Spruch:
I. Es verletzen folgende Entscheidungen und Vorgänge des Bezirksgerichts Donaustadt das Gesetz, und zwar:
A. im Verfahren AZ 32 U 94/09p
1. der Beschluss vom 13. Oktober 2009 auf vorläufige Einstellung des Verfahrens unter der Voraussetzung künftiger Unterhaltszahlungen durch den Angeklagten während der Probezeit (ON 6) in § 203 Abs 2 StPO iVm § 51 StGB,
2. die gleichzeitige Zustellung des gemäß § 203 Abs 1 StPO iVm § 199 StPO gefassten Beschlusses auf vorläufige Einstellung des Verfahrens an den Angeklagten und die Staatsanwaltschaft in § 209 Abs 2 letzter Satz StPO,
3. die Durchführung der Hauptverhandlung und Urteilsfällung ohne vorangegangene Beschlussfassung auf Fortsetzung des vorläufig eingestellten Verfahrens in § 205 Abs 2 StPO iVm § 199 StPO,
4. die im Urteil vom 19. August 2010 (ON 12) erfolgte Bedachtnahme auf das am selben Tag gefällte Urteil, GZ 32 U 67/10v-13 des Bezirksgerichts Donaustadt, in § 31 StGB,
5. der in der Hauptverhandlung vom 19. August 2010 gefasste Beschluss auf Wiederaufnahme des Verfahrens AZ 32 U 67/10v des Bezirksgerichts Donaustadt in § 353 StPO iVm § 480 StPO;
B. im Verfahren AZ 32 U 67/10v
1. die Unterlassung der Wiederholung der am 11. Juni 2010 vertagten Hauptverhandlung in der Hauptverhandlung am 19. August 2010 in § 276a StPO iVm § 458 zweiter Satz StPO,
2. die in dieser Hauptverhandlung vorgenommene Verlesung der Aussagen der Zeugin Zulfija Ha***** in § 252 Abs 1 Z 4 StPO iVm § 458 zweiter Satz StPO,
3. die Unterlassung der Zustellung des Abwesenheitsurteils (ON 13) samt einer schriftlichen Rechtsbelehrung und des Protokolls über die Hauptverhandlung vom 19. August 2010 in §§ 427 Abs 1