OGH 10ObS51/19a

OGH10ObS51/19a28.5.2019

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann sowie die fachkundigen Laienrichter Helmut Purker (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Gerald Fida (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei E*****, vertreten durch Dr. Peter Klaunzer, Rechtsanwalt in Innsbruck, gegen die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft, 1051 Wien, Wiedner Hauptstraße 84–86, vertreten durch Dr. Eva‑Maria Bachmann‑Lang und Dr. Christian Bachmann, Rechtsanwälte in Wien, wegen Rückforderung von Kinderbetreuungsgeld, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 12. März 2019, GZ 23 Rs 4/19p‑14, in nichtöffentlicher Sitzung, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2019:010OBS00051.19A.0528.000

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

Gegenstand des Revisionsverfahrens ist die Rückforderung des dem Kläger für den Zeitraum von 25. 12. 2017 bis 24. 2. 2018 als Ersatz des Erwerbseinkommens gewährten Kinderbetreuungsgeldes in Höhe von insgesamt 4.092 EUR (66 EUR täglich).

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren, der Rückforderungsanspruch bestehe nicht zu Recht, statt.

Es legte seiner Entscheidung – soweit für das Revisionsverfahren noch wesentlich – folgende Feststellungen zu Grunde:

Der Kläger und seine Lebensgefährtin sind die Eltern des am 25. 2. 2017 geborenen Kindes O*****. Sie haben keinen gemeinsamen Wohnsitz, teilen sich aber die Obsorge für das Kind. Nach der Erklärung der Obsorge beider Eltern gemäß § 177 Abs 2 ABGB wird das Kind hauptsächlich im Haushalt der Mutter betreut. Der Kläger war vor und während des Anspruchszeitraums an der Adresse 6020 Innsbruck, V***** hauptwohnsitzlich gemeldet, seine Meldung ist dort auch weiterhin aufrecht. Das Kind war von 27. 12. 2017 bis 1. 3. 2018 an der Adresse des Vaters hauptwohnsitzlich gemeldet, davor war es an der Adresse seiner Mutter in 6020 Innsbruck, E***** hauptwohnsitzlich gemeldet. Der Kläger war im Anspruchszeitraum in Karenz und hat an seiner Wohnadresse von 27. 12. 2017 bis 1. 3. 2018 (somit 65 Tage lang) das Kind ganztägig gepflegt und betreut. Die Mutter des Kindes war während dieses Zeitraums vollzeitbeschäftigt. Der Kläger bezog für die Monate Jänner und Februar 2018 die Familienbeihilfe.

Rechtlich ging das Erstgericht davon aus, die Anspruchsvoraussetzung einer dauerhaften Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft (§ 2 Abs 1 Z 2 iVm Abs 6 KBGG) sei erfüllt, auch wenn der Kläger und das Kind nur für 65 Tage (und nicht zumindest 91 Tage) in einem gemeinsamen Haushalt gelebt hätten. Andernfalls wäre es getrennt lebenden Elternteilen verwehrt, die Mindestbezugsdauer in Anspruch zu nehmen. Dass der Kläger gemeinsam mit der Mutter obsorgeberechtigt sei, reiche zur Erfüllung der Anspruchsvoraussetzung des § 2 Abs 8 KBGG (Obsorgeberechtigung des antragstellenden, vom anderen Elternteil getrennt lebenden Elternteils) aus, mag auch das Kind dem Haushalt der Mutter als Domizil-Elternteil zugeordnet sein. Ein in den Gesetzesmaterialien erwähnter Fall eines Missbrauchs liege nicht vor.

Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung und ließ die Revision nicht zu.

Rechtliche Beurteilung

Die außerordentliche Revision der beklagten Partei ist mangels einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig.

