OGH 10ObS66/20h

OGH10ObS66/20h24.11.2020

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Faber sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Martin Gleitsmann (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Werner Pletzenauer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei E*, vertreten durch Dr. Peter Vögel, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Österreichische Gesundheitskasse, 1030 Wien, Haidingergasse 1, wegen Wochengeld, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 5. Mai 2020, GZ 8 Rs 14/20 t‑16, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E130167

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Gegenstand des Verfahrens ist die Höhe des Wochengeldanspruchs der Klägerin ab dem 1. 6. 2018. Die Parteien vertreten unterschiedliche Rechtspositionen zum Zeitpunkt des Eintritts des Versicherungsfalls nach § 120 Z 3 ASVG und grenzen deshalb den für die Höhe des Wochengeldes relevanten Beobachtungszeitraum nach § 162 Abs 3 ASVG unterschiedlich ab. Die Klägerin begehrt die Zahlung eines über 57,18 EUR täglich hinausgehenden Wochengelds im gesetzlichen Ausmaß.

[2] Anlässlich der Schwangerschaft der Klägerin wurde der voraussichtliche Entbindungstermin mit dem 15. 8. 2018 errechnet. Am 23. 5. 2018 stellte der Facharzt für Frauenheilkunde der Klägerin dieser auf dem in der Mutterschutzverordnung (BGBl II 2017/310; aktuell: idF BGBl II 2019/83) dafür vorgesehenen Vordruck ein fachärztliches Zeugnis gemäß § 3 Abs 3 MSchG zur Vorlage beim Sozialversicherungsträger aus. Dieses ist mit 23. 5. 2018 datiert und vom Arzt unterschrieben. In der Folge erkundigte sich die Klägerin bei der Beklagten, ob es zutreffe, dass für den Beginn des „vorzeitigen Mutterschutzes“ der Zeitpunkt der Übermittlung des Freistellungszeugnisses maßgeblich sei. Sie erhielt die Auskunft, dass der Beginn der Schutzfrist auf dem Freistellungszeugnis festzuhalten sei. Die Klägerin verrichtete ihre Arbeit bis zum 31. 5. 2018 und suchte am 1. 6. 2018 neuerlich ihren Arzt auf. Dieser ergänzte das Freistellungszeugnis handschriftlich dahin, dass es ab dem 1. 6. 2018 gültig sein sollte. Die Ergänzung ist mit 1. 6. 2018 datiert und vom Arzt unterschrieben.

[3] Die Klägerin steht auf dem Standpunkt, der Versicherungsfall sei erst am 1. 6. 2018 eingetreten. Der Beobachtungszeitraum der letzten drei Kalendermonate vor dem Eintritt des Versicherungsfalls umfasse daher die Monate März, April und Mai 2018, woraus sich ein höherer täglicher Anspruch ergebe als von der Beklagten zugrunde gelegt.

[4] Die Beklagte hält dem entgegen, der Versicherungsfall sei bereits am 23. 5. 2018 eingetreten, sodass der Beobachtungszeitraum gemäß § 162 Abs 3 ASVG die Monate Februar, März und April 2018 umfasse.

[5] Das Berufungsgericht wies das Klagebegehren über Berufung der Beklagten ab und ließ die Revision mangels einer Rechtsfrage im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO nicht zu.

[6] Die außerordentliche Revision der Klägerin ist nicht zulässig.

Rechtliche Beurteilung

[7] 1. Die Klägerin macht geltend, das Berufungsgericht habe zu Unrecht die Entscheidung 10 ObS 194/91 (SSV‑NF 5/101) auf den vorliegenden Fall angewendet. Es schade nicht, wenn der Arzt den Beginn der Schutzfrist vor Vorlage der Urkunde an den Sozialversicherungsträger ändere. Hier halte die Urkunde eindeutig den 1. 6. 2018 als Beginn der Schutzfrist fest. Das Gericht dürfe das ärztliche Zeugnis nicht umdeuten, weil die Frage, wann eine Gefährdung von Mutter oder Kind eintrete, ausschließlich von einem Arzt zu beurteilen sei.

