OGH 6Ob170/20y

OGH6Ob170/20y28.8.2020

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Schramm als Vorsitzenden und die Hofräte Hon.‑Prof. Dr. Gitschthaler, Univ.-Prof. Dr. Kodek, Dr. Nowotny sowie die Hofrätin Dr. Faber als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei V***** GmbH, *****, vertreten durch Dr. Bernd Illichmann und andere Rechtsanwälte in Salzburg, gegen die beklagte Partei S***** GmbH, *****, vertreten durch Mag. Stefan Hajos, Rechtsanwalt in Wien, wegen 33.162,45 EUR sA und Herausgabe, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Linz als Rekursgericht vom 16. Juli 2020, GZ 3 R 86/20t, 3 R 87/20i-14, mit dem der Rekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss vom 11. Mai 2020, ON 7, zurückgewiesen und der Beschluss vom 10. Juni 2020, ON 10, jeweils AZ 57 Cg 148/19x des Landesgerichts Salzburg, bestätigt wurden, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:0060OB00170.20Y.0828.000

 

Spruch:

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird gemäß § 526 Abs 2 Satz 1 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 528 Abs 1 ZPO zurückgewiesen (§ 528a iVm § 510 Abs 3 ZPO).

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

1. Der Beschluss des Erstgerichts ON 7, mit dem die Klage wegen örtlicher Unzuständigkeit zurückgewiesen wurde, wurde der rechtsfreundlichen Vertretung der Klägerin am 13. 5. 2020 zugestellt und erwuchs nach § 521 Abs 1 Satz 1 ZPO daher mit 27. 5. 2020 in Rechtskraft, weshalb das Rekursgericht den von der Klägerin gegen diesen Beschluss erst am 22. 6. 2020 erhobenen Rekurs frei von Rechtsirrtum zurückgewiesen hat. Die Überlegung der Klägerin in ihrem außerordentlichen Revisionsrekurs, „der [erstgerichtliche] Beschluss [sei] mit Nichtigkeit behaftet, welche nach herrschender Meinung in jeder Lage des Verfahrens aufzugreifen [sei] und daher auch nach dem Ablauf der Rechtsmittelfrist“, verkennt, dass Rechtssicherheit und Rechtskontinuität eine zeitliche und sachliche Begrenzung der Überprüfbarkeit gerichtlicher Entscheidungen erfordern, wofür die Rechtsmittelfristen und der Eintritt der formellen Rechtskraft sorgen. Nach diesem Zeitpunkt soll die Rechtslage, die durch die Entscheidung über den mit einer Klage oder einem anderen Sachantrag erhobenen Gegenstand des Verfahrens und über die Einwendungen des Prozessgegners geschaffen wird, endgültig und maßgeblich sein. Die Entscheidung (und das ihr zugrunde liegende Verfahren) sollen keiner weiteren Überprüfung mehr zugänglich sein. Inhaltliche und formelle Fehler „heilen“ mit dem Eintritt der Rechtskraft; Angriffe sind präkludiert (vgl bloß Jelinek in Fasching/Konecny IV/1³ [2019] Vor §§ 529 ff ZPO Rz 1). In diesem Sinn betont auch Lovrek (in Fasching/Konecny IV/1³ § 503 ZPO Rz 23 mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung), dass selbst absolute Nichtigkeiten wie etwa Verstöße gegen § 477 Abs 1 Z 4 ZPO nicht mehr wahrnehmbar seien, wenn die Entscheidung (oder Teile von ihr) bereits in Rechtskraft erwachsen sind.

2. Die Vorinstanzen haben übereinstimmend den Antrag der Klägerin auf Überweisung der Klage an das nicht offenbar unzuständige Landesgericht Korneuburg und einen vorbereitenden Schriftsatz der Klägerin zurückgewiesen. Das Rekursgericht hat darüber hinaus ausgeführt, dass der Revisionsrekurs gemäß § 528 Abs 2 Z 2 ZPO jedenfalls unzulässig sei.