1. Dauerhafte Wohn‑ und Wirtschaftsgemeinschaft (§ 2 Abs 6 KBGG)

1.1 Nach der jüngst ergangenen Entscheidung 10 ObS 17/19a ergibt die systematische und auch die historische Auslegung, dass bei getrennt lebenden Elternteilen eine „dauerhafte“ Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft iSd § 2 Abs 6 KBGG an derselben Wohnadresse auch dann als erfüllt anzusehen ist, wenn diese (im „Verlängerungszeitraum“) nur von zweimonatiger Dauer ist und das Kind anschließend wieder in den Haushalt der Mutter zurückkehrt. In der Entscheidungsbegründung wurde ausgeführt, dass der Begriff „dauerhaft“ in § 2 Abs 6 KBGG ein unbestimmter Gesetzesbegriff sei, dessen Inhalt im Wege der Auslegung ermittelt werden müsse. Wenngleich die reine Wortinterpretation darauf hindeuten könnte, dass eine bloß zweimonatige Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft nur „vorübergehend“ und nicht dauerhaft iSd § 2 Abs 6 idF BGBl I 2016/53 sei, stünde diese Auslegung bei Berücksichtigung des Bedeutungszusammenhangs in Widerspruch zu § 5 Abs 3 und 4 KBGG sowie zu § 24b KBGG idF BGBl I 2009/116. Das Ziel der KBGG‑Novelle 2009, BGBl I 2009/116, durch eine kürzere (zweimonatige) Mindestbezugsdauer die Inanspruchnahme vor allem durch Väter zu erleichtern und eine flexiblere Handhabung zu ermöglichen (ErläutRV 340 BlgNR 24. GP  4), würde unterlaufen, wenn bei getrennt lebenden Elternteilen ein gemeinsamer Haushalt während der auf zwei Monate reduzierten Mindestbezugsdauer zur Begründung einer „dauerhaften Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft“ nicht ausreichen sollte, wäre es doch getrennt lebenden Elternteilen dann ganz allgemein verwehrt, die Mindestbezugsdauer in Anspruch zu nehmen.

1.2 Diese Aussagen treffen in gleicher Weise auf den vorliegenden Sachverhalt zu, sodass die Revisionswerberin mit ihrem Standpunkt, die Anspruchsvoraussetzung des gemeinsamen Haushalts im Sinn einer dauerhaften Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft sei nicht erfüllt, weil der Kläger nur etwa zwei Monate (65 Tage) lang gemeinsam mit dem Kind gewohnt habe, keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO aufzeigt.

2. Obsorge bei getrennt lebenden Eltern (§ 2 Abs 8 KBGG)

2.1 Auch mit dem Revisionsvorbringen, bei Obsorge beider getrennt lebender Elternteile könne nur jener Elternteil die Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug des Kinderbetreuungsgeldes erfüllen, dessen Wohnsitz im anspruchsrelevanten Zeitraum als hauptsächlicher Aufenthaltsort des Kindes („Heim erster Ordnung“) festgelegt sei, wird keine erhebliche Rechtsfrage angesprochen.

2.2 Nach § 177 Abs 2 ABGB können Eltern, die zum Zeitpunkt der Geburt des Kindes nicht miteinander verheiratet sind, vor dem Standesbeamten bestimmen, dass sie beide mit der Obsorge betraut sind (sofern die Obsorge nicht bereits gerichtlich geregelt ist). Gemäß § 177 Abs 3 ABGB können die Eltern weiters dem Gericht eine Vereinbarung über die Betrauung mit der Obsorge vorlegen, wobei die Betrauung eines Elternteils allein oder beider Elternteile vereinbart werden kann. Sind beide Elternteile mit der Obsorge betraut und leben sie nicht in häuslicher Gemeinschaft, haben sie festzulegen, bei welchem Elternteil sich das Kind hauptsächlich aufhalten soll (§ 177 Abs 4 ABGB).

2.3 Nach § 2 Abs 8 KBGG (idF BGBl I 2016/53) muss bei getrennt lebenden Eltern der antragstellende Elternteil, der mit dem Kind im gemeinsamen Haushalt lebt, obsorgeberechtigt sein.

2.4 Wie bereits das Berufungsgericht ausgeführt hat, stellt § 2 Abs 8 KBGG seinem Wortlaut nach allein auf die Obsorgeberechtigung ab, sodass im Fall der Vereinbarung der Obsorge beider Eltern und der Festlegung des Haushalts der hauptsächlichen Betreuung bei einem Elternteil, auch der andere (nicht als Domizilelternteil fungierende) Elternteil anspruchsberechtigt im Sinne dieser Gesetzesbestimmung sein kann. Schon nach dem Gesetzeswortlaut ist somit die Frage, ob bei getrennt lebenden Elternteilen als (zusätzliche) Anspruchsvoraussetzung für das Kinderbetreuungsgeld zur Obsorge beider Eltern auch noch der Wohnsitz des Anspruchswerbers als hauptsächlicher Aufenthaltsort des Kindes festgelegt sein muss (§ 177 Abs 4 ABGB), dahin zu beantworten, dass dies nicht erforderlich ist.

