OGH 12Os118/17w

OGH12Os118/17w12.10.2017

Der Oberste Gerichtshof hat am 12. Oktober 2017 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Schroll als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. T. Solé, Dr. Oshidari, Dr. Michel‑Kwapinski und Dr. Brenner in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Wetter als Schriftführer in der Strafsache gegen Michael G***** wegen des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 und Abs 4 erster Fall StGB, AZ 9 U 199/16a des Bezirksgerichts Innsbruck, über die von der Generalprokuratur gegen den Beschluss des genannten Gerichts vom 1. Dezember 2016, GZ 9 U 199/16a‑21, sowie gegen weitere Vorgänge erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Mag. Leitner, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2017:0120OS00118.17W.1012.000

 

Spruch:

 

Im Verfahren des Bezirksgerichts Innsbruck gegen Michael G***** wegen des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 und Abs 4 erster Fall StGB verletzen

1./ das Unterlassen einer vorläufigen Einstellung des Verfahrens anlässlich des an den Konfliktregler V***** N***** gerichteten Ersuchens um Durchführung eines Tatausgleichs am 10. August 2016 § 204 Abs 3 letzter Satz StPO iVm § 199 StPO;

2./ der trotz eines zuvor gewählten Vorgehens gemäß § 204 Abs 3 StPO iVm § 199 StPO und Einlangens eines positiven Abschlussberichts des betreffenden Konfliktreglers gefasste Beschluss vom 1. Dezember 2016 auf vorläufige Einstellung des Verfahrens gemäß § 203 (Abs 1) StPO (iVm § 199 StPO) das sich aus § 198 Abs 1 StPO ableitende Kumulierungsverbot sowie

3./ die Zustellung des Beschlusses vom 1. Dezember 2016 an den Verteidiger des Angeklagten noch vor gegenüber der Staatsanwaltschaft erwachsener Rechtskraft § 209 Abs 2 letzter Satz StPO.

Der Beschluss des Bezirksgerichts Innsbruck vom 1. Dezember 2016, GZ 9 U 199/16a‑21, wird aufgehoben und die Sache zur Prüfung eines Vorgehens gemäß § 204 Abs 1 StPO iVm § 199 StPO an das Erstgericht verwiesen.

 

Gründe:

In der Strafsache des Bezirksgerichts Innsbruck gegen Michael G***** wegen § 88 Abs 1 und Abs 4 erster Fall StGB, AZ 9 U 199/16a, legte die Staatsanwaltschaft Innsbruck (AZ 56 BAZ 799/15s) dem Genannten mit Strafantrag vom 31. Mai 2016 zur Last, am 25. Oktober 2015 in I***** Dr. Wolfgang R***** fahrlässig schwer am Körper verletzt zu haben, indem er als verantwortlicher Vorarbeiter nicht für eine zureichende Absicherung des Gehsteiges sorgte, wodurch Dr. Wolfgang R***** als Fußgänger mangels einer (bescheidmäßig jedoch vorgeschriebenen) Überdeckung und Abplankung bzw einer gesicherten Umleitung über eine Stufe stürzte und eine Teilverrenkung des rechten Sprungbeines mit einer mehr als 24 Tage dauernden Gesundheitsstörung erlitt (ON 16).

Die darauf folgende Hauptverhandlung vom 2. August 2016 wurde auf unbestimmte Zeit vertagt, nachdem die „Möglichkeit einer diversionellen Vorgehensweise“ (in Anwesenheit eines Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft) erörtert worden war und der Angeklagte – nach anfänglichem Leugnen – erkennbar eine Bereitschaft zur Verantwortungs-übernahme bekundete, sich aber die Notwendigkeit einer Rücksprache mit der Versicherung des Angeklagten ergeben hatte (ON 17).

Mit Verfügung vom 10. August 2016 übermittelte das Bezirksgericht Innsbruck den Akt dem V***** N***** mit dem „Ersuchen, einen Tatausgleich herbeizuführen“. Dabei merkte es an, dass die Höhe der Pauschalkosten mit einem Betrag von 100 Euro festgesetzt werden würde (ON 1 S 4).

Eine vorläufige Einstellung des Verfahrens gemäß § 204 Abs 3 letzter Satz StPO iVm § 199 StPO erfolgte jedoch nicht.

