European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2018:010OBS00105.18S.1219.000
Spruch:
A. Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Ist Art 17 Abs 1 lit a der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG , 68/360/EWG , 72/194/EWG , 73/148/EWG , 75/34/EWG , 75/35/EWG , 90/364/EWG , 90/365/EWG und 93/96/EWG (Unionsbürger‑RL oder Freizügigkeits‑RL) so auszulegen, dass Arbeitnehmer, die zum Zeitpunkt des Ausscheidens aus dem Erwerbsleben das im Beschäftigungsstaat für die Geltendmachung einer Altersrente gesetzlich vorgesehene Alter erreicht haben, ihre Erwerbstätigkeit zuletzt mindestens während der letzten 12 Monate ausgeübt und sich im Beschäftigungsstaat seit mindestens drei Jahren ununterbrochen aufgehalten haben müssen, um das Recht auf Daueraufenthalt vor Ablauf eines fünfjährigen Zeitraums zu erwerben?
2. Für den Fall, dass Frage 1 verneint wird:
Kommt Arbeitnehmern nach Art 17 Abs 1 lit a erster Fall der Unionsbürger‑RL das Recht auf Daueraufenthalt zu, wenn sie ihre Erwerbstätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat zu einem Zeitpunkt aufnehmen, in dem absehbar ist, dass sie ihre Erwerbstätigkeit bis zur Erreichung des gesetzlichen Rentenalters nur relativ kurz ausüben können und aufgrund geringer Einkünfte jedenfalls nach Beendigung der Erwerbstätigkeit auf Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats angewiesen sein werden?
B. Das Revisionsverfahren wird bis zum Einlangen der Vorabentscheidung ausgesetzt.
Begründung:
I. Sachverhalt und Verfahrensgegenstand:
Der am 28. Jänner 1950 geborene Kläger ist rumänischer Staatsangehöriger. Er hat das österreichische Regelpensionsalter von 65 Jahren am 28. Jänner 2015 vollendet. Er bezieht eine österreichische Alterspension von monatlich 26,73 EUR sowie eine rumänische Pension von umgerechnet monatlich 204 EUR. Er war zunächst in Rumänien als Lehrer in einer Grundschule und danach in einem staatlichen Betrieb tätig. Seit 2010 arbeitete er als selbstständiger plastischer Künstler. Nach dem Tod seiner Frau (2012) zog er zu seiner Tochter, die seit 2000 in Österreich lebt. Seit 21. August 2013 hält er sich ununterbrochen in Österreich auf. Von 1. Oktober 2013 bis zu seiner Pensionierung am 31. August 2015 arbeitete er in der Tabak‑Trafik seines Schwiegersohns 12 Stunden wöchentlich. Sein bar ausgezahltes Gehalt betrug etwa 450 EUR. Von 1. April 2016 bis 1. Februar 2017 arbeitete er wieder in der mittlerweile von seiner Tochter übernommenen Tabak‑Trafik. Laut Dienstvertrag betrug die Dienstzeit 20 Stunden pro Woche, das Gehalt etwa 800 EUR brutto. Der Kläger arbeitete jedoch weniger als die im Arbeitsvertrag vereinbarten 20 Stunden wöchentlich. Sein Arbeitsausmaß war nur geringfügig höher als während der vorangegangenen Beschäftigung bis August 2015. Er wurde nur deshalb für 20 Stunden pro Woche angemeldet, um eine – am 10. August 2016 von der österreichischen Behörde ausgestellte – Anmeldebescheinigung als Arbeitnehmer nach § 51 Abs 1 Z 1 des österreichischen Niederlassungs‑ und Aufenthaltsgesetzes (NAG) zu erhalten.
Es ist strittig, ob dem Kläger ein Daueraufenthaltsrecht nach Art 17 Abs 1 lit a der Unionsbürger‑RL zukommt. Nicht strittig ist hingegen, dass der Kläger als jedenfalls seit Beendigung des zweiten Dienstverhältnisses wirtschaftlich inaktiver Unionsbürger nicht über ausreichende Existenzmittel im Sinn des Art 7 Abs 1 lit a und b der Unionsbürger‑RL verfügt. Es ist ebenso unstrittig, dass sich der Kläger zu dem nach österreichischem Recht maßgeblichen Stichtag (§ 223 Abs 1 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz [ASVG]), dem 1. März 2017, noch nicht fünf Jahre ununterbrochen in Österreich aufgehalten hat.
Rechtliche Beurteilung
II. Unionsrechtliche Grundlagen:
Die Bestimmungen der Unionsbürger‑RL lauten auszugsweise:
„Artikel 16
Allgemeine Regel für Unionsbürger und ihre Familienangehörigen
(1) Jeder Unionsbürger, der sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat, hat das Recht, sich dort auf Dauer aufzuhalten. Dieses Recht ist nicht an die Voraussetzungen des Kapitels III geknüpft. (...)
Artikel 17
Ausnahmeregelung für Personen, die im Aufnahmemitgliedstaat aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind, und ihre Familienangehörigen
(1) Abweichend von Art 16 haben folgende Personen vor Ablauf des ununterbrochenen Zeitraums von fünf Jahren das Recht auf Daueraufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat:
a) Arbeitnehmer oder Selbstständige, die zum Zeitpunkt des Ausscheidens aus dem Erwerbsleben das in dem betreffenden Mitgliedstaat für die Geltendmachung einer Altersrente gesetzlich vorgesehene Alter erreicht haben, oder Arbeitnehmer, die ihre abhängige Erwerbstätigkeit im Rahmen einer Vorruhestandsregelung beenden, sofern sie diese Erwerbstätigkeit in dem betreffenden Mitgliedstaat mindestens während der letzten zwölf Monate ausgeübt und sich dort seit mindestens drei Jahren ununterbrochen aufgehalten haben.
Haben bestimmte Kategorien von Selbstständigen nach den Rechtsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaats keinen Anspruch auf eine Altersrente, so gilt die Altersvoraussetzung als erfüllt, wenn der Betroffene das 60. Lebensjahr vollendet hat.
b) Arbeitnehmer oder Selbstständige, die sich seit mindestens zwei Jahren ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten haben und ihre Erwerbstätigkeit infolge einer dauernden Arbeitsunfähigkeit aufgeben.
Ist die Arbeitsunfähigkeit durch einen Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit eingetreten, aufgrund deren ein Anspruch auf eine Rente entsteht, die ganz oder teilweise zulasten eines Trägers des Aufnahmemitgliedstaats geht, entfällt die Voraussetzung der Aufenthaltsdauer.
c) Arbeitnehmer oder Selbstständige, die nach drei Jahren ununterbrochener Erwerbstätigkeit und ununterbrochenen Aufenthalts im Aufnahmemitgliedstaat eine abhängige oder selbstständige Erwerbstätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat ausüben, ihren Wohnsitz jedoch im Aufnahmemitgliedstaat beibehalten und in der Regel jeden Tag oder mindestens einmal in der Woche dorthin zurückkehren.
Für den Erwerb der in den Buchstaben a und b genannten Rechte gelten die Zeiten der Erwerbstätigkeit in dem Mitgliedstaat, in dem der Betroffene seine Erwerbstätigkeit ausübte, als im Aufnahmemitgliedstaat abgeleistet. (...)
(2) Die Voraussetzungen der Dauer des Aufenthalts und der Dauer der Erwerbstätigkeit in Abs 1 Buchstabe a) sowie der Aufenthaltsdauer in Absatz 1 Buchstabe b) entfallen, wenn der Ehegatte oder der Lebenspartner im Sinne von Art 2 Nummer 2 Buchstabe b) des Arbeitnehmers oder des Selbstständigen die Staatsangehörigkeit des Aufnahmemitgliedstaats besitzt oder die Staatsangehörigkeit jenes Mitgliedstaats durch Eheschließung mit dem Arbeitnehmer oder Selbstständigen verloren hat.“
III. Nationales Recht:
§ 53a („Bescheinigung des Daueraufenthalts von EWR‑Bürgern“) des Niederlassungs‑ und Aufenthaltsgesetzes (NAG) in der geltenden Fassung lautet auszugsweise:
„(1) EWR‑Bürger, denen das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht zukommt (§§ 51 und 52), erwerben unabhängig vom weiteren Vorliegen der Voraussetzungen gemäß §§ 51 oder 52 nach fünf Jahren rechtmäßigem und ununterbrochenem Aufenthalt im Bundesgebiet das Recht auf Daueraufenthalt. Ihnen ist auf Antrag nach Überprüfung der Aufenthaltsdauer unverzüglich eine Bescheinigung ihres Daueraufenthaltes auszustellen. (...)
(3) Abweichend von Abs. 1 erwerben EWR‑Bürger gemäß § 51 Abs. 1 Z 1 vor Ablauf der Fünfjahresfrist das Recht auf Daueraufenthalt, wenn sie
1. zum Zeitpunkt des Ausscheidens aus dem Erwerbsleben das Regelpensionsalter erreicht haben, oder Arbeitnehmer sind, die ihre Erwerbstätigkeit im Rahmen einer Vorruhestandsregelung beenden, sofern sie diese Erwerbstätigkeit im Bundesgebiet zumindest während der letzten zwölf Monate ausgeübt und sich seit mindestens drei Jahren ununterbrochen im Bundesgebiet aufgehalten haben;
2. sich seit mindestens zwei Jahren ununterbrochen im Bundesgebiet aufgehalten haben und ihre Erwerbstätigkeit infolge einer dauernden Arbeitsunfähigkeit aufgeben, wobei die Voraussetzung der Aufenthaltsdauer entfällt, wenn die Arbeitsunfähigkeit durch einen Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit eingetreten ist, auf Grund derer ein Anspruch auf Pension besteht, die ganz oder teilweise zu Lasten eines österreichischen Pensionsversicherungsträgers geht, oder
3. drei Jahre ununterbrochen im Bundesgebiet erwerbstätig und aufhältig waren und anschließend in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union erwerbstätig sind, ihren Wohnsitz im Bundesgebiet beibehalten und in der Regel mindestens einmal in der Woche dorthin zurückkehren;
Für den Erwerb des Rechts nach den Z 1 und 2 gelten die Zeiten der Erwerbstätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union als Zeiten der Erwerbstätigkeit im Bundesgebiet. (...)“
§ 292 des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes (ASVG) in der geltenden Fassung lautet:
„(1) Erreicht die Pension zuzüglich eines aus übrigen Einkünften des Pensionsberechtigten erwachsenden Nettoeinkommens und der gemäß § 294 zu berücksichtigenden Beträge nicht die Höhe des für ihn geltenden Richtsatzes (§ 293), so hat der Pensionsberechtigte, solange er seinen rechtmäßigen, gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat, nach Maßgabe der Bestimmungen dieses Abschnittes Anspruch auf eine Ausgleichszulage zur Pension.“
IV. Anträge und Vorbringen der Parteien:
Der Kläger begehrte am 14. Februar 2017 eine Ausgleichszulage ab 1. März 2017. Er beruft sich auf sein Recht auf Daueraufenthalt nach Art 17 Abs 1 lit a der Unionsbürger‑RL.
Die beklagte Pensionsversicherungsanstalt, die den rechtmäßigen Aufenthalt des Klägers in Österreich bestreitet, lehnte die Gewährung der Ausgleichszulage ab.
V. Bisheriges Verfahren:
Das Gericht erster Instanz (Landesgericht für Zivilrechtssachen Graz als Arbeits‑ und Sozialgericht) wies die Klage auf Gewährung der Ausgleichszulage ab dem Stichtag (1. März 2017) ab. Die Voraussetzungen einer Ausübung einer Erwerbstätigkeit mindestens während der letzten 12 Monate und eines dreijährigen ununterbrochenen Aufenthalts in Österreich müssten auch für den Fall gelten, dass der Arbeitnehmer aus dem Erwerbsleben ausscheide, weil er das Regelpensionsalter erreicht habe. Der Kläger erfülle diese Voraussetzungen nicht.
Das Gericht zweiter Instanz (Oberlandesgericht Graz) gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Es bestätigte die Auslegung der ersten Instanz zu Art 17 Abs 1 lit a der Unionsbürger‑RL.
Dagegen erhebt der Kläger eine Revision an den Obersten Gerichtshofs. Er beantragt den Zuspruch einer Ausgleichszulage in gesetzlichem Ausmaß.
Die Pensionsversicherungsanstalt beantragt in der Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.
VI. Begründung der Vorlagefragen:
Der Anspruch des Klägers auf Zuerkennung einer österreichischen Ausgleichszulage hängt von der Rechtmäßigkeit seines Aufenthalts in Österreich ab.
Es ist entscheidend, ob die zeitlichen Voraussetzungen in Art 17 Abs 1 lit a letzter Halbsatz der Unionsbürger‑RL auch für Arbeitnehmer oder Selbstständige gelten, die zum Zeitpunkt des Ausscheidens aus dem Erwerbsleben das Regelpensionsalter des Aufnahmestaats bereits erreicht haben. Trifft dies zu, hat der Kläger kein Daueraufenthaltsrecht nach Art 17 Abs 1 lit a Unionsbürger‑RL. Am 31. August 2015, als er seine Erwerbstätigkeit in Österreich nach Erreichen des Regelpensionsalters das erste Mal aufgab, war er zwar die letzten 12 Monate zuvor beschäftigt gewesen, hatte sich aber noch nicht drei Jahre ununterbrochen in Österreich aufgehalten. Als seine zweite Beschäftigung in Österreich (von 1. April 2016 bis 1. Februar 2017) endete, dauerte sein Aufenthalt in Österreich zwar mehr als drei Jahre, sein zweites Dienstverhältnis vor dem endgültigen Ausscheiden aus dem Erwerbsleben jedoch nur 10 Monate.
Nach Erwägungsgrund 19 der Unionsbürger‑RL sollten Rechte auf Daueraufenthalt für abhängig oder selbstständig erwerbstätige Unionsbürger noch vor Ablauf eines fünfjährigen Aufenthalts im Aufnahmemitgliedstaat aufrechterhalten werden, weil sie erworbene Rechte aufgrund der Verordnung (EWG) Nr 1251/70 über das Recht der Arbeitnehmer, nach Beendigung einer Beschäftigung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu verbleiben, und der Richtlinie 75/34/EWG über das Recht der Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, nach Beendigung der Ausübung einer selbstständigen Tätigkeit im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats zu verbleiben, darstellen.
Nach Art 2 Abs 1 lit a der Verordnung (EWG) Nr 1251/70 hatte der Arbeitnehmer das Recht, im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu verbleiben, der zum Zeitpunkt, zu dem er seine Beschäftigung aufgibt, das nach der Gesetzgebung dieses Staates vorgeschriebene Alter für die Geltendmachung einer Altersrente erreicht hat, dort mindestens in den letzten 12 Monaten eine Beschäftigung ausgeübt und sich dort mindestens seit drei Jahren ständig aufgehalten hat. Diese zeitlichen Voraussetzungen regelte Art 2 der Richtlinie 75/34/EWG für selbstständig Tätige. Die Unionsbürger‑RL fasst die Regelungen eines Daueraufenthaltsrechts für Arbeitnehmer und selbstständig Erwerbstätige vor Ablauf eines fünfjährigen Daueraufenthalts in Art 17 zusammen. Dies könnte die Formulierung in Art 17 Abs 1 lit a erklären. Eine Differenzierung zwischen Regelpensionisten und Vorruheständlern ist zu hinterfragen. Beide Personengruppen haben einen Anspruch auf eine Alterspension.
Die Auslegung des Art 17 Abs 1 lit a der Unionsbürger‑RL, welche der Kläger wünscht, widerspricht im Ergebnis den Zielsetzungen in Art 7 Abs 1 lit b der Richtlinie. Jeder Arbeitnehmer oder Selbstständige, der kurz vor Erreichen des Regelpensionsalters eine Erwerbstätigkeit im Aufnahmestaat aufnimmt, hätte nach Aufgabe dieser Tätigkeit nach Erreichen des Regelpensionsalters ein Daueraufenthaltsrecht erworben, obwohl absehbar ist, dass er nach der Pensionierung auf Sozialhilfeleistungen des Aufnahmestaats angewiesen ist. Diese Interpretation begünstigt die Aufnahme von kurzfristigen Scheinerwerbstätigkeiten, um nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben einen Anspruch auf Sozialhilfeleistungen – wie die österreichische Ausgleichszulage – zu begründen.
Der Wortlaut des Art 17 Abs 1 lit a der Unionsbürger‑RL ist nach Ansicht des vorlegenden Gerichts aber nicht so eindeutig, dass ein „acte clair“ vorliegt.
VII. Aussetzung des Verfahrens:
Die Aussetzung gründet sich auf § 90a GOG.
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