OGH 12Os136/15i

OGH12Os136/15i17.12.2015

Der Oberste Gerichtshof hat am 17. Dezember 2015 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Schroll als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. T. Solé, Dr. Oshidari, Dr. Michel‑Kwapinski und Dr. Brenner in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Weißnar als Schriftführerin in der Strafsache gegen Renato G***** wegen des Vergehens des Diebstahls nach §§ 15 Abs 1, 127 StGB und einer weiteren strafbaren Handlung, AZ 16 U 51/09y des Bezirksgerichts Wels, über den auf das Urteil dieses Gerichts vom 20. Juli 2009, GZ 15 U 51/09y‑13, bezogenen Antrag der Generalprokuratur auf außerordentliche Wiederaufnahme des Strafverfahrens in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2015:0120OS00136.15I.1217.000

 

Spruch:

In Stattgebung des Antrags der Generalprokuratur wird im außerordentlichen Weg die Wiederaufnahme des Verfahrens wegen des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs 1 Z 1 erster und zweiter Fall, Abs 2 SMG verfügt, das Urteil des Bezirksgerichts Wels vom 20. Juli 2009, das im Übrigen unberührt bleibt, im Schuld‑ und Strafausspruch sowie im Ausspruch zu den Verfahrenskosten aufgehoben und die Sache in diesem Umfang zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Bezirksgericht Wels verwiesen.

Gründe:

Mit Strafantrag vom 3. Februar 2009 legte die Staatsanwaltschaft Wels Renato G***** im Verfahren AZ 16 U 51/09y des Bezirksgerichts Wels das Vergehen des Diebstahls nach §§ 15 Abs 1, 127 StGB zur Last, weil er am 19. Jänner 2009 in W***** versucht habe, Verfügungsberechtigten des Unternehmens I***** eine Jacke im Wert von 199,99 Euro wegzunehmen (ON 3).

Da der Angeklagte der Hauptverhandlung vom 7. April 2009 trotz ausgewiesener, am 23. Februar 2009 eigenhändig an die Adresse *****, zugestellter Ladung (unjournalisiert im Akt) fernblieb, wurde sie zu dessen neuerlicher Ladung sowie jener des Bewährungshelfers vertagt (ON 4). Noch am selben Tag beraumte sie der Bezirksrichter unter Verfügung der entsprechenden Ladungen für den 15. Juni 2009 an (ON 1 S 1b).

Mit Beschluss vom 22. Mai 2009 bezog das Bezirksgericht Wels das gegen den Genannten wegen des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs 1 Z 1 erster und zweiter Fall, Abs 2 SMG geführte Verfahren AZ 26 BAZ 110/09m der Staatsanwaltschaft Wels in dieses Verfahren gemäß § 27 StPO ein und verfügte die Zustellung des darin am 14. Mai 2009 erhobenen Strafantrags an den Beschuldigten (ON 1 S 1c; ON 6 in ON 6). Ein Vorgehen nach § 35 SMG unterblieb im einbezogenen Verfahren, weil der Beschuldigte der hiefür erforderlichen Untersuchung am 29. April 2009 trotz eines Ladungsbescheids unentschuldigt fernblieb (ON 4 in ON 6).

Zur Hauptverhandlung am 15. Juni 2009 erschien Renato G***** trotz ausgewiesener Zustellung der Ladung durch Hinterlegung am 5. Mai 2009 nicht. Die Vertreterin des Vereins Neustart berichtete, dass zum Genannten kein Kontakt bestehe und sie nicht wisse, wo dieser derzeit aufhältig sei (ON 8 S 2). Weiters verlas das Gericht einen vom Verein Neustart erstellten schriftlichen Bericht, wonach sich Renato G***** zumindest bis März 2009 in der väterlichen Wohnung in *****, aufgehalten, sich im April [2009] aber aus Kroatien mit dem Hinweis gemeldet habe, dass er bei seiner dort lebenden Mutter seinen Entzug durchführe. Obwohl im Zuge dieses Gesprächs seine Rückkehr nach Österreich für nach Ostern vereinbart worden sei, habe seither kein Kontakt mehr hergestellt werden können; auch seien im Postfach seiner Wohnung hinterlassene Nachrichten unbeantwortet geblieben (ON 7 und ON 8 S 2). Die Hauptverhandlung wurde daraufhin mit der Begründung auf unbestimmte Zeit vertagt, dass die hinterlegte Ladung nicht behoben worden sei und die Rechtswirksamkeit der durch Hinterlegung erfolgten Zustellung der Ladung des Genannten zur Hauptverhandlung bzw dessen Ortsanwesenheit zum Zeitpunkt der Hinterlegung nicht festgestellt werden könne (ON 8 S 2 f).