Am 11. November 2016 erstattete der Verein N***** einen Abschlussbericht. Darin legte dieser dar, dass der – entsprechend belehrte – Angeklagte für die ihm zur Last gelegte Tat einstehe und sich mit der Durchführung eines Tatausgleichs einverstanden erklärt habe. Auch der Geschädigte habe einem Tatausgleich unter der Voraussetzung zugestimmt, dass ein entsprechender Schadenersatz geleistet werde und es keiner Entschuldigung durch den Angeklagten bedürfe, sodass alles weitere über seinen Rechtsanwalt abzuwickeln wäre. Zwischenzeitlich sei ein Schadenersatzbetrag von 2.600 Euro vereinbart und auch bereits von der Haftpflichtversicherung überwiesen worden. Schließlich sei auch der Erlagschein zur Begleichung der Pauschalkosten ausgehändigt worden, sodass die Bedingungen für den Tatausgleich aus sozialarbeiterischer Sicht erfüllt worden seien (ON 18 und 19).

Nachdem in weiterer Folge auch der Pauschalkostenbeitrag entrichtet worden war, stellte das Bezirksgericht Innsbruck das Verfahren gegen Michael G***** – im Übrigen ohne zuvor weitere Verfahrensschritte iSd § 203 Abs 3 StPO (iVm § 199 StPO) zu setzen und die Staatsanwaltschaft gemäß § 209 Abs 2 zweiter Satz StPO zu hören – mit Beschluss vom 1. Dezember 2016 „gemäß § 203 StPO“ für eine Probezeit von zwei Jahren vorläufig ein. Zur Begründung führte es aus, dass „die Voraussetzungen gemäß § 198 StPO“ vorlägen und der Pauschalkostenbeitrag entrichtet worden sei (ON 21).

Die Zustellung dieses Beschlusses wurde gleichzeitig an die Staatsanwaltschaft und an den Verteidiger des Angeklagten verfügt (ON 21 S 2). Sie erfolgte an die Staatsanwaltschaft Innsbruck (durch Aktenübersendung) am 13. Dezember 2016 und an den Verteidiger des Angeklagten am 15. Dezember 2016 (ON 21 S 2 f). Eine – gemäß § 83 Abs 4 letzter Satz StPO (neben der Zustellung an den Rechtsvertreter [Fabrizy, StPO12 § 83 Rz 5; Murschetz, WK‑StPO § 83 Rz 3]) zwingend vorgesehene, gemäß § 209 Abs 2 letzter Halbsatz StPO jedoch erst nach gegenüberder Staatsanwaltschaft eingetretener Rechtskraft vorzunehmende – Zustellung an den Angeklagten selbst und zu dessen eigenen Handen erfolgte nicht.

Gegen diesen Beschluss erhob die Staatsanwaltschaft Innsbruck am 20. Dezember 2016 Beschwerde mit der Begründung, dass ausgehend von der letztlich geständigen Verantwortung des Angeklagten und seiner Bereitschaft, für die Tatfolgen einzustehen, im Hinblick auf die Bindungswirkung iSd § 205 Abs 3 letzter Satz StPO nach Leistung des Pauschalkostenbeitrags gemäß den §§ 198, 204 Abs 1 StPO iVm § 199 StPO vorzugehen gewesen wäre (ON 22).

Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend aufzeigt, steht die Vorgehensweise des Bezirksgerichts Innsbruck in mehrfacher Hinsicht mit dem Gesetz nicht im Einklang:

Rechtliche Beurteilung

1./ Gemäß § 204 Abs 1 StPO iVm § 199 StPO kann das Gericht unter den Voraussetzungen des § 198 StPO von der Verfolgung einer Straftat zurücktreten oder im Fall eines Vorgehens gemäß § 204 Abs 3 StPO endgültig zurücktreten, wenn durch die Tat Rechtsgüter einer Person unmittelbar beeinträchtigt sein könnten und der Beschuldigte bereit ist, für die Tat einzustehen und sich mit deren Ursachen auseinanderzusetzen, wenn er allfällige Folgen der Tat auf eine den Umständen nach geeignete Weise ausgleicht, insbesondere dadurch, dass er den aus der Tat entstandenen Schaden gutmacht oder sonst zum Ausgleich der Folgen der Tat beiträgt, und wenn er erforderlichenfalls Verpflichtungen eingeht, die seine Bereitschaft bekunden, Verhaltensweisen, die zur Tat geführt haben, künftig zu unterlassen (Tatausgleich).

Hiezu kann das Gericht auch einen Konfliktregler ersuchen, das Opfer und den Beschuldigten sowie deren Vertreter über die Möglichkeit eines Tatausgleichs sowie iSd §§ 206 f StPO zu informieren und bei ihren Bemühungen um einen solchen Ausgleich anzuleiten und zu unterstützen. In einem solchen Fall hat das Gericht das Verfahren vorläufig einzustellen (§ 204 Abs 3 StPO iVm § 199 StPO; Schroll, WK‑StPO § 204 Rz 12 und 18/1).

Indem das Bezirksgericht mit Verfügung vom 10. August 2016 zwar den V***** N***** um Herbeiführung eines Tatausgleichs ersuchte (ON 1 S 4) und ihn so iSd § 204 Abs 3 StPO als Konfliktregler beizog, es gleichzeitig aber unterließ, das gegen Michael G***** geführte Verfahren bereits in diesem Zusammenhang vorläufig einzustellen, verletzte es § 204 Abs 3 letzter Satz StPO iVm § 199 StPO (Schroll, WK‑StPO § 204 Rz 11/2, 12 und 18/1).

2./ § 198 Abs 1 StPO sieht – zur Hintanhaltung einer sonst dem Diversionscharakter nicht mehr entsprechenden übermäßigen Inanspruchnahme des Beschuldigten – lediglich die alternative Anwendung der dort aufgezählten vier Arten der diversionellen Erledigung (Z 1 bis Z 4; §§ 200, 201, 203, 204 StPO) vor; eine Kombination oder Kumulierung der Diversionsformen ist hingegen nicht zulässig (RIS‑Justiz RS0118704; 14 Os 21/06d; Schroll, WK‑StPO § 198 Rz 50 f; E. Leitner in Schmölzer/Mühlbacher, StPO §§ 198–199 Rz 49).

Der trotz eines zuvor gewählten Vorgehens gemäß § 204 Abs 3 StPO und Einlangen eines positiven Abschlussberichts des betreffenden Konfliktreglers gefasste Beschluss vom 1. Dezember 2016, GZ 9 U 199/16a‑21, auf vorläufige Einstellung des Verfahrens gemäß § 203 (Abs 1) StPO (iVm § 199 StPO) widerspricht diesem aus § 198 Abs 1 StPO abzuleitenden (arg: „oder“) Kumulierungsverbot.

Daran ändert auch der Umstand nichts, dass eine Beschlussfassung gemäß § 204 Abs 3 letzter Satz StPO und damit eine formelle Einleitung eines Verfahrens nach § 204 Abs 3 StPO (jeweils iVm § 199 StPO) unterblieb, weil das Kumulierungsverbot allein auf die Vermeidung einer materiellen Mehrfachbelastung des Beschuldigten abzielt (vgl Schroll, WK‑StPO § 198 Rz 50 f). Fallaktuell hätte das Gericht demnach zunächst die vom herangezogenen Konfliktregler dargelegten Leistungen des Angeklagten (nachvollziehbar) zu beurteilen bzw ein Vorgehen gemäß § 204 Abs 1 StPO zu prüfen, ein (weiteres diversionelles) Vorgehen gemäß § 203 Abs 1 StPO hingegen zu unterlassen gehabt.

Diese Gesetzesverletzung gereicht dem Angeklagten zum Nachteil, sodass sich der Oberste Gerichtshof veranlasst sah, ihre Feststellung gemäß § 292 letzter Satz StPO mit konkreter Wirkung zu verbinden.

3./ Gemäß § 209 Abs 2 letzter Halbsatz StPO sind diversionelle Verfahrensschritte betreffende Beschlüsse, somit auch jene auf vorläufige Einstellung des Verfahrens gemäß § 203 Abs 1 StPO iVm § 199 StPO, dem Beschuldigten (Angeklagten) erst dann zuzustellen, wenn diese Entscheidung der Staatsanwaltschaft gegenüber in Rechtskraft erwachsen ist (13 Os 47/14g; 11 Os 30/11p; Schroll, WK‑StPO § 203 Rz 23, § 209 Rz 5 und 12; E. Leitner in Schmölzer/Mühlbacher, StPO § 209 Rz 11).

Die im vorliegenden Fall zeitgleich veranlasste Zustellung des Beschlusses vom 1. Dezember 2016, GZ 9 U 199/16a‑21, sowohl an die Staatsanwaltschaft als auch an den Verteidiger des Angeklagten (ON 21 S 2) entsprach diesem Erfordernis nicht.

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