2.1. Nach § 528 Abs 2 Z 2 ZPO ist der Revisionsrekurs jedenfalls unzulässig, wenn der angefochtene erstrichterliche Beschluss zur Gänze bestätigt worden ist, es sei denn dass die Klage ohne Sachentscheidung aus formellen Gründen zurückgewiesen worden ist. In einem solchen Fall ist der bestätigende Beschluss des Rekursgerichts unter den Voraussetzungen des § 528 Abs 1 ZPO (Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung) anfechtbar (A. Kodek in Rechberger/Klicka, ZPO5 [2019] § 528 Rz 19; vgl auch Musger in Fasching/Konecny IV/1³ § 528 ZPO Rz 53).

2.2. Es entspricht herrschender Rechtsprechung (4 Ob 118/98a unter Hinweis auf RS0044487) und Literatur (A. Kodek aaO Rz 20 ff; Musger aaO Rz 59 – beide mit zahlreichen Beispielsfällen), dass einer Klagezurückweisung aus formellen Gründen Entscheidungen gleichzuhalten sind, mit denen ein prozessualer Rechtsschutzanspruch des Klägers, eine Sachentscheidung über das Klagebegehren zu erlangen, endgültig verneint wird. Dies gilt unter anderem für Beschlüsse, mit denen die Fortsetzung des gesetzmäßigen Verfahrens über die Klage verweigert wird (RS0105321 [T18, T19]), und zwar jedenfalls dann, wenn der Fortsetzungsantrag nach Vorliegen einer verfahrensbeendenden Entscheidung oder eines Vergleichs gestellt wurde (vgl 6 Ob 2022/96p; aus jüngerer Zeit etwa 8 Ob 9/15d; 2 Ob 78/16h EvBl 2017/12 [Klicka]), die Fortsetzung somit im konkreten Verfahren (Musger aaO § 528 ZPO Rz 59; ebenso 7 Ob 223/06d [„bereits anhängiges Verfahren“]) und endgültig verweigert wird (dazu Musger aaO § 519 ZPO Rz 59).

2.3. Mit diesen Konstellationen ist die hier gegebene verfahrensrechtliche Situation vergleichbar:

Mit Beschluss ON 7 wies das Erstgericht die Klage wegen örtlicher Unzuständigkeit zurück; es handelte sich somit um eine verfahrensbeendende Entscheidung. Innerhalb der von § 230a ZPO stipulierten Frist von 14 Tagen beantragte die Klägerin daraufhin die Überweisung der Klage an das nicht offenbar unzuständige Landesgericht Korneuburg, welchen Antrag die Vorinstanzen übereinstimmend zurückwiesen. Damit wurde aber der Klägerin die Fortsetzung dieses konkreten Verfahren endgültig verweigert; dass die Klägerin ihre Ansprüche jederzeit vor dem örtlich tatsächlich zuständigen Gericht neuerlich geltend machen könnte, steht dem nicht entgegen, machte eine solche Argumentation doch letztlich § 528 Abs 2 Z 2 letzter Halbsatz ZPO bei sachlicher oder örtlicher Unzuständigkeit regelmäßig obsolet (idS offensichtlich auch Musger aaO § 528 ZPO Rz 59). Lediglich der Vollständigkeit halber sei im Übrigen darauf hingewiesen, dass der (grundsätzliche) Rechtsmittelausschluss des § 230a ZPO nicht den Fall erfasst, dass der Überweisungsantrag ab- bzw zurückgewiesen wurde (Rechberger/Klicka in Rechberger/Klicka, ZPO5 § 230a Rz 3; OLG Linz 4 R 6/18g).

Der außerordentliche Revisionsrekurs der Klägerin gegen den Beschluss ON 10 ist daher nicht jedenfalls unzulässig, sondern es ist vielmehr zu prüfen, ob die Entscheidung von der Lösung einer Rechtsfrage in der von § 528 Abs 1 ZPO geforderten Qualität vorliegt. Dies ist allerdings zu verneinen:

2.4. Die Vorinstanzen begründeten die Zurückweisung des Überweisungsantrags nach § 230a ZPO damit, dass eine solche nur dann zulässig sei, wenn die (hier: örtliche) Unzuständigkeit des angerufenen Gerichts ausgesprochen und die Klage zurückgewiesen werden, ohne dass der Kläger Gelegenheit gehabt hätte, einen Überweisungsantrag nach § 261 Abs 6 ZPO zu stellen. Eine solche habe die Klägerin hier über einen Zeitraum von nahezu vier Monaten gehabt, sie jedoch nicht genutzt. Der außerordentliche Revisionsrekurs hält dem entgegen, das Erstgericht habe zunächst eine Verhandlung zum Einwand der Beklagten zur örtlichen Unzuständigkeit und zur Durchführung von Einvernahmen hiezu anberaumt, diese Verhandlung dann aber abberaumt und als „Gründe für die Verlegung“ die Corona-Pandemie angeführt. Auch wenn das Erstgericht der rechtsfreundlichen Vertretung der Klägerin in diesem Zusammenhang aufgetragen habe, binnen sieben Tagen die behauptete Gerichtsstandsvereinbarung vorzulegen (was die Klägerin unterließ), habe sie nicht damit rechnen können und müssen, dass das Erstgericht seine Entscheidung, eine mündliche Verhandlung anzuberaumen, tatsächlich geändert habe bzw habe ändern wollen; die Klägerin habe auch nicht auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet. Die erhebliche Rechtsfrage iSd § 528 Abs 1 ZPO sieht der außerordentliche Revisionsrekurs im Fehlen einer Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur „Frage der Reichweite des Vertrauens der Parteien in prozessleitende Verfügungen des Gerichts“ bei einer verfahrensrechtlichen Konstellation wie der hier vorliegenden.

2.4.1.  P. Mayr (in Fasching/Konecny III/1³ [2017] § 230a ZPO Rz 5) vertritt die Auffassung, keine Gelegenheit zur Stellung eines Überweisungsantrags nach § 261 Abs 6 ZPO habe der Kläger insbesondere bei einer Zurückweisung der Klage a limine litis oder wenn die Klage ohne mündliche Verhandlung zurückgewiesen wurde; ein Überweisungsantrag sei aber auch dann zulässig, wenn dem Kläger entgegen § 182 Abs 2 ZPO in der mündlichen Verhandlung keine Gelegenheit zur Stellung eines Überweisungsantrags nach § 261 Abs 6 ZPO gegeben worden sei.

2.4.2. Dem vermag sich der erkennende Senat allerdings nicht anzuschließen, hat doch zum einen der Gesetzgeber die früher zwingend erforderliche mündliche Verhandlung mit der Novelle BGBl I 2015/94 durch eine flexiblere Regelung ersetzt (eine mündliche Verhandlung ist nur mehr durchzuführen, wenn das Gericht sie im Einzelfall für erforderlich hält [IA 1210/A 25. GP  2]), indem die Abhaltung einer mündlichen Verhandlung in das pflichtgemäße Ermessen des Gerichts gestellt wurde (G. Kodek in Fasching/Konecny III/1³ § 261 ZPO Rz 13). Und zum anderen ist das Gericht nicht verpflichtet, den anwaltlich vertretenen Kläger zur Stellung eines Überweisungsantrags nach § 261 Abs 6 ZPO anzuleiten (1 Ob 617/94), und zwar jedenfalls dann nicht, wenn die Verhandlung ausdrücklich auf die Frage der Zuständigkeit eingeschränkt wurde (8 Ob 74/01t), wobei im Fall der Entscheidung 3 Ob 164/00i nicht einmal eine Einschränkung auf die Frage der Zuständigkeit erfolgt war; es wurde bereits in der Tatsache, dass die Unzuständigkeitseinrede Gegenstand der Verhandlung war, eine ausreichende Gelegenheit gesehen, einen Überweisungsantrag zu stellen. Die Entscheidungen 9 Ob 64/01d und 8 Ob 74/01t betonten in diesem Zusammenhang, dass die Kenntnis der grundlegenden Norm des § 261 Abs 6 ZPO jedem Rechtsanwalt unterstellt werden könne.

2.4.3. Geht man von diesen Grundsätzen der Rechtsprechung aus und berücksichtigt man die durch die Novelle BGBl I 2015/94 erfolgte Änderung, ist die Auffassung des Rekursgerichts, die Klägerin hätte bereits ab Zustellung der Klagebeantwortung, in welcher die Beklagte ausdrücklich die Einrede der örtlichen Unzuständigkeit unter Bestreitung des Abschlusses der von der Klägerin behaupteten Gerichtsstandsvereinbarung erhoben hatte, die Gelegenheit gehabt, mittels Schriftsatzes (G. Kodek aaO Rz 114) einen Überweisungsantrag nach § 261 Abs 6 ZPO zu stellen, jedenfalls vertretbar. Darauf, dass das Erstgericht über die Unzuständigkeitseinrede tatsächlich mündlich verhandeln werde, konnte sich die Klägerin zumindest ab dem Zeitpunkt der Abberaumung (!) der ursprünglich anberaumten Tagsatzung nicht mehr verlassen, hatte doch das Erstgericht ausdrücklich den Auftrag erteilt, binnen sieben Tagen die behauptete Gerichtsstandsvereinbarung vorzulegen. Da die Klägerin diesem Auftrag nicht nachkam, hätte ihr klar sein müssen, dass es der Einvernahme des von der Beklagten zum Beweis für das Nichtvorliegen einer Gerichtsstandsvereinbarung nahmhaft gemachten Zeugen gar nicht mehr bedurfte.

2.4.4. Darüber hinaus nannte das Erstgericht als Grund für die Abberaumung der Tagsatzung vom 26. 3. 2020 – diese Tagsatzung hätte somit wenige Tage nach dem „Lockdown“ aufgrund der Corona-Pandemie stattfinden sollen – ausdrücklich diese Pandemie. Nach Auffassung des Gesetzgebers (IA 397/A 27. GP  35) stellten – jedenfalls damals – mündliche Verhandlungen und Anhörungen potentielle Infektions- bzw Übertragungsgefahren dar, die tunlichst zu vermeiden waren; sie sollten daher für den Zeitraum der generellen Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 nur in Fällen abgehalten werden, in denen dies zur Aufrechterhaltung einer geordneten Rechtspflege unbedingt erforderlich war. Solche durften nur stattfinden, wenn nach sorgfältiger Abwägung aller Umstände die Fortsetzung des Verfahrens zur Abwendung einer Gefahr für Leib und Leben, Sicherheit und Freiheit oder zur Abwehr eines erheblichen und unwiederbringlichen Schadens einer Verfahrenspartei dringend geboten war und nicht das Interesse der Allgemeinheit an der Verhütung und Bekämpfung der Verbreitung von COVID-19 sowie der Schutz der Aufrechterhaltung eines geordneten Gerichtsbetriebs die Einzelinteressen überwogen (Garber/Neumayr, Zivilverfahren in der Krise: COVID-19 und die Auswirkungen auf zivilgerichtliche Verfahren, in Resch, Corona-HB1.01 [Stand 15. 5. 2020, rdb.at] Rz 56). Dass eine derartige Abwägung in einer Situation, in der die insoweit beweispflichtige (RS0122413) Klägerin nicht einmal in der Lage gewesen ist, die von ihr behauptete Gerichtsstandsvereinbarung mit Schriftsatz vorzulegen, nicht im Sinn einer (neuerlichen) Anberaumung und Durchführung einer mündlichen Verhandlung erfolgen würde und konnte (die Klägerin hatte für ihre Behauptung einer Gerichtsstandsvereinbarung überhaupt keine Beweise angeboten), musste aber der anwaltlich vertretenen Klägerin klar sein.

Vor diesem Hintergrund gehen dann aber auch die Überlegungen der Klägerin, es sei in ihr „verfassungsgerichtlich gewährleistete[s] Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung“ eingegriffen und ihr rechtliches Gehör verletzt worden, ins Leere.

2.5. Damit war aber der außerordentliche Revisionsrekurs der Klägerin auch insoweit zurückzuweisen, als das Rekursgericht den erstgerichtlichen Beschluss ON 10 bestätigt hat.

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