European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:010OBS00012.20T.0218.000
Spruch:
1. Das Revisionsverfahren wird fortgesetzt.
2. Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 209,39 EUR (darin enthalten 34,90 EUR USt) bestimmten Kosten der Revision zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
Der am 28. Jänner 1950 geborene Kläger ist rumänischer Staatsangehöriger. Er hat das österreichische Regelpensionsalter von 65 Jahren am 28. Jänner 2015 vollendet. Er bezieht eine österreichische Alterspension von monatlich 26,73 EUR sowie eine rumänische Pension von umgerechnet monatlich 204 EUR. Er war in Rumänien als Lehrer in einer Grundschule und danach in einem staatlichen Betrieb tätig. Seit 2010 arbeitete er als selbständiger plastischer Künstler. Nach dem Tod seiner Frau (2012) zog er zu seiner Tochter, die in Österreich lebt. Seit 21. August 2013 hält er sich ununterbrochen in Österreich auf. Von 1. Oktober 2013 bis zu seiner Pensionierung am 31. August 2015 arbeitete er in der Tabak‑Trafik seines Schwiegersohns 12 Stunden wöchentlich. Sein bar ausgezahltes Gehalt betrug etwa 450 EUR. Von 1. April 2016 bis 1. Februar 2017 arbeitete er wieder in der mittlerweile von seiner Tochter übernommenen Tabak‑Trafik. Laut Dienstvertrag betrug die Dienstzeit 20 Stunden pro Woche, das Gehalt etwa 800 EUR brutto. Der Kläger arbeitete jedoch weniger als die im Arbeitsvertrag vereinbarten 20 Stunden wöchentlich. Der Kläger wurde lediglich für 20 Stunden angemeldet, um eine – am 10. August 2016 von der österreichischen Behörde ausgestellte – Anmeldebescheinigung als Arbeitnehmer nach § 51 Abs 1 Z 1 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) zu erhalten.
Es ist zu klären, ob dem Kläger ein (Dauer‑)Aufenthaltsrecht nach Art 7 Abs 1 lit a und b oder Art 17 Abs 1 lit a der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG , 68/360/EWG , 72/194/EWG , 73/148/EWG , 75/34/EWG , 75/35/EWG , 90/364/EWG , 90/365/EWG und 93/96/EWG (Unionsbürger‑RL oder Freizügigkeits‑RL) zukommt. Nicht strittig ist hingegen, dass der Kläger als seit Beendigung des zweiten Dienstverhältnisses wirtschaftlich inaktiver Unionsbürger nicht über ausreichende Existenzmittel iSd Art 7 Abs 1 lit b der Unionsbürger‑RL verfügt. Es ist ebenso unstrittig, dass sich der Kläger zum maßgeblichen Stichtag (§ 223 Abs 1 ASVG), dem 1. Mai 2017, noch nicht fünf Jahre ununterbrochen in Österreich aufgehalten hat.
Die beklagte Pensionsversicherungsanstalt lehnte mit Bescheid vom 26. April 2017 den Antrag des Klägers auf Gewährung einer Ausgleichszulage ab. Der Kläger halte sich nicht rechtmäßig in Österreich auf.
In seiner dagegen erhobenen Klage beruft sich der Kläger auf sein Recht des Aufenthalts iSd Art 7 Abs 1 lit a und b und Art 17 Abs 1 lit a der Unionsbürger‑RL.
Die Beklagte bestreitet den rechtmäßigen Aufenthalt des Klägers in Österreich.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Die Voraussetzungen der Ausübung einer Erwerbstätigkeit mindestens während der letzten 12 Monate und eines dreijährigen ununterbrochenen Aufenthalts in Österreich iSd Art 17 Abs 1 lit a der Unionsbürger‑RL und des § 53a Abs 3 Z 1 NAG müssten auch für den Fall gelten, dass der Arbeitnehmer aus dem Erwerbsleben ausscheide, weil er das Regelpensionsalter erreicht habe. Der Kläger erfülle diese Voraussetzungen nicht. Er habe zwar bei Eintritt in die Alterspension während der letzten 12 Monate zuvor eine Erwerbstätigkeit in Österreich ausgeübt, sich zu diesem Zeitpunkt aber nicht drei Jahre im Bundesgebiet aufgehalten. Zum Zeitpunkt der Stellung seines Antrags auf Zuerkennung der Ausgleichszahlung sei er nicht erwerbstätig gewesen. Ein Aufenthaltsrecht nach Art 7 Abs 1 lit a und b der Unionsbürger-RL scheitere daran, dass der Kläger nach Beendigung des zweiten Arbeitsverhältnisses wirtschaftlich inaktiv sei und nicht über ausreichende Existenzmittel verfüge.
Das Berufungsgericht teilte diese – ausführlich begründete – Rechtsansicht und gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Es ließ die Revision zu, weil Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs weder zur Auslegung des § 53a Abs 3 Z 1 NAG noch zur Frage bestehe, ob bei Vorliegen von ausreichenden Existenzmitteln für einen gewissen Zeitraum und deren späteren Wegfall wegen des Bezugs von Pensionsleistungen ein Anspruch auf Ausgleichszulage bestehe.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision des Klägers ist zulässig, aber nicht berechtigt.
1. Nach § 292 Abs 1 ASVG hat der Pensionsberechtigte Anspruch auf Ausgleichszulage, solange er seinen rechtmäßigen Aufenthalt in Österreich hat.
2.1 Art 17 Abs 1 der Unionsbürger‑RL gewährt abweichend von ihrem Art 16 vor Ablauf eines ununterbrochenen Aufenthalts von fünf Jahren das Recht auf Daueraufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat a) Arbeitnehmern oder Selbständigen, die zum Zeitpunkt des Ausscheidens aus dem Erwerbsleben das in dem betreffenden Mitgliedstaat für die Geltendmachung einer Altersrente gesetzlich vorgesehene Alter erreicht haben, oder Arbeitnehmern, die ihre abhängige Erwerbstätigkeit im Rahmen einer Vorruhestandsregelung beenden, sofern sie diese Erwerbstätigkeit in dem betreffenden Mitgliedstaat mindestens während der letzten 12 Monate ausgeübt und sich dort seit mindestens drei Jahren ununterbrochen aufgehalten haben. Diese Regelung wurde in Österreich durch § 53a Abs 3 Z 1 Niederlassungs‑ und Aufenthaltsgesetz (NAG) nahezu wortident umgesetzt.
2.2 Aus Anlass der – beantworteten – Revision des Klägers legte der Oberste Gerichtshof mit Beschluss vom 19. Dezember 2018 zu AZ 10 ObS 105/18s (RIS‑Justiz RS0132427) dem Gerichtshof der Europäischen Union primär die Frage vor, ob Art 17 Abs 1 lit a der Unionsbürger‑RL so auszulegen ist, dass Arbeitnehmer, die zum Zeitpunkt des Ausscheidens aus dem Erwerbsleben das im Beschäftigungsstaat für die Geltendmachung einer Altersrente gesetzlich vorgesehene Alter erreicht haben, ihre Erwerbstätigkeit zuletzt mindestens während der letzten 12 Monate ausgeübt und sich im Beschäftigungsstaat seit mindestens drei Jahren ununterbrochen aufgehalten haben müssen, um das Recht auf Daueraufenthalt vor Ablauf eines fünfjährigen Zeitraums zu erwerben. Eine zweite Frage wurde nur für den Fall gestellt, dass die erste Frage verneint wird.
2.3 In seinem Urteil vom 22. Jänner 2020, C‑32/19 , legte der Gerichtshof der Europäischen Union Art 17 Abs 1 lit a der Unionsbürger‑RL so aus, dass die Voraussetzungen für den Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat vor Ablauf eines ununterbrochenen fünfjährigen Aufenthaltszeitraums, nämlich seine Erwerbstätigkeit zuletzt mindestens während der letzten 12 Monate ausgeübt zu haben und sich dort seit mindestens drei Jahren ununterbrochen aufgehalten zu haben, für einen Arbeitnehmer gelten, der zum Zeitpunkt des Ausscheidens aus dem Erwerbsleben das von diesem Mitgliedstaat die Geltendmachung einer Altersrente gesetzlich vorgesehene Alter erreicht hat.