2.5 Bei „Missbrauchsproblemen“ geht die Intention des Gesetzgebers – wie sich aus den Gesetzesmaterialien (ErläutRV 1110 BlgNR 25. GP  4) ergibt – in eine andere Richtung. Dort wird darauf verwiesen, dass bei getrennt lebenden Elternteilen zuweilen ein Missbrauchsproblem besteht, wenn das Kind zum Vater umgemeldet wird, damit dieser Kinderbetreuungsgeld bezieht, die Mutter des Kindes aber weiterhin Familienbeihilfe für das Kind oder andere Leistungen beziehen will, die sie nur erhält, wenn sie im gemeinsamen Haushalt mit dem Kind lebt (wie zB den Kinderzuschlag zum Arbeitslosengeld). Zur Sicherung der Kinderbetreuungsgeldansprüche eines Elternteils und zur Vermeidung von Missbrauch sei in diesen Fällen auf das Obsorgerecht des das Kind tatsächlich betreuenden und Kinderbetreuungsgeld beantragenden Elternteils (alleinige Obsorge oder Obsorge beider Eltern mit hauptsächlichem Aufenthaltsort des Kindes bei diesem Elternteil [„Heim erster Ordnung“]) sowie auf den Anspruch (und Bezug) der Familienbeihilfe durch diesen Elternteil abzustellen (ErläutRV 1110 BlgNR 25. GP  4).

2.6.1 Abgesehen davon, dass der auf die Obsorgeberechtigung abstellende Wortlaut für den Standpunkt des Klägers spricht, bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass der Anspruchsberechtigung des Klägers ein „Missbrauch“ entgegenstehen könnte:

2.6.2 Der Kläger befand sich im Anspruchszeitraum in Karenz und bezog Familienbeihilfe für das Kind. Die Mutter des Kindes übte im Anspruchszeitraum eine Vollzeitbeschäftigung aus. Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger oder die Mutter des Kindes in diesem Zeitraum (missbräuchlich) andere Leistungen beziehen hätten wollen, die man nur erhält, wenn man im gemeinsamen Haushalt mit dem Kind lebt, liegen nicht vor.

3. Lässt sich die relevierte Rechtsfrage somit unmittelbar aufgrund des Gesetzes und seiner Materialien zweifelsfrei lösen, stellt sich insoweit keine Rechtsfrage von der von § 502 Abs 1 ZPO verlangten Qualität (RS0042656 [T54]).

4.1 Die Ansicht der Revisionswerberin, der Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld wäre bei getrennt lebenden Elternteilen ganz generell (also auch wenn kein Missbrauchsproblem vorliegen sollte) nur dann zu bejahen, wenn der antragstellende Elternteil nicht nur obsorgeberechtigt sei, sondern darüber hinaus sein Wohnsitz als Haushalt der hauptsächlichen Betreuung festgelegt sei, findet im Gesetzeswortlaut keine Deckung. Er lässt sich auch weder aus den Gesetzesmaterialien, noch aus dem Erkenntnis des VfGH vom 9. 10. 2015, G 152/2015, VfSlg 20018 ableiten. Der Verfassungsgerichtshof hat im Interesse des Kindeswohls (ausnahmsweise) die Vereinbarung bzw Festlegung einer annähernd gleichteiligen Ausübung der Betreuung als zulässig angesehen, aber auch in diesen Fällen daran festgehalten, dass die Festlegung des Haushalts der hauptsächlichen Betreuung geboten sei, wenn auch nur als nomineller Anknüpfungspunkt für andere Rechtsfolgen, deren Grundlage ein bestimmter Aufenthaltsort ist, etwa des Hauptwohnsitzes im Sinn des Melderechts oder der Geltendmachung von Familien- und Wohnbeihilfen (RS0130981). Dieses Erkenntnis lässt sich jedoch nicht dahin interpretieren, dass die in § 2 Abs 6 iVm Abs 8 KBGG geregelten Anspruchsvoraussetzungen auf Kinderbetreuungsgeld (entgegen deren Wortlaut) abgeändert werden sollen, indem zusätzlich zur Obsorgeberechtigung auch der Wohnsitz des Anspruchswerbers als hauptsächlicher Aufenthaltsort des Kindes festgelegt sein muss.

4. Die außerordentliche Revision ist daher als unzulässig zurückzuweisen.

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