OGH 13Os110/19d

OGH13Os110/19d29.1.2020

Der Oberste Gerichtshof hat am 29. Jänner 2020 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Prof. Dr. Lässig als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer, Mag. Michel, Dr. Oberressl und Dr. Brenner in Gegenwart der Schriftführerin Dr. Ondreasova in der Strafsache gegen Zoltan S***** wegen des Verbrechens des gewerbsmäßig und als Mitglied einer kriminellen Vereinigung durch Einbruch begangenen schweren Diebstahls nach §§ 127, 128 Abs 2, 129 Abs 1 Z 1, 130 Abs 1 erster und zweiter Fall, Abs 2 erster und zweiter Fall und 15 StGB sowie weiterer strafbarer Handlungen, AZ 25 Hv 30/17m des Landesgerichts Eisenstadt, über die von der Generalprokuratur gegen das Urteil dieses Gerichts vom 6. Juni 2017 (ON 155) und einen Vorgang erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Mag. Höpler, und der Verteidigerin Mag. Urak zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:0130OS00110.19D.0129.000

 

Spruch:

 

In der Strafsache AZ 25 Hv 30/17m des Landesgerichts Eisenstadt verletzt die Unterlassung der Verlesung des Europäischen Haftbefehls vom 27. Juli 2015 (ON 44) und der Mitteilung des ungarischen Justizministeriums vom 26. November 2015 (ON 125) in der Hauptverhandlung (ON 154) § 252 Abs 2 StPO.

Das Urteil des Landesgerichts Eisenstadt vom 6. Juni 2017 (ON 155) wird aufgehoben, eine neue Hauptverhandlung angeordnet und die Sache an das Landesgericht Eisenstadt verwiesen.

Im Übrigen wird die Nichtigkeitsbeschwerde verworfen.

 

Gründe:

Die Staatsanwaltschaft Eisenstadt ordnete mittels eines gerichtlich bewilligten Europäischen Haftbefehls vom 27. Juli 2015 die Festnahme des ungarischen Staatsangehörigen Zoltan S***** an (ON 44).

Gegenstand dieses Haftbefehls war der Vorwurf, der Genannte habe vom 26. März 2014 bis zum 26. Februar 2015 an verschiedenen Orten in Österreich gewerbsmäßig und als Mitglied einer kriminellen Vereinigung unter Mitwirkung (§ 12 StGB) weiterer Mitglieder dieser kriminellen Vereinigung mit auf unrechtmäßige Bereicherung gerichtetem Vorsatz anderen in zahlreichen Angriffen fremde bewegliche Sachen in einem großteils jeweils 5.000 Euro, insgesamt 300.000 Euro übersteigenden Wert durch Einbruch in Gebäude weggenommen und wegzunehmen versucht.

Am 6. Oktober 2015 wurde über Zoltan S***** in Ungarn die Auslieferungshaft verhängt (ON 121).

Mit Schreiben vom 26. November 2015 teilte das ungarische Justizministerium der Staatsanwaltschaft – soweit hier von Bedeutung – mit, dass der Hauptstädtische Gerichtshof die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls und die Übergabe des Zoltan S***** hinsichtlich einzelner (genau bezeichneter) Tatvorwürfe angeordnet, hinsichtlich (ebenfalls genau bezeichneter) anderer Sachverhalte aber wegen eines hiezu bereits in Ungarn anhängigen Strafverfahrens abgelehnt habe und dass auf Beachtung des Grundsatzes der Spezialität nicht verzichtet wird (ON 125).

Am 4. April 2017 wurde Zoltan S***** von den ungarischen Behörden an Österreich übergeben (ON 136).

Ungeachtet der Erklärung der vollstreckenden Justizbehörde (§ 2 Z 5 EU-JZG) legte die Staatsanwaltschaft Zoltan S***** mit Anklageschrift vom 7. April 2017 sämtliche im Europäischen Haftbefehl vom 27. Juli 2015 angeführten Straftaten zur Last. Gesondert auch die Unterdrückung von Urkunden im Rahmen der im Europäischen Haftbefehl angeführten historischen Geschehen, hinsichtlich derer die Übergabe zur Strafverfolgung von den ungarischen Behörden zum Teil bewilligt, zum Teil aber abgelehnt worden war (ON 146).

In der am 6. Juni 2017 durchgeführten Hauptverhandlung verlas der Vorsitzende des Schöffengerichts weder den Europäischen Haftbefehl ON 44 noch die Mitteilung über die Entscheidung der vollstreckenden Justizbehörde ON 125 (ON 154). Ein Vortrag des erheblichen Inhalts dieser Aktenstücke (§ 252 Abs 2a StPO) erfolgte ebenso wenig.

Mit Urteil desselben Tages erkannte das Gericht den Angeklagten „im Sinne der Anklageschrift“ des Verbrechens des gewerbsmäßig und als Mitglied einer kriminellen Vereinigung durch Einbruch begangenen schweren Diebstahls nach §§ 127, 128 Abs 2, 129 Abs 1 Z 1, 130 Abs 1 erster und zweiter Fall, Abs 2 erster und zweiter Fall und 15 StGB sowie mehrerer Vergehen der Urkundenunterdrückung nach § 229 Abs 1 StGB schuldig, verhängte über ihn eine Freiheitsstrafe und verpflichtete ihn, an die Privatbeteiligte St***** AG einen Geldbetrag zu bezahlen.

Dieses Urteil erwuchs unbekämpft in Rechtskraft.

 

Rechtliche Beurteilung

Wie die Generalprokuratur in ihrer gemäß § 23 StPO erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend ausführt, steht die Vorgangsweise des Gerichts mit dem Gesetz nicht im Einklang:

§ 31 EU-JZG untersagt es in seinem Kernbereich, die übergebene Person in Österreich (als Ausstellungsstaat des Europäischen Haftbefehls) wegen Taten zu verfolgen oder zu bestrafen, welche diese vor der Übergabe an Österreich begangen hat und auf die sich der Europäische Haftbefehl nicht erstreckt (Hinterhofer in WK2 EU-JZG § 31 Rz 1).

§ 1 Abs 2 EU-JZG legt die subsidiäre Geltung des ARHG fest. Nach § 70 Abs 1 ARHG darf eine Person, die nach Österreich ausgeliefert wurde, ohne Zustimmung des ersuchten Staats weder wegen einer vor ihrer Übergabe begangenen Handlung, auf die sich die Auslieferungsbewilligung nicht erstreckt, noch ausschließlich wegen einer oder mehrerer für sich allein nicht der Auslieferung unterliegenden Handlungen verfolgt, bestraft, in ihrer persönlichen Freiheit beschränkt oder an einen dritten Staat weitergeliefert werden.

Durchbrechungen des solcherart jeweils normierten Spezialitätsgrundsatzes finden sich in § 70 Abs 1 Z 1 bis 3 ARHG und § 31 Abs 2 EU-JZG.

Die für die Beurteilung einer allfälligen Spezialitätsverletzung maßgeblichen Aktenstücke können bei der Urteilsfällung nur dann Berücksichtigung finden, wenn sie in der Hauptverhandlung vorkommen (§ 258 Abs 1 StPO; vgl dazu auch Kirchbacher, WK-StPO § 252 Rz 126 und 128). Damit korrespondierend ordnet § 252 Abs 2 StPO an, Urkunden und Schriftstücke, die für die Sache von Bedeutung sind, in der Hauptverhandlung vorzulesen. Urkunden, die geeignet sind, Aufschluss über das Vorliegen eines durch Spezialität begründeten prozessualen Verfolgungshindernisses (RIS-Justiz RS0092340 und RS0098426; Göth-Flemmich in WK2 ARHG § 70 Rz 15 und Hinterhofer in WK2 EU-JZG § 31 Rz 37) zu geben, das gegebenenfalls zum Freispruch (§ 259 Z 3 StPO) verpflichten würde (vgl § 281 Abs 1 Z 9 lit b StPO), sind solche Aktenstücke.

Indem der Vorsitzende in der Hauptverhandlung weder den Europäischen Haftbefehl ON 44 noch die Mitteilung über die hiezu ergangene Entscheidung der vollstreckenden Justizbehörde ON 125 verlas (und die Verlesung auch nicht durch einen [gegebenenfalls Zustimmung der Beteiligten voraussetzenden] resümierenden Vortrag im Sinn des § 252 Abs 2a StPO ersetzte), verstieß er somit gegen das Verlesungsgebot des § 252 Abs 2 StPO.

Da die aufgezeigte Gesetzesverletzung zum Nachteil des Verurteilten wirkt, sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst, ihre Feststellung auf die im Spruch ersichtliche Weise mit konkreter Wirkung zu verknüpfen (§ 292 letzter Satz StPO).

Vom aufgehobenen Urteil rechtslogisch abhängige Verfügungen und Entscheidungen gelten gleichfalls als beseitigt (RIS-Justiz RS0100444).

Warum – ausgehend von der dargelegten Verletzung des Verlesungsgebots – auch dem Urteil ein Rechtsfehler anhaften soll, ist nicht ersichtlich.

Im zuletzt behandelten Umfang war die Nichtigkeitsbeschwerde daher zu verwerfen.

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