OGH 13Os40/20m

OGH13Os40/20m14.5.2020

Der Oberste Gerichtshof hat am 14. Mai 2020 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Prof. Dr. Lässig als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer, Mag. Michel, Dr. Oberressl und Dr. Brenner in der Strafsache gegen Ivica G* wegen des Vergehens des Betrugs nach § 146 StGB, AZ 3 U 5/19a des Bezirksgerichts Reutte, über den Antrag der Generalprokuratur auf außerordentliche Wiederaufnahme des Strafverfahrens nichtöffentlich (§ 62 Abs 1 zweiter Satz OGH-Geo 2019) den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:E129886

 

Spruch:

Der Antrag wird abgewiesen.

 

Gründe:

Die Staatsanwaltschaft Innsbruck legte Ivica G* mit Strafantrag vom 10. Jänner 2019 ein dem Vergehen des Betrugs nach § 146 StGB subsumiertes Verhalten zur Last (ON 3).

Zu diesem Vorwurf war der Genannte im Ermittlungsverfahren von der Kriminalpolizei im Sinn des § 164 StPO förmlich als Beschuldigter vernommen worden (ON 2 S 21 ff).

Das Bezirksgericht Reutte beraumte die Hauptverhandlung für den 5. Februar 2019 an und verfügte dabei die Zustellung der Ladung des Angeklagten an dessen – zu diesem Zeitpunkt – aktenkundigen Hauptwohnsitz in H* (ON 4 S 1, vgl ON 2 S 7). Diese Ladung wurde laut Hinterlegungsmitteilung (ON 4 S 3) am zuständigen Postamt zur Abholung ab 1. Februar 2019 hinterlegt, jedoch nicht behoben und am 19. Februar 2019 an das Bezirksgericht Reutte retourniert.

Zur Hauptverhandlung am 5. Februar 2019 erschien Ivica G* unentschuldigt nicht. Der Richter stellte daraufhin fest, dass die Zustellung der Ladung durch Hinterlegung ausgewiesen sei und verkündete den Beschluss auf Durchführung der Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten (ON 6 S 2). Mit am selben Tag verkündetem Abwesenheitsurteil wurde dieser des Vergehens des Betrugs nach § 146 StGB schuldig erkannt und hiefür nach dieser Gesetzesstelle zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt. Gemäß § 494a Abs 1 Z 2 StPO wurde zugleich beschlussförmig vom Widerruf der Ivica G* zu AZ 38 BE 20/17d des Landesgerichts Innsbruck gewährten bedingten Entlassung und der zu AZ 26 Hv 44/17z des Landesgerichts Innsbruck gewährten bedingten Strafnachsicht abgesehen (ON 6 S 5, ON 7).

Das Abwesenheitsurteil samt Rechtsbelehrung sowie das Hauptverhandlungsprotokoll wurden dem Angeklagten am 26. März 2019 – abermals an die Adresse in H* – zuzustellen verfügt (ON 7 S 4). Auch diese Sendung wurde – nach gescheitertem Versuch persönlicher Zustellung – zunächst am Postamt zur Abholung hinterlegt und am 24. April 2019 unbehoben an das Bezirksgericht Reutte retourniert.

In der Endverfügung wurde der Eintritt der Rechtskraft des Urteils mit 24. April 2019 festgehalten; unter einem erging – erneut an die bereits erwähnte Adresse – die ebenso zunächst hinterlegte und schließlich unbehoben retournierte Aufforderung zum Strafantritt (ON 8).

Infolge Nichtantritt der Freiheitsstrafe (ON 9) durchgeführte Erhebungen ergaben, dass der Angeklagte seit 30. Jänner 2019 nicht mehr an der betreffenden Adresse gemeldet ist (ON 10 S 3). Aus (zu den Verfahren AZ 38 BE 20/17d und AZ 25 Hv 79/19t jeweils des Landesgerichts Innsbruck erstatteten) Berichten des Vereins Neustart vom 24. Februar 2019, vom 29. Juli 2019 und vom 23. September 2019 (ON 18 S 3 ff) im Zusammenhalt mit dem zu AZ 25 Hv 79/19t des Landesgerichts Innsbruck eingebrachten Schriftsatz seines (in jenem Verfahren) Verteidigers vom 3. Februar 2020 (ON 18 S 9 f) geht hervor, dass er dort ab Ende Jänner 2019 keine Wohnung oder Unterkunft mehr hatte.

Rechtliche Beurteilung

Die Generalprokuratur beantragt nun im außerordentlichen Weg die Wiederaufnahme des Verfahrens, weil erhebliche Bedenken gegen die Richtigkeit der dem Abwesenheitsurteil des Bezirksgerichts Reutte zugrunde gelegten Tatsachenannahmen bestünden, wonach dem Angeklagten die Ladung zur Hauptverhandlung (wirksam) durch Hinterlegung zugestellt worden sei (und somit die Voraussetzungen für eine Verhandlung und Urteilsfällung in dessen Abwesenheit vorgelegen seien), ohne dass dem Gericht ein Rechtsfehler anzulasten wäre. Die so entstandene Benachteiligung des Angeklagten sei – weil sie auf anderem Weg nicht behoben werden könne – durch analoge Anwendung der Bestimmungen über die außerordentliche Wiederaufnahme nach § 362 Abs 1 Z 2 StPO zu sanieren.

Der Oberste Gerichtshof hat erwogen:

Gemäß § 427 Abs 1 StPO darf die Hauptverhandlung bei sonstiger Nichtigkeit nur dann in Abwesenheit des nicht erschienenen Angeklagten durchgeführt und das Urteil gefällt werden, wenn es sich um ein Vergehen handelt, der Angeklagte gemäß § 164 StPO oder § 165 StPO zum Anklagevorwurf vernommen und ihm die Ladung zur Hauptverhandlung persönlich zugestellt wurde.

Die von § 83 Abs 4 zweiter Satz StPO verlangte eigenhändige Zustellung der Ladung des Angeklagten zur Hauptverhandlung (Fabrizy, StPO13 § 83 Rz 3) kann auch durch Hinterlegung erfolgen (RIS‑Justiz RS0120038). Dies allerdings – wie die Generalprokuratur zutreffend ausführt – nur, wenn der Zusteller Grund zur Annahme hat, dass sich der Empfänger regelmäßig an der Abgabestelle aufhält (§ 17 Abs 1 ZustG). Ergibt sich, dass der Empfänger wegen Abwesenheit von der Abgabestelle nicht rechtzeitig vom Zustellvorgang Kenntnis erlangen konnte, gelten hinterlegte Dokumente nicht als zugestellt (§ 17 Abs 3 ZustG; 14 Os 118/18m). An einem Ort, der keine Abgabestelle (§ 2 Z 4 ZustG) ist, hinwieder kommt Zustellung gemäß § 17 ZustG von vornherein nicht in Betracht (Stumvoll in Fasching/Konecny 3 II/2 § 17 ZustG Rz 17).

Ebendies aber gilt auch für die – den Lauf der Frist zur Erhebung eines Einspruchs (erst) auslösende (hier § 478 Abs 1 StPO) – Zustellung des Abwesenheitsurteils an den Angeklagten (§ 83 Abs 4 zweiter Satz StPO; vgl Ratz, WK‑StPO § 478 Rz 2 f; RIS‑Justiz RS0114633).

Die unmittelbare Anwendung der – gegenüber der ordentlichen Wiederaufnahme subsidiären (RIS‑Justiz RS0101117; Ratz, WK‑StPO § 362 Rz 2) – außerordentlichen Wiederaufnahme nach § 362 Abs 1 Z 2 StPO ist auf die „dem Urteil zugrunde gelegten Tatsachen“ (zum Begriff Ratz, WK‑StPO § 362 Rz 4 und § 281 Rz 474 ff), also auf die Sachverhaltsbasis der (urteilsförmigen) Entscheidung in der Schuldfrage, beschränkt. Zwar trifft es zu, dass diese Bestimmung analog auf Entscheidungen (Urteile oder Beschlüsse) angewendet wird, die auf einer in tatsächlicher Hinsicht objektiv falschen Verfahrensgrundlage ergangen sind, ohne dass dem Gericht ein Rechtsfehler (Verfahrens- oder Begründungsmangel) unterlaufen wäre. Nach Rechtsprechung (RIS‑Justiz RS0117312 [T3], RS0117416 [T4]) und Lehre (Ratz, WK‑StPO § 292 Rz 16; Fabrizy, StPO13 § 362 Rz 3) findet dies jedoch nur in Bezug auf „letztinstanzliche“ Entscheidungen statt, setzt also deren Rechtskraft voraus (15 Os 111/16m, EvBl 2017/34, 234 [mit Hinweis von Ratz]; 17 Os 22/17i, RIS‑Justiz RS0131086).

Auch erstinstanzliche Abwesenheitsurteile (zur Abhängigkeit zugleich damit ergangener Beschlüsse gemäß § 494a StPO vom Strafausspruch Jerabek, WK‑StPO § 498 Rz 8), die (rechtsfehlerfrei, aber) nach objektiv unterbliebener persönlicher Ladung des Angeklagten zur Hauptverhandlung gefällt wurden, hat der Oberste Gerichtshof just dann als einem (analog § 362 Abs 1 Z 2 StPO gestellten) Antrag auf außerordentliche Wiederaufnahme zugänglich angesehen, wenn die Benachteiligung auf anderem Weg nicht zu beseitigen war (12 Os 136/15i, 14 Os 118/18m). Letzteres liegt jedenfalls nicht vor, wenn der Umstand, dass die Entscheidung auf objektiv falscher Verfahrensgrundlage ergangen ist, noch mit Einspruch (§ 427 Abs 3 StPO, § 478 Abs 1 StPO, § 489 Abs 1 StPO) geltend gemacht werden kann (klar auf Rechtskraft des Abwesenheitsurteils abstellend 15 Os 111/19s; zum Verhältnis von Einspruchsgründen zu Verfahrensmängeln, die [im einzelrichterlichen Verfahren] mit Berufung wegen vorliegender Nichtigkeitsgründe, von der Generalprokuratur auch nach § 23 StPO releviert werden können, siehe Bauer, WK‑StPO § 427 Rz 20; zur Abgrenzung des Gegenstands von Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes und außerordentlicher Wiederaufnahme Ratz, WK‑StPO § 292 Rz 7 f).

Nach dem (eingangs referierten) Aktenstand war mit Ende Jänner 2019 die Eigenschaft der Adresse in H* – wohin die fraglichen Zustellungen verfügt wurden – als Abgabestelle (§ 2 Z 4 ZustG) des Angeklagten verloren gegangen. Demzufolge wurde ihm (nicht nur seine Ladung zur Hauptverhandlung, sondern auch) das Abwesenheitsurteil nicht zugestellt (die Annahme von Heilung des Zustellmangels nach § 7 ZustG scheidet schon mit Blick auf die Retournierung als „nicht behoben“ aus). Nach Lage der Akten wurde der Angeklagte vom Urteil (bei dessen Verkündung er nicht anwesend war) auch sonst nicht „verständigt“ (§ 466 Abs 2 StPO; zur mündlichen Eröffnung Danek, WK‑StPO § 269 Rz 4; zur Unwirksamkeit eines [vom Angeklagten hier ebenso wenig erklärten] Rechtsmittelverzichts eines Beteiligten, bevor das verkündete Urteil diesem gegenüber wirksam wird, siehe Ratz, WK‑StPO § 284 Rz 6).

Hievon ausgehend ist das Urteil – entgegen der Endverfügung des Bezirksgerichts Reutte (ON 8 S 1: „Urteil rechtskräftig am 24. 04. 19“) – bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht in Rechtskraft erwachsen (vgl Lässig, WK‑StPO § 398 Rz 2). Vielmehr kann der Angeklagte (weiterhin) sowohl Berufung (§ 466 Abs 2 StPO) als auch – binnen 14 Tagen nach (wirksamer) Zustellung des Urteils – Einspruch (§ 478 Abs 1 StPO) erheben, welcher Rechtsbehelf es ihm ermöglicht, die (wenn auch rechtsfehlerfreie) Durchführung der Hauptverhandlung und Fällung des Urteils in seiner Abwesenheit trotz (objektiven) Mangels an ordnungsgemäßer Ladung zu relevieren (dazu erneut Bauer, WK‑StPO § 427 Rz 20).

Der Antrag war daher abzuweisen.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte