OGH 15Os111/19s

OGH15Os111/19s17.10.2019

Der Oberste Gerichtshof hat am 17. Oktober 2019 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Kirchbacher als Vorsitzenden, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Mag. Lendl sowie die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Michel‑Kwapinski, Mag. Fürnkranz und Dr. Brenner in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Jukic als Schriftführerin in der Strafsache gegen Abdul U***** wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB, AZ 5 U 112/18h des Bezirksgerichts Wiener Neustadt, über den Antrag der Generalprokuratur auf außerordentliche Wiederaufnahme des Strafverfahrens in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2019:0150OS00111.19S.1017.000

 

Spruch:

In Stattgebung des Antrags der Generalprokuratur wird im außerordentlichen Weg die Wiederaufnahme des Verfahrens verfügt, das Urteil des Bezirksgerichts Wiener Neustadt vom 16. Jänner 2019, GZ 5 U 112/18h‑28, aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Bezirksgericht Wiener Neustadt verwiesen.

 

Gründe:

Mit Strafantrag vom 19. Jänner 2018 (ON 9) legte die Staatsanwaltschaft Wiener Neustadt – soweit hier von Relevanz – Abdul U***** ein dem Vergehen der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB subsumiertes Verhalten zur Last.

Wegen dieses Vorwurfs wurde Abdul U***** mit Urteil des Bezirksgerichts Wiener Neustadt vom 16. April 2018 des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB schuldig erkannt und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt (ON 14).

Dieses Urteil wurde aus Anlass der dagegen vom Angeklagten erhobenen Berufung wegen Nichtigkeit mit Urteil des Landesgerichts Wiener Neustadt als Berufungsgericht vom 12. Oktober 2018, AZ 14 Bl 46/18w (ON 19), aufgehoben und die Sache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht verwiesen.

Das Bezirksgericht Wiener Neustadt beraumte sodann im zweiten Rechtsgang die Hauptverhandlung für den 16. Jänner 2019 an (ON 1 S 11). Die Ladung zu dieser Hauptverhandlung wurde vom Angeklagten am 30. November 2018 eigenhändig übernommen (vgl Zustellnachweis bei ON 27).

Abdul U***** erschien zur Hauptverhandlung unentschuldigt nicht. Nachdem die Bezirksrichterin die Zustellung der Ladung festgestellt hatte, verkündete sie den Beschluss auf Verhandlung in Abwesenheit des Angeklagten. Nach Durchführung des Beweisverfahrens durch Verlesung „gemäß § 252 Abs 2 StPO“ wurde Abdul U***** in Abwesenheit erneut des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB schuldig erkannt und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt (ON 27 S 4 f; ON 28).

Die Bezirksrichterin veranlasste die Zustellung dieses Abwesenheitsurteils (samt Rechtsmittelbelehrung und Protokollausfertigung) an Abdul U***** an dessen aktenkundigen Wohnsitz (ON 31). Da die beim Postamt zur Abholung hinterlegte Sendung nicht behoben wurde, wurde durch Abfragen des Zentralen Melderegisters (ON 32) und der IVV (ON 33) erhoben, dass sich Abdul U***** seit 25. Dezember 2018 in der Justizanstalt W***** zu einem anderen Verfahren in Haft befand.

Abdul U***** wurde das Urteil sodann am 4. März 2019 in der Justizanstalt W***** eigenhändig zugestellt (vgl Zustellschein bei ON 31).

Das Abwesenheitsurteil des Bezirksgerichts Wiener Neustadt erwuchs, weil der Angeklagte weder Einspruch noch Berufung erhob und auch die Staatsanwaltschaft das Urteil unbekämpft ließ, in Rechtskraft.

Rechtliche Beurteilung

Wie die Generalprokuratur in ihrem gemäß § 362 Abs 1 Z 2 StPO gestellten Antrag zutreffend aufzeigt, bestehen gegen die Richtigkeit der der Durchführung der Hauptverhandlung und Fällung des Urteils in Abwesenheit des Angeklagten zugrunde gelegten Tatsachenannahmen erhebliche Bedenken.

Gemäß § 427 Abs 1 StPO darf die Hauptverhandlung bei sonstiger Nichtigkeit nur dann in Abwesenheit des Angeklagten durchgeführt und das Urteil gefällt werden, wenn es sich um ein Vergehen handelt, der Angeklagte gemäß §§ 164 oder 165 StPO zum Anklagevorwurf vernommen und ihm die Ladung zur Hauptverhandlung persönlich zugestellt worden ist. Gegen ein Urteil des Bezirksgerichts, das gemäß § 427 StPO in Abwesenheit des Angeklagten verkündet wurde, kann dieser gemäß § 478 Abs 1 StPO binnen 14 Tagen von der Zustellung des Urteils beim erkennenden Bezirksgericht Einspruch erheben, wenn ihm die Vorladung nicht gehörig zugestellt worden ist oder er nachweisen kann, dass er durch ein unabwendbares Hindernis abgehalten worden sei.

Ist für das Gericht bereits im Zeitpunkt der Durchführung der Hauptverhandlung ersichtlich, dass der Angeklagte durch ein unabwendbares Hindernis vom Erscheinen abgehalten worden ist, so ist die Durchführung der Hauptverhandlung und die Fällung des Urteils in Abwesenheit nicht zulässig (vgl RIS‑Justiz RS0101569; Bauer, WK‑StPO § 427 Rz 14). Die Anhaltung des Angeklagten in Haft stellt ein derartiges unabwendbares Hindernis dar (11 Os 16/16m, 13 Os 122/17s, 12 Os 153/17t). Das Gericht hat in einem solchen Fall die Justizanstalt um Vorführung des Angeklagten zur Hauptverhandlung zu ersuchen, und zwar entweder (bereits) anlässlich dessen Ladung gemäß § 221 Abs 1 StPO oder gemäß § 427 Abs 2 erster Satz StPO (13 Os 122/17s; Danek/Mann, WK‑StPO § 221 Rz 14).

Ausgehend von der Aktenlage im Zeitpunkt der Hauptverhandlung und Urteilsfällung am 16. Jänner 2019 ist die tatsächliche Annahme des Bezirksgerichts Wiener Neustadt (vgl US 3 unten), dass der (ordnungsgemäß geladene) Angeklagte nicht durch ein unabwendbares Hindernis vom Erscheinen in der Hauptverhandlung abgehalten worden ist (und demnach sämtliche Voraussetzungen für das Abwesenheitsverfahren gemäß § 427 StPO vorlagen), rechtlich nicht zu beanstanden.

Allerdings bestehen gegen die Richtigkeit dieser Tatsachenannahme in Hinblick auf die Auskünfte aus dem Zentralen Melderegister und der IVV, wonach sich Abdul U***** seit 25. Dezember 2018 und auch im Zeitpunkt der Hauptverhandlung am 16. Jänner 2019 in der Justizanstalt W***** zu einem anderen Verfahren in Haft befand, erhebliche Bedenken im Sinn des § 362 Abs 1 Z 2 StPO.

Es ist daher eine rechtskräftige Entscheidung eines Strafgerichts auf einer in tatsächlicher Hinsicht objektiv falschen Verfahrensgrundlage ergangen, ohne dass dem betreffenden Gericht ein Rechtsfehler anzulasten wäre. Da die so entstandene Benachteiligung des Angeklagten auf anderem Weg nicht behoben werden kann, war dies – in Stattgebung des Antrags der Generalprokuratur – durch die analoge Anwendung der Bestimmungen über die außerordentliche Wiederaufnahme gemäß § 362 Abs 1 Z 2 StPO zu sanieren (RIS‑Justiz RS0117416, RS0117312).

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