OGH 15Os46/19g

OGH15Os46/19g6.5.2019

Der Oberste Gerichtshof hat am 6. Mai 2019 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Kirchbacher als Vorsitzenden sowie durch die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Mag. Lendl und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Michel‑Kwapinski und Dr. Mann in Gegenwart der AAss Pelikan als Schriftführerin in der Auslieferungssache des William G*****, AZ 314 HR 14/18s des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über den Antrag des Betroffenen auf Erneuerung des Verfahrens gemäß § 363a StPO nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2019:0150OS00046.19G.0506.000

 

Spruch:

Der Antrag wird zurückgewiesen.

 

Gründe:

Mit Beschluss vom 18. Dezember 2018, GZ 314 HR 14/18s‑89, erklärte der Einzelrichter des Landesgerichts für Strafsachen Wien die vom US Departement of Justice begehrte Auslieferung des William G***** an die Vereinigten Staaten von Amerika zur Strafverfolgung wegen im Auslieferungsersuchen beschriebener Straftaten für (nicht un‑)zulässig.

Mit Beschluss vom 26. Februar 2019, AZ 22 Bs 18/19m, gab das Oberlandesgericht Wien der dagegen erhobenen Beschwerde des Betroffenen – mit Ausnahme von drei im Beschluss bezeichneten Anklagepunkten, hinsichtlich derer die Auslieferung für unzulässig erklärt wurde – nicht Folge und erklärte damit die Auslieferung in Ansehung von 31 Anklagepunkten im Verfahren AZ 10 CF 1278, 13 Anklagepunkten im Verfahren AZ 10 CF 327 und einem Anklagepunkt im Verfahren AZ 10 CF 507, jeweils beim Bezirksgericht des Landkreises D*****, W***** sowie der (nur einen Anklagepunkt umfassenden) Anklage im Verfahren AZ 16‑cr‑71‑bbc vor dem Bundesbezirksgericht für den westlichen Gerichtsbezirk W***** für (nicht un‑)zulässig.

Das Bundesministerium für Justiz bewilligte am 20. März 2019 die Auslieferung und stellte den Akt zur weiteren Veranlassung nach § 36 ARHG an das Landesgericht für Strafsachen Wien zurück.

Gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien richtet sich der am 27. März 2019 beim Obersten Gerichtshof eingebrachte Antrag des Betroffenen William G***** auf Erneuerung des Strafverfahrens gemäß § 363a StPO per analogiam (RIS‑Justiz RS0122228).

Aus Anlass eines unter einem gestellten Begehrens auf „Zuerkennung aufschiebender Wirkung“ sah sich der Oberste Gerichtshof daraufhin veranlasst, die Durchführung der Auslieferung bis zur Entscheidung über den Erneuerungsantrag vorläufig zu hemmen (Beschluss vom 29. März 2019, AZ 15 Os 35/19i, 36/19m).

Rechtliche Beurteilung

In seinem Erneuerungsantrag erblickt der Betroffene einen Verstoß gegen Art 3 MRK darin, dass ihm – zusammengefasst – bei einer Verurteilung wegen der ihm vorgeworfenen Straftaten eine Haftstrafe drohe, die einer lebenslangen Freiheitsstrafe gleichkomme, und für ihn nach den im US‑Bundesstaat W***** geltenden Vorschriften keine Möglichkeit einer bedingten Entlassung bestehe.

Eine Auslieferung kann für den Aufenthaltsstaat eine Konventionsverletzung bedeuten, wenn ein konkretes Risiko besteht, dass die betroffene Person im Empfangsstaat einer Strafe oder Behandlung ausgesetzt wird, welche die Schwelle zur unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung erreicht und daher mit Art 3 MRK unvereinbar ist (RIS‑Justiz RS0123229, RS0123201; Göth‑Flemmich in WK² ARHG § 19 Rz 7 mwN).

Im Zielstaat drohende Freiheitsstrafen können dann in ein Spannungsverhältnis zu Art 3 MRK treten, wenn sie in keiner Relation zur Schuld des Täters und zum Unrechtsgehalt der Tat stehen (RIS‑Justiz RS0118079), wobei Fragen des geeigneten Strafmaßes grundsätzlich außerhalb des Anwendungsbereichs der Konvention liegen und nach der Rechtsprechung des EGMR insoweit ein großer Beurteilungsspielraum der unterschiedlichen Strafrechtsordnungen in dieser kriminalpolitischen Frage akzeptiert wird (14 Os 41/12d mwN; vgl dazu allgemein Grabenwarter/Pabel, EMRK6 § 20 Rz 46).

Auch die Verhängung einer lebenslangen (oder einer dieser gleichkommenden) Freiheitsstrafe über einen Erwachsenen ist als solche nicht mit Art 3 MRK unvereinbar (RIS‑Justiz RS0126646). Erforderlich ist diesfalls aber, dass der Betroffene eine rechtliche oder tatsächliche Aussicht auf Entlassung hat und eine Möglichkeit zur Überprüfung der Haft gegeben ist (vgl zu den maßgeblichen Kriterien RIS‑Justiz RS0126647).

Der einen Verstoß gegen Art 3 MRK behauptende Betroffene hat die erhebliche Wahrscheinlichkeit einer aktuellen, ernsthaften (gewichtigen) Gefahr schlüssig nachzuweisen, wobei der Nachweis hinreichend konkret sein muss. Die bloße Möglichkeit drohender unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung reicht nicht aus. Demnach muss ein konkretes, anhand stichhaltiger Gründe belegbares Risiko bestehen, die betroffene Person würde im Empfangsstaat der tatsächlichen Gefahr einer Art 3 MRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt sein (RIS‑Justiz RS0123229). Diesen Kriterien wird der Antrag nicht gerecht.

Nach den insofern nicht bestrittenen, auf der Auskunft der US‑Behörden beruhenden Feststellungen im Beschluss des Beschwerdegerichts (BS 6 ff) verurteilen Richter im US-Bundesstaat W***** Angeklagte üblicherweise zu Gefängnisstrafen „auf der Grundlage von Anklagepunkten, die gleichzeitig laufen“, sodass ein Angeklagter die Strafe für alle Anklagepunkte gleichzeitig verbüßt. Dementsprechend könnte G***** im Fall anklagekonformer Verurteilung in den die Auslieferung für nicht unzulässig erachteten Anklagepunkten im Fall 10 CF 327 zu einer Haftstrafe von längstens 25 Jahren verurteilt werden. Im Fall 10 CF 507 würde die Maximalstrafe eineinhalb Jahre, im Fall 10 CF 1278 15 Jahre und im Verfahren AZ 16‑cr‑71‑bbc 21 Monate betragen. Der Richter könnte – bei Verurteilung wegen Anklagepunkten in mehr als einem Fall – zudem die gleichzeitige Verbüßung einer Strafe für alle diese Anklagepunkte verfügen.

Das Gericht ist bei der Strafzumessung überdies angewiesen, die Art und Schwere der Straftat, den Charakter des Verurteilten und den Schutz der Gesellschaft miteinfließen zu lassen; der Richter könnte mildernde und erschwerende Umstände berücksichtigen. Als mildernde Umstände kämen das Alter, der Militärdienst und die Unbescholtenheit des Betroffenen in Betracht, als erschwerend, dass er sich dem Verfahren entzogen hat. Eine Absprache („plea bargain“) kann gleichfalls Einfluss auf die Strafe haben (ON 83).

Von dieser Grundlage ausgehend vermag der Erneuerungswerber eine Verletzung von Art 3 MRK nicht darzustellen.

Denn der Antrag legt weder fundiert dar, weshalb es – entgegen der üblichen Praxis der Gerichte im US‑Bundesstaat W***** (BS 6) – gerade im Fall des Erneuerungswerbers (bei Verurteilung wegen mehrerer Anklagepunkte in einer Rechtssache) zu einer konsekutiven Verbüßung von Freiheitsstrafen kommen soll, noch zeigt er konkrete Anhaltspunkte auf, die – ungeachtet der Verpflichtung des Gerichts zur Berücksichtigung auch mildernder Umstände und der Befugnis, die gleichzeitige Verbüßung einer Strafe für alle Anklagepunkte aus mehreren Fällen zu verfügen (BS 7 f) – eine tatsächliche ernsthafte Gefahr einer Verurteilung zu Freiheitsstrafen, deren aufeinanderfolgende Verbüßung einer lebenslangen Freiheitsstrafe faktisch gleich käme, nahelegen würden (vgl auch EGMR 7. 6. 2016, 20672/15, Findikoglu/Deutschland; EGMR 24. 7. 2014, 22205/13, Čalovskis/Lettland).

Auch mit dem Vorbringen, die Einholung einer „konkreten Bandbreitenprognose“ sei (zur Prüfung nach § 20 Abs 3 ARHG) zwingend erforderlich (vgl dazu Göth-Flemmich in WK2 ARHG § 20 Rz 3; zum Erfordernis stichhaltiger Gründe für die Annahme, die betroffene Person sei im Empfangsstaat einer realen Gefahr ausgesetzt vgl neuerlich Findikoglu/Deutschland; EGMR 24. 7. 2014, 22205/13 Rz 28; Grabenwarter/Pabel, EMRK5 § 20 Rz 78), und der unsubstantiierten Behauptung, die Vereinigten Staaten von Amerika würden „eine gerichtsnotorische ständige Praxis umfassender und systematischer Menschenrechtsverletzungen aufweisen“, vermag der Antrag nicht darzulegen, dass der Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung grundrechtsverletzend eine gesetzwidrige oder erheblich bedenkliche Beurteilung zugrunde liege (vgl 15 Os 110/15p).

Auf die unter dem Blickwinkel des Art 3 MRK in Ansehung lebenslanger Freiheitsstrafen bestehenden Anforderungen der Möglichkeit einer Überprüfung bzw einer bedingten Entlassung (vgl RIS‑Justiz RS0126647, RS0126646) ist damit nicht mehr einzugehen.

Der Antrag des William G***** auf Erneuerung des Strafverfahrens war daher – in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur – bereits bei nichtöffentlicher Beratung zurückzuweisen (§ 363b Abs 2 Z 3 StPO). Damit fällt auch die vom Obersten Gerichtshof angeordnete Hemmung der Auslieferung (15 Os 35/19i, 36/19m) weg.

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