Die vom Bezirksgericht Wels am 17. Juni 2009 veranlasste Anfrage an das zentrale Melderegister (ON 1 S 1d) ergab eine seit 13. November 2006 aufrecht bestehende Meldung an der bereits bekannten Adresse ***** (ON 9). Hierauf beraumte der Bezirksrichter am 1. Juli 2009 eine weitere Hauptverhandlung für den 20. Juli 2009 an und verfügte die Ladung des Angeklagten an dieser Adresse unter erneutem Anschluss des Strafantrags vom 14. Mai 2009 (ON 1 S 1e; ON 6 in ON 6).

Im Vorfeld der Verhandlung berichtete der Verein Neustart am 17. Juli 2009 schriftlich, dass zum Angeklagten kein weiterer persönlicher Kontakt hergestellt werden konnte. Dieser habe zwar in einem Telefonat mitgeteilt, „wieder bei einer Montagefirma zu arbeiten“, sei aber zum vereinbarten Treffen nicht erschienen und in weiterer Folge auch über Verwandte nicht mehr erreichbar gewesen (ON 11).

Auch zur Hauptverhandlung vom 20. Juli 2009 erschien Renato G***** nicht. Nachdem das Bezirksgericht Wels die Zustellung der Ladung des Genannten durch Hinterlegung am 6. Juli 2009 festgestellt hatte, verkündete es den Beschluss auf Durchführung der Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten (ON 12 S 2).

Nach Durchführung des Beweisverfahrens sprach das Bezirksgericht Wels Renato G***** ‑ zwar ohne die gemäß § 271 Abs 1 Z 7 StPO gebotene Anführung des Spruchs des Urteils in Bezug auf die Bezeichnung der dem Schuldspruch zugrunde liegenden Tat (§ 260 Abs 1 Z 1 StPO) im Hauptverhandlungsprotokoll, nach dem Kontext jedoch erkennbar ‑ wegen des am 19. Jänner 2009 in S***** erfolgten Ankaufs und Besitzes von einem Gramm Heroin des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs 1 Z 1 erster und zweiter Fall (Abs 2) SMG schuldig, verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von zwei Monaten und sprach weiters aus, dass der Genannte gemäß § 389 StPO die Kosten des Strafverfahrens zu ersetzen habe. Vom Vorwurf, am 19. Jänner 2009 in W***** versucht zu haben, Verfügungsberechtigten des Unternehmens I***** eine Jacke im Wert von 199,99 Euro wegzunehmen, wurde der Genannte gemäß § 259 Z 3 StPO freigesprochen (ON 12 f).

Die hinterlegte, vom Angeklagten nicht behobene Ladung zu diesem Hauptverhandlungstermin wurde dem Bezirksgericht Wels am 29. Juli 2009 retourniert (unjournalisiert im Akt).

Das Urteil wurde dem Angeklagten am 4. August 2009 durch Hinterlegung an die erwähnte Adresse in *****, zugestellt, wobei Renato G***** die hinterlegte Sendung letztlich nicht behob; eine Zustellung des Protokolls der Hauptverhandlung unterblieb (ON 13 S 8 Anhang).

Mit Schreiben vom 11. September 2009 ersuchte der Verein Neustart im Verfahren AZ 3 U 54/07p des Bezirksgerichts Lambach um Aufhebung der Bewährungshilfe mit der Begründung, Renato G***** befinde sich laut telefonischer Mitteilung bereits seit Juli (2009) wieder in Kroatien, wolle dort auf Dauer bleiben und habe laut Meldeauskunft seinen Wohnsitz bereits aufgegeben. Dieses Schreiben gelangte dem Bezirksgericht Wels am 14. September 2009 zur Kenntnis (ON 17).

Am selben Tag hielt das genannte Gericht im Rahmen der Endverfügung fest, dass das Urteil vom 20. Juli 2009 seit 8. August 2009 rechtskräftig sei (ON 18).

Eine erneute Meldeanfrage vom 19. Oktober 2009 ergab, dass Renato G***** bis 28. August 2009 an der bereits erwähnten Adresse aufrecht gemeldet war (ON 21).