[8] 2.1. § 162 Abs 3 ASVG regelt die Höhe des Wochengeldes. Nach Satz 1 dieser Bestimmung gebührt das Wochengeld bei Versicherten, deren Arbeitsverdienst – wie bei der Klägerin – nach Kalendermonaten bemessen oder abgerechnet wird, in der Höhe des auf den Kalendertag entfallenden Teils des durchschnittlichen, in den letzten drei Kalendermonaten vor dem Eintritt des Versicherungsfalls der Mutterschaft gebührenden Arbeitsverdienstes, vermindert um die gesetzlichen Abzüge; die auf diesen Zeitraum entfallenden Sonderzahlungen sind nach Maßgabe des § 162 Abs 4 ASVG zu berücksichtigen.

[9] 2.2. Nach § 120 Z 3 ASVG gilt der Versicherungsfall der Mutterschaft mit dem Beginn der achten Woche vor der voraussichtlichen Entbindung als eingetreten, wenn die Entbindung aber vor diesem Zeitpunkt erfolgt, mit der Entbindung; ist der Tag der voraussichtlichen Entbindung nicht festgestellt worden, mit dem Beginn der achten Woche vor der Entbindung.

[10] Darüber hinaus gilt der Versicherungsfall der Mutterschaft bei Dienstnehmerinnen nach § 4 Abs 2 ASVG („echten“ Dienstnehmerinnen) in jenem Zeitpunkt und für jenen Zeitraum als eingetreten, in dem im Einzelfall aufgrund eines fachärztlichen, arbeitsinspektionsärztlichen oder amtsärztlichen Zeugnisses nachgewiesen wird, dass das Leben oder die Gesundheit von Mutter oder Kind bei Fortdauer der Beschäftigung oder Aufnahme einer Beschäftigung gefährdet wäre.

[11] Die näheren Bestimmungen über die Ausstellung, die Form und den Inhalt des Freistellungszeugnisses ist gemäß § 3 Abs 3 MSchG vom Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz durch Verordnung festzulegen (§ 3 Abs 3 Z 3 MSchG).

[12] 3.1. Das Berufungsgericht maß dem vom Arzt der Klägerin ausgestellten und ergänzten Zeugnis den Inhalt zu, dass die Gefährdung des Lebens oder der Gesundheit von Mutter oder Kind bei Fortdauer oder Aufnahme der Beschäftigung bereits für den Zeitraum ab dem 23. 5. 2018 vorgelegen sei.

[13] Die Revisionswerberin steht hingegen auf dem Standpunkt, aus der Urkunde ergebe sich eindeutig, dass die Gefährdung erst ab dem 1. 6. 2018, nicht schon davor, bestanden habe. Sie wendet sich damit gegen die vom Berufungsgericht vorgenommene Auslegung des ärztlichen Zeugnisses in seiner ergänzten Fassung.

[14] 3.2. Das nach der Mutterschutzverordnung ausgestellte ärztliche Zeugnis beinhaltet eine Wissenserklärung des Arztes über das Vorliegen einer Gefährdung. Auch Wissenserklärungen sind nach den Grundsätzen des § 914 ABGB auszulegen (Vonkilch in Fenyves/Kerschner/Vonkilch, Klang³ § 914 Rz 73; Heiss in Kletečka/Schauer, ABGB‑ON1.02 § 914 Rz 13), sodass auf den Wortsinn, die dem Erklärungsempfänger aus dem vorgelegten Zeugnis erkennbare Absicht des Erklärenden und die Übung des redlichen Verkehrs abzustellen ist (vgl RS0017915).

[15] Wie eine Erklärung im Einzelfall aufzufassen ist, ist jeweils nach den besonderen Umständen des Falls zu beurteilen (RS0042555 [T2]). Ob auch eine andere Auslegung vertretbar wäre, begründet daher in aller Regel keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinne des § 502 Abs 1 ZPO (RS0112106 [T2, T3, T4]; RS0042776 [T2]). Diese Grundsätze gelten auch für die Auslegung von Wissenserklärungen (2 Ob 48/17y).

[16] 3.3. Im vorliegenden Fall ergibt sich aus der Urkunde, dass der behandelnde Arzt am 23. 5. 2018 die Gefährdung im Sinne des § 3 Abs 3 MSchG bestätigte, ohne einen in der Zukunft liegenden Beginnzeitpunkt anzugeben. Es entspricht einem unbefangenen Verständnis einer solchen Bestätigung, dass damit das Bestehen der Gefährdung ab dem Ausstellungszeitpunkt (vgl Marat, Mutterschutzgesetz [2015] § 3 Rz 8), also dem 23. 5. 2018, dokumentiert werden sollte.

[17] Aus der Urkunde ergibt sich weiters, dass der behandelnde Arzt am 1. 6. 2018 seine Einschätzung durch den Vermerk ergänzte, dass das Zeugnis ab dem 1. 6. 2018 gelte. Eine ausdrückliche Stellungnahme des Inhalts, dass die am 23. 5. 2018 getätigte Eintragung unrichtig gewesen wäre, etwa, weil darin die damalige Einschätzung des behandelnden Arztes versehentlich nicht zutreffend wiedergegeben wäre, ist dem ergänzenden Vermerk nicht zu entnehmen.

[18] 3.4. Es begründet daher keine vom Obersten Gerichtshof aufzufassende Fehlbeurteilung, wenn das Berufungsgericht das ärztliche Zeugnis in der Form, wie es ihr vorgelegt wurde – also einschließlich der Ergänzung vom 1. 6. 2018 – dahin auffasste, dass der ausstellende Facharzt damit zum Ausdruck brachte, dass er am 23. 5. 2018 aus ärztlicher Sicht der Überzeugung war, dass eine Gefährdung im Sinne des § 3 Abs 3 MSchG bereits gegeben war.

[19] 3.5. Das Revisionsvorbringen, dass die Urkunde in eindeutiger Weise eine Gefährdung erst ab dem 1. 6. 2018 dokumentiere, lässt deren äußeres Erscheinungsbild gänzlich außer Acht. Selbst wenn man die von der Revisionswerberin angestrebte Auslegung ebenfalls als vertretbar ansehen wollte, würde dies nicht ausreichen, um eine erhebliche Rechtsfrage im Sinne des § 502 Abs 1 ZPO darzutun, weil die Auslegung des Berufungsgerichts mit den anerkannten Auslegungsgrundsätzen in Einklang steht.

[20] 3.6. In dem zu 10 ObS 194/91 (SSV‑NF 5/101) entschiedenen Fall hatte der behandelnde Facharzt zunächst einen bestimmten Tag (den 10. 8. 1988) als voraussichtlichen Geburtstermin angegeben, worauf die dort beklagte Gebietskrankenkasse der Klägerin für den Zeitraum beginnend acht Wochen vor der voraussichtlichen Entbindung (ab dem 15. 6. 1988) Wochengeld auszahlte. Am 1. 7. 1988 langte bei ihr eine Bestätigung desselben Arztes vom 29. 6. 1988 ein, die als voraussichtlichen Geburtstermin den 30. 8. 1988 angab. Der Oberste Gerichtshof sprach aus, dass dann, wenn zum Zeitpunkt der Ausstellung eines zweiten ärztlichen Zeugnisses der Versicherungsfall bereits eingetreten war, die Ausstellung des zweiten Zeugnisses daran nichts ändern könne.

[21] 3.7. Der Revisionswerberin ist zuzustimmen, dass sich der vorliegende Fall sich von dem zu 10 ObS 194/91 beurteilten Sachverhalt dadurch unterscheidet, dass hier dem Krankenversicherungsträger nicht zwei gesonderte ärztliche Zeugnisse zu unterschiedlichen Zeitpunkten übermittelt wurden, weil der Beklagten das ärztliche Zeugnis vom 23. 5. 2018 ohne die Ergänzung vom 1. 6. 2018 nicht vorgelegt wurde.

[22] Dieser Umstand ändert aber nichts daran, dass das Berufungsgericht der hier zu beurteilenden Urkunde aufgrund einer vertretbaren Auslegung entnommen hat, dass der behandelnde Facharzt bereits am 23. 5. 2018 eine Gefährdung im Sinne des § 3 Abs 3 MSchG als gegeben ansah.

[23] 3.8. Entgegen der Rechtsansicht der Revisionswerberin hat das Berufungsgericht die ärztliche Beurteilung auch nicht „umgedeutet“, sondern lediglich die ärztliche Bescheinigung in vertretbarer Weise ausgelegt.

[24] 3.9. Soweit die Revisionswerberin dem ärztlichen Zeugnis einen anderen inhaltlichen Gehalt zumisst als das Berufungsgericht, wird damit insgesamt keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinne des § 502 Abs 1 ZPO aufgezeigt.

[25] 3.10. Da die Auslegung einer Urkunde ein Akt der rechtlichen Beurteilung ist, liegt auch die in diesem Zusammenhang gerügte Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens nicht vor (§ 510 Abs 3 ZPO).

Stichworte