2.4 Damit ist im Sinn des Rechtsstandpunkts der Beklagten geklärt, dass der Kläger die für ihn geltenden zeitlichen Voraussetzungen des Art 17 Abs 1 lit a der Unionsbürger‑RL sowie des § 53a Abs 3 Z 1 NAG nicht erfüllt. Am 31. August 2015, als er seine Erwerbstätigkeit in Österreich nach Erreichen des Regelpensionsalters von 65 Jahren das erste Mal aufgab, war er zwar die letzten 12 Monate zuvor beschäftigt gewesen, hatte sich aber nicht drei Jahre ununterbrochen in Österreich aufgehalten. Als seine zweite Beschäftigung in Österreich (von 1. April 2016 bis 1. Februar 2017) endete, hatte sein Aufenthalt in Österreich zwar mehr als drei Jahre gedauert, sein zweites Dienstverhältnis vor dem endgültigen Ausscheiden aus dem Erwerbsleben jedoch nur 10 Monate.
3.1 Wie bereits die Vorinstanzen erkannten, ist die österreichische Ausgleichszulage nach der Rechtsprechung des EuGH (19. September 2013, C-140/12 , Brey; 11. November 2014, C-333/13 , Dano; 15. September 2015, C‑67/14 , Alimanovic; 25. Februar 2016, C-299/14 , Garcia-Nieto) auch eine Sozialleistung im Sinn der Unionsbürger-RL.
3.2 Nach Art 7 Abs 1 lit a der Unionsbürger-RL steht das Recht auf Aufenthalt wirtschaftlich inaktiven Personen zu, die sich länger als drei Monate, aber nicht mehr als fünf Jahre im Aufnahmemitgliedstaat aufhalten, und die Voraussetzungen des Art 7 Abs 1 lit b der Unionsbürger-RL erfüllen, also über ausreichende Existenzmittel und einen Krankenversicherungsschutz verfügen, sodass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen in Anspruch nehmen müssen (RS0130764). Nur unter diesen Voraussetzungen stünde dem Kläger als Unionsbürger hinsichtlich des Zugangs zur Ausgleichszulage die von ihm beanspruchte Gleichbehandlung mit Inländern zu (10 ObS 160/17b).
3.3 Die – ausführlich begründete – Beurteilung der Vorinstanzen, dass der Kläger diese Voraussetzungen nicht erfüllt, begegnet keinen Bedenken. Eine Beschäftigung im Inland verschafft einem Unionsbürger während ihrer Dauer einen eigenen unions- und nationalrechtlichen Aufenthaltstitel. Nach Beendigung eines Beschäftigungsverhältnisses kommt – soweit hier relevant – ein rechtmäßiger Aufenthalt nach Art 17 Abs 1 lit a der Unionsbürger-RL in Betracht. Die darin geforderten Voraussetzungen sind im Fall des Klägers – wie bereits dargelegt – nicht verwirklicht. Nach endgültiger Aufgabe seiner Arbeitstätigkeit in Österreich (Beschäftigung bei Familienangehörigen) verfügte er mit einem monatlichen Pensionseinkommen von insgesamt 230,73 EUR nicht über ausreichende Mittel zur Deckung seiner Lebensbedürfnisse, was er auch gar nicht in Zweifel zieht. In seinem Fall ist zu berücksichtigen, dass er nur etwa eineinhalb Jahre vor Vollendung des österreichischen gesetzlichen Pensionsalters von Rumänien nach Österreich übersiedelt ist. Es war zu diesem Zeitpunkt absehbar, dass er bis zum Pensionsantritt in Österreich keine ausreichenden Versicherungszeiten für eine österreichische Alterspension in Höhe des Richtsatzes (§ 293 ASVG) erwerben konnte und künftig auf österreichische Sozialhilfeleistungen angewiesen wäre.
3. Zum maßgeblichen Stichtag, dem 1. Mai 2017, hatte der Kläger keinen rechtmäßigen Aufenthalt in Österreich. Daran scheitert sein Begehren auf Gewährung einer Ausgleichszulage.
4. Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 77 Abs 1 lit b ASGG. Die Entscheidung hing von der Lösung einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO ab. Dem Kläger, der nach der Aktenlage nur ein Pensionseinkommen von etwa 230 EUR monatlich bezieht, ist die Hälfte der Kosten seiner Revision zuzusprechen (RS0085871).
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