgegen der bestehenden Kontaktregelung) alternierend mit dem Vater von der Schule abzuholen und im Krisenzentrum eine gewisse Zeit zu betreuen (was jedenfalls bedeutet, dass sie nach wie vor weiter ihre Schule besuchten). Wenn zudem eine Vereinbarung alternierender Tagesausflüge der Kinder zu den Elternteilen gegen Ende der Maßnahme festgestellt wurde, spricht all dies dagegen, den Aufenthalt im Krisenzentrum als „Anhaltung“ (wie in der Revision behauptet) oder Freiheitsentzug nach Art 5 Abs 1 EMRK zu beurteilen. Behauptetes Sachsubstrat oder gar Feststellungen, die massive Einschränkungen auch nur wahrscheinlich erscheinen ließen, fehlen vielmehr. Mangels näherer Darlegung von konkreten „freiheitsentziehenden“ Umständen war eine Prüfung durch das Berufungsgericht auch nicht geboten.
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