OGH 10Ob60/18y

OGH10Ob60/18y13.9.2018

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann, den Hofrat Mag. Ziegelbauer und die Hofrätin Dr. Faber als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden und widerbeklagten Partei B*, vertreten durch Dr. Maria In der Maur‑Koenne, Rechtsanwältin in Wien, gegen die beklagte und widerklagende Partei P*, vertreten durch Dr. Peter Reitschmied, Rechtsanwalt in Neulengbach, wegen Ehescheidung, über die außerordentlichen Revisionen beider Parteien gegen das Urteil des Landesgerichts St. Pölten als Berufungsgericht vom 18. April 2018, GZ 23 R 121/18v‑81, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2019:E122989

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Die außerordentlichen Revisionen der klagenden und widerbeklagten Partei und der beklagten und widerklagenden Partei werden gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

Der Kläger und Widerbeklagte (Kläger) begehrte die Scheidung der mit der Beklagten und Widerklägerin (Beklagte) im Jahr 2000 geschlossenen Ehe.

Die Beklagte erhob einen Mitverschuldenseinwand. Mit ihrer Widerklage begehrte sie die Scheidung aus dem Alleinverschulden des Klägers. Hilfsweise stützte sie die Klage auf § 55 Abs 1 EheG und machte eine dreijährige Trennung geltend.

Das Erstgericht schied die Ehe aus dem überwiegenden Verschulden des Klägers.

Das Berufungsgericht gab den nur gegen den Verschuldensausspruch dieses Urteils erhobenen Berufungen beider Streitteile in der Hauptsache nicht Folge und bestätigte das Ersturteil. Es sprach aus, dass die Revision mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig sei.

Gegen dieses Urteil richten sich die außerordentlichen Revisionen des Klägers und der Beklagten. Der Kläger strebt die Abänderung des Verschuldensausspruchs dahin an, dass die Beklagte das Alleinverschulden – hilfsweise: das überwiegende oder gleichteilige Verschulden – an der Zerrüttung der Ehe treffe. Die Beklagte strebt die Abänderung des Verschuldensausspruchs dahin an, dass den Kläger das Alleinverschulden an der Zerrüttung der Ehe treffe.

Rechtliche Beurteilung

Beide außerordentlichen Revisionen sind mangels Vorliegens einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO zurückzuweisen.

I. Zur außerordentlichen Revision des Klägers:

1.1 Die Vorinstanzen sind davon ausgegangen, dass die sechsmonatige Präklusivfrist zur Erhebung der Widerklage (§ 57 Abs 1 EheG; für die Widerklage RIS‑Justiz RS0057254) im vorliegenden Fall eingehalten wurde, weil sie zwar mit Kenntnis der Beklagten vom letzten Scheidungsgrund Ende Juni 2013 zu laufen begann, aber infolge der Aufhebung der häuslichen Gemeinschaft der Ehegatten seit Anfang Dezember 2013 gehemmt war.

1.2 Dem hält der Kläger in seinem Rechtsmittel entgegen, dass von einer Auflösung der häuslichen Gemeinschaft zu diesem Zeitpunkt noch nicht gesprochen werden könne, weil die Beklagte bis Jänner 2014 Zugriff auf das Konto des Klägers gehabt habe und dieser erst im März 2014 die Ehewohnung verlassen habe.

1.3 Das Berufungsgericht hat bereits in seinem Aufhebungsbeschluss im ersten Rechtsgang zutreffend darauf hingewiesen, dass das Vorliegen einer Wohnungsgemeinschaft nach der Rechtsprechung auch dann verneint werden kann, wenn die Ehegatten in der Wohnung verbleiben. Doch muss dann ein Zustand bestehen, durch den die persönliche Berührung der Ehegatten weitgehend ausgeschaltet ist (RIS‑Justiz RS0057040). Nach den den Obersten Gerichtshof bindenden Feststellungen wurde den Streitteilen im Rahmen einer Familienberatung zwischen 16. 9. 2013 und 28. 11. 2013 geraten, sich zur Gänze aus dem Weg zu gehen, damit sie nicht mehr persönlich aufeinandertreffen. Sie begannen, ihre Lebensbereiche immer mehr zu trennen. Unstrittig hatte die Beklagte zwar Zugriff auf das Konto des Klägers bis Jänner 2014, sie eröffnete aber bereits am 30. 1. 2013 ein eigenes Konto, auf das der Kläger auch immer wieder Geld überwies. Ab Anfang Dezember 2013 kaufte die Beklagte für den Kläger nicht mehr ein, wusch nicht mehr seine Wäsche und kochte nicht mehr für ihn. Der Kläger mietete am 1. 12. 2013 eine Wohnung für sich. Es erfolgte zwar kein gänzlicher Auszug aus der Ehewohnung, die Anwesenheit des Klägers dort wurde aber sukzessive weniger. Die Beurteilung der Vorinstanzen, dass die häusliche Gemeinschaft der Streitteile im Sinn des § 57 Abs 1 EheG Anfang Dezember 2013 aufgelöst war, ist vor diesem Hintergrund vertretbar.

2.1 Als erhebliche Rechtsfrage macht der Kläger in seinem Rechtsmittel geltend, dass die Eheverfehlungen der Beklagten keinesfalls derartig in den Hintergrund träten, dass von seinem überwiegendem Verschulden an der Zerrüttung der Ehe ausgegangen werden könne. Die Beklagte habe den Kläger derb beschimpft, ihn sogar mit dem Tod gedroht, sie habe durch ihr Verhalten ab Dezember 2013 – wozu Feststellungen fehlten – eine aufgrund der Erkrankung des Klägers mögliche tödliche „Blastenkrise“ in Kauf genommen und eine ehewidrige Beziehung zu einem anderen Mann aufgenommen. Erst durch diese Beziehung sei dem Kläger klar vor Augen getreten, dass die Ehe unheilbar zerrüttet sei. Auch dazu fehlten Feststellungen, die bisher getroffenen seien nicht ausreichend, um den Zeitpunkt der unheilbaren Zerrüttung der Ehe rechtlich beurteilen zu können. Die Beklagte habe, wie sich aus ihrer erst im Jahr 2015 eingebrachten Widerklage ergebe, selbst noch an der Ehe festhalten wollen. Schließlich fehlten ausreichend präzise Feststellungen zur „Versöhnungsphase“ im Juni 2013. Der damalige Streit stelle keine derart schwere Eheverfehlung dar, die ein überwiegendes Verschulden des Klägers rechtfertige.

2.2 Bei beiderseitigem Verschulden muss ein sehr erheblicher Unterschied im Grad des Verschuldens gegeben sein, um ein überwiegendes Verschulden eines Teils annehmen zu können. Es ist dabei nicht nur zu berücksichtigen, wer mit der schuldhaften Zerrüttung der Ehe begonnen hat, sondern auch wer entscheidend dazu beigetragen hat, dass die Ehe unheilbar zerrüttet wurde (RIS‑Justiz RS0057057). Ein überwiegendes Verschulden ist nur dort anzunehmen und auszusprechen, wo der graduelle Unterschied der beiderseitigen Verschuldensanteile augenscheinlich und evident hervortritt und das mindere Verschulden fast völlig in den Hintergrund tritt (RIS‑Justiz RS0057821; RS0057325 [T4]). Weil das überwiegende Verschulden, insbesondere bei den Scheidungsfolgen, dem alleinigen Verschulden gleichgesetzt ist, ist ein strenger Maßstab anzulegen (RIS‑Justiz RS0057821 [T8]). Die Verschuldenszumessung bei der Scheidung erfolgt nach den Umständen des Einzelfalls und kann in der Regel keine erhebliche Rechtsfrage begründen (RIS‑Justiz RS0119414).

2.3 Bereits das Erstgericht hat in seiner rechtlichen Beurteilung diese Rechtsprechung beachtet, das Berufungsgericht hat die Entscheidungsgründe des Erstgerichts gebilligt (§ 500a ZPO) und daher nicht lediglich, wie vom Revisionswerber geltend gemacht, die Verschuldensgründe „gegeneinander gewichtet“. Zutreffend hat das Berufungsgericht auch die Rechtsprechung beachtet, wonach bei der Verschuldensabwägung auch auf bereits verziehene Eheverfehlungen Bedacht zu nehmen ist (RIS‑Justiz RS0057143 [T2]). Die Vorinstanzen sind vom Vorliegen von Eheverfehlungen der Beklagten ausgegangen (derbe Beschimpfungen, mögen diese auch Reaktion auf das Verhalten des Klägers gewesen sein; Aufnahme einer ehewidrigen Beziehung zu einem Zeitpunkt, in dem die Ehe fast gescheitert war), die allerdings in die letzte Phase der Beziehung fielen, in der diese fast gescheitert, jedenfalls aber für die Beklagte bereits subjektiv zerrüttet war. Demgegenüber hat der Kläger die Zerrüttung der Ehe begonnen, was gravierend ins Gewicht fällt (RIS‑Justiz RS0056597). Der Kläger hat darüber hinaus durch sein Gesamtverhalten – insbesondere seine seit 2010 anhaltende jahrelange, unbegründete Eifersucht, verbunden mit einem regelrechten Kontrollwahn (etwa durch Ortung des Handys der Beklagten oder der Kinder) sowie durch seine Vorhaltungen gegenüber der Beklagten, die sie ständig zwangen, sich zu rechtfertigen – entscheidend zur Zerrüttung der Ehe beigetragen. Die Rechtsansicht der Vorinstanzen, dass die Eheverfehlungen der Beklagten augenscheinlich gegenüber jenen des Klägers in den Hintergrund treten, ist vor diesem konkreten Hintergrund nicht unvertretbar.

2.4 Die Streitteile versuchten – nicht zuletzt im Hinblick auf die vier gemeinsamen Kinder – im Mai 2013 der Ehe „eine letzte Chance“ zu geben. Bereits im Juni 2013 setzte der Kläger jedoch sein die Beklagte so belastendes Verhalten fort und beschuldigte sie wiederum zu Unrecht einer „Affäre“, die es nicht gab. Bei einem Streit Ende Juni sprang die – damals 10 ½‑jährige – Tochter N* auf und brüllte verzweifelt: „Nun lasst euch doch endlich scheiden!“ Folge dieses Streits und dieser Reaktion ihrer Tochter war, dass die Ehe für die Beklagte subjektiv unheilbar zerrüttet war. Weiters kamen die Streitteile bereits infolge dieses Streits überein, ab sofort an den Wochenenden allein wegzugehen und „jeder sein Leben zu leben“. Das Erstgericht hat daher ausreichend Feststellungen zur vom Kläger behaupteten „Versöhnungsphase“ getroffen. Der bloße Umstand, dass das Erstgericht nicht die vom Kläger gewünschten Feststellungen getroffen hat, hat noch nicht die von ihm in diesem Zusammenhang behauptete sekundäre Mangelhaftigkeit des Verfahrens zur Folge.

2.5 Nach ständiger Rechtsprechung ist unheilbare Zerrüttung dann anzunehmen, wenn die geistige, seelische und körperliche Gemeinschaft zwischen den Ehegatten und damit die Grundlage der Ehe objektiv und wenigstens bei einem Ehegatten auch subjektiv zu bestehen aufgehört haben, und die Wiederherstellung einer Lebensgemeinschaft nicht mehr zu erwarten ist (RIS‑Justiz RS0056832 [T3]). Die Frage, wann eine unheilbare Zerrüttung der Ehe eingetreten ist, hängt jeweils von den Umständen des Einzelfalls ab (RIS‑Justiz RS0056832 [T5]). Die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, dass die Ehe auch für den Kläger subjektiv bereits im Oktober 2013 unheilbar zerrüttet war, steht im Einklang mit seinem Vorbringen, wonach die Ehe für ihn seit Herbst 2013 infolge der Aufnahme einer Beziehung der Beklagten zu einem anderen Mann unheilbar zerrüttet gewesen sei (ON 1 und 4). Der Kläger hat in diesem Zusammenhang insbesondere auch auf ein SMS vom 21. 10. 2013 verwiesen (Blg ./6; ON 10). Der Kläger hat sich wie die Beklagte bereits im August 2013 wegen einer Scheidung beim Bezirksgericht erkundigt. Er begann wenig später als die Beklagte ebenso wie diese eine neue Beziehung. Vor diesem Hintergrund und unter Berücksichtigung der dargestellten Auflösung der häuslichen Gemeinschaft bis Anfang Dezember 2013 ist die rechtliche Beurteilung der Vorinstanzen, dass von einer objektiven unheilbaren Zerrüttung der Ehe mit Anfang Dezember 2013 auszugehen sei, im konkreten Einzelfall nicht unvertretbar. Auf das vom Kläger behauptete Verhalten der Beklagten nach Dezember 2013 kommt es im Hinblick auf die schon vor diesem Zeitpunkt bei beiden Streitteilen eingetretene subjektive Zerrüttung der Ehe im konkreten Einzelfall nicht entscheidend an (RIS‑Justiz RS0057338), sodass auch die in diesem Zusammenhang behauptete sekundäre Mangelhaftigkeit des Verfahrens nicht vorliegt.

II. Zur außerordentlichen Revision der Beklagten:

1. Die Beklagte macht einerseits geltend, dass ihre Beschimpfungen gegenüber dem Kläger keine Eheverfehlung gewesen seien, weil sie bloß eine Reaktion auf das Verhalten des Klägers ihr gegenüber gewesen seien. Verstöße gegen die Pflicht zur anständigen Begegnung, wozu auch wiederholte Beschimpfungen gehören, sofern es sich nicht um milieubedingte Entgleisungen handelt (RIS‑Justiz RS0056652 [T1]), stellen eine schwere Eheverfehlung dar. Das Berufungsgericht hat ohnedies Bedacht darauf genommen, dass die – inhaltlich von der Beklagten in der Revision nicht in Frage gestellten – Beschimpfungen eine Reaktion auf das Verhalten des Klägers waren (vgl RIS‑Justiz RS0057494). Seine Beurteilung, dass diese Beschimpfungen (sich aus den Urkunden ergebende Schimpfwörter, Todeswünsche) im konkreten Fall den Rahmen des Angemessenen sprengten, ist nicht unvertretbar.

2. Die Beklagte führt aus, dass die rechtlich zu beurteilende objektive unheilbare Zerrüttung der Ehe bereits im August 2013 eingetreten sei, weil zu diesem Zeitpunkt beide Streitteile die Ehescheidung einreichen wollten. Es ergibt sich allerdings aus den Feststellungen, dass der Kläger auch nach dem Streit Ende Juni 2013 noch Phasen hatte, in denen er an der Ehe festhalten wollte, er kümmerte sich im Sommer 2013 – wenn auch zu anderen Zeiten als die Beklagte – auch viel um die gemeinsamen Kinder. Die Streitteile hatten seit Juni 2013 getrennte Schlafzimmer und keine Geschlechtsgemeinschaft mehr, die Trennung ihrer häuslichen Lebensbereiche begann jedoch wie ausgeführt erst infolge der von den Streitteilen durchgeführten Familienberatung. Die Beklagte zeigt – wozu auch auf die Ausführungen zur außerordentlichen Revision des Klägers verwiesen werden kann – mit ihren Ausführungen auch in diesem Punkt keine unvertretbare Rechtsansicht der Vorinstanzen auf.

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