OGH 10ObS75/19f

OGH10ObS75/19f25.6.2019

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Martin Lotz (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Günter Hintersteiner (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei C*****, vertreten durch Mag. Hubert Wagner, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist‑Straße 1, wegen Berufsunfähigkeitspension, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 29. April 2019, GZ 9 Rs 40/19x‑49, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2019:010OBS00075.19F.0625.000

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

1. Als berufsunfähig gilt nach § 273 Abs 1 Satz 1 ASVG die versicherte Person, deren Arbeitsfähigkeit aufgrund ihres körperlichen und geistigen Zustands auf weniger als die Hälfte derjenigen einer körperlich und geistig gesunden versicherten Person von ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist, wenn innerhalb der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag in zumindest 90 Pflichtversicherungsmonaten eine Erwerbstätigkeit als Angestellte/r oder nach § 255 Abs 1 ASVG ausgeübt wurde. Liegen zwischen dem Ende der Ausbildung (§ 255 Abs 2a ASVG) und dem Stichtag mehr als 15 Jahre, verlängert sich dieser Rahmenzeitraum nach § 255 Abs 2 Satz 3 iVm § 273 Abs 1 Satz 2 ASVG um Versicherungsmonate nach § 8 Abs 1 Z 2 lit a, d, e und g ASVG (Zeiten des Wochengeldbezugs, der Präsenz- oder Zivildienstleistung und der Kindererziehung), um Monate des Bezugs von Übergangsgeld nach § 306 ASVG sowie um höchstens 60 Monate des Bezugs von Rehabilitationsgeld nach § 143a ASVG und von Umschulungsgeld nach § 39b AlVG.

2. Für die Frage des Erhalts des Berufsschutzes nimmt die Rechtsprechung in § 255 Abs 2 ASVG eine planwidrige Gesetzeslücke an, die dem Gebot der verfassungskonformen Interpretation entsprechend durch eine analoge Anwendung des § 255 Abs 4 Z 1 ASVG zu schließen ist: Der Rahmenzeitraum wird auch um neutrale Zeiten des Bezugs einer Pension aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit (§ 234 Abs 1 Z 2 lit a ASVG) verlängert (RIS-Justiz RS0129361; 10 ObS 14/18h). Damit sollte die Benachteiligung behinderter Personen (Art 7 Abs 1 Satz 3 B-VG) vermieden werden, die durch den Bezug einer befristeten Pension (und damit bei in dieser Zeit bestehender Arbeitsunfähigkeit) einen bestehenden Berufsschutz nicht verlieren sollten (10 ObS 14/18h). Für Zeiten der Arbeitslosigkeit wird eine, diese Analogie ermöglichende Gesetzeslücke jedoch abgelehnt (10 ObS 8/15x SSV‑NF 29/10; 10 ObS 14/18h je mwN; RS0130003).

3. Der (vor 1965 geborene) Kläger erwarb nach den Feststellungen des Erstgerichts in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag (1. 3. 2016) 18 Beitragsmonate durch eine Erwerbstätigkeit als Angestellter und bezog ab September 2002 Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe. Er beruft sich nicht auf die in § 255 Abs 2 Satz 3 ASVG genannten Versicherungszeiten und Leistungsbezüge oder die Zuerkennung einer (befristeten) Pension aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit iSd § 234 Abs 1 Z 2 lit a ASVG. Seiner – vom Berufungsgericht abgelehnten – Rechtsansicht nach soll jedoch der Rahmenzeitraum um die Zeit des behaupteten Bezugs von Pensionsvorschüssen nach § 23 AlVG (von 1. 6. 2004 bis 30. 6. 2015) analog § 234 Abs 1 Z 2 lit a und § 255 Abs 4 Z 1 ASVG verlängert werden, weil Pensionsvorschüsse einer befristeten Berufsunfähigkeitspension gleich zu halten seien.

4. § 23 AlVG 1977 sieht die Gewährung von Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe als Vorschuss auf Leistungen aus der Pensions- oder Unfallversicherung an Arbeitslose vor, über deren Antrag auf Zuerkennung einer Leistung (auch) aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit oder auf Übergangsgeld noch nicht entschieden wurde.

5. Es trifft zu, dass diese Bevorschussung auf der Annahme einer nicht vorliegenden Arbeitsfähigkeit beruht und diese Leistung des Arbeitsmarktservices (AMS) insofern eine Nähe zu einer (befristeten) Invaliditäts- oder Berufsunfähigkeitspension aufweist. Ungeachtet dessen wird der Pensionsvorschuss nach § 23 AlVG als Arbeitslosengeld und Notstandhilfe in der (für diese Leistungen) nach dem AlVG gebührenden Höhe vom AMS zuerkannt und aus den Mitteln der Arbeitslosenversicherung geleistet. Das ASVG ist nicht so konzipiert, dass Zeiten der Arbeitslosigkeit den gesetzlichen Rahmenzeitraum verlängern und damit den Zugang zu einer Invaliditätspension erleichtern. Arbeitslosigkeit fällt in den Risikobereich der Arbeitslosenversicherung und kann keinen Leistungsanspruch in der Pensionsversicherung begründen (10 ObS 14/18h mwN).

6. Eine Analogie setzt eine Gesetzeslücke im Sinn einer planwidrigen Unvollständigkeit voraus (RS0008866). Nach den Intentionen des Gesetzgebers sollten mit dem SRÄG 2012, BGBl I 2013/3, ab 1. 1. 2014 auch Zeiten des Bezugs von Rehabilitationsgeld (§ 143a ASVG) den Beobachtungszeitraum für die Erlangung und den Erhalt des Berufsschutzes (§ 255 Abs 2 ASVG) und des Tätigkeitsschutzes (§ 255 Abs 4 Z 1 iVm § 234 Abs 1 ASVG) verlängern (10 ObS 12/14h, SSV-NF 28/13). Das Übergangsgeld (§ 306 ASVG) wird bereits seit dem BBG 2011 bei jenen Leistungen genannt, deren Bezug die Erstreckung des jeweiligen Rahmenzeitraums bewirkt. Es kann dem Gesetzgeber nicht unterstellt werden, dass er die Zeit des Bezugs von Pensionsvorschüssen nach § 23 AlVG den „verlängernden“ Zeiten (wie beispielsweise dem Bezug von Übergangsgeld) gleich stellen wollte und dies dennoch vergessen hat.

Stichworte