Rechtliche Beurteilung

Wie die Generalprokuratur in ihrem gemäß § 362 Abs 1 Z 2 StPO gestellten Antrag zutreffend aufzeigt, ergeben sich erhebliche Bedenken gegen die Richtigkeit der dem Beschluss auf Durchführung der Hauptverhandlung und der Fällung des Urteils in Abwesenheit des Angeklagten Renato G***** zugrunde liegenden Annahme, dass dieser während der Hinterlegung seiner Ladung zur Hauptverhandlung am 20. Juli 2009 an der Zustelladresse in *****, ortsanwesend gewesen sei.

Gemäß § 427 Abs 1 StPO darf die Hauptverhandlung bei sonstiger Nichtigkeit nur dann in Abwesenheit des nicht erschienenen Angeklagten durchgeführt und das Urteil gefällt werden, wenn es sich um ein Vergehen handelt, der Angeklagte gemäß §§ 164 oder 165 StPO zum Anklagevorwurf vernommen wurde und ihm die Ladung zur Hauptverhandlung persönlich zugestellt wurde.

Die von § 83 Abs 4 zweiter Satz StPO verlangte eigenhändige Zustellung der Ladung des Angeklagten zur Hauptverhandlung (Fabrizy, StPO12 § 83 Rz 3) kann auch durch Hinterlegung erfolgen (RIS‑Justiz RS0120038); dies allerdings nur, wenn der Zusteller Grund zur Annahme hat, dass sich der Empfänger regelmäßig an der Abgabestelle aufhält (§ 17 Abs 1 ZustellG). Ergibt sich, dass der Empfänger wegen Abwesenheit von der Abgabestelle nicht rechtzeitig vom Zustellvorgang Kenntnis erlangen konnte, gelten hinterlegte Dokumente nicht als zugestellt (§ 17 Abs 3 ZustellG).

Ausgehend vom Ergebnis der Meldeauskunft vom 25. Juni 2009 (ON 9) in Verbindung mit den erwähnten Berichten der Bewährungshilfe, wonach der Angeklagte im April 2009 seine Rückkehr nach Österreich für nach Ostern (2009) zugesagt und im Zuge eines vor dem 17. Juli 2009 geführten Telefonats mitgeteilt habe, wieder zu arbeiten (ON 7 und ON 11), ist die Annahme des erkennenden Gerichts, dass sich Renato G***** im Zeitraum der Hinterlegung der Ladung für die Hauptverhandlung am 20. Juli 2009 tatsächlich an der in der Meldeauskunft aufscheinenden Adresse aufgehalten hat und die Ladung somit rechtsgültig zugestellt wurde, rechtlich nicht zu beanstanden.

Die erst im September 2009 dem Bezirksgericht Wels zur Kenntnis gebrachte Mitteilung des Vereins Neustart, wonach sich Renato G***** seit Juli (2009) auf Dauer in Kroatien aufhalte (ON 17), und die ebenfalls erst nach Urteilsfällung retournierte unbehobene Ladung des Genannten zur Hauptverhandlung am 20. Juli 2009 indizieren jedoch, dass sich der Angeklagte schon während des betreffenden Hinterlegungszeitraums nicht mehr in Österreich und damit an der bisherigen Abgabestelle in *****, aufgehalten hat, sodass die Voraussetzungen für die Durchführung der Hauptverhandlung und Urteilsfällung in Abwesenheit des Angeklagten mangels rechtswirksamer Ladung zur Hauptverhandlung tatsächlich nicht vorlagen (§ 427 Abs 1 StPO).

Da das Bezirksgericht Wels in offenkundiger, jedoch nicht vorwerfbarer Unkenntnis dieses Umstands demgegenüber irrig von einer rechtswirksamen Zustellung der Ladung des Angeklagten ausging und diese Annahme seiner Entscheidung zugrunde legte, die Hauptverhandlung und Urteilsfällung in Abwesenheit des Angeklagten durchzuführen, erging daher eine Entscheidung eines Strafgerichts auf einer in tatsächlicher Hinsicht objektiv bedenklichen Verfahrensgrundlage, ohne dass dem betreffenden Gericht ein Rechtsfehler anzulasten wäre. Die in Betreff des ergangenen Schuldspruchs wegen des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs 1 Z 1 erster und zweiter Fall, Abs 2 SMG sowie des Strafausspruchs und des Ausspruchs über die Kostenersatzpflicht entstandene Benachteiligung des Angeklagten war daher, weil sie auf anderem Weg nicht behoben werden kann, durch die analoge Anwendung der Bestimmung über die außerordentliche Wiederaufnahme gemäß § 362 StPO zu sanieren, (RIS-Justiz RS0117416; RS0117312; Ratz, WK-StPO § 292 Rz 16, § 362 Rz 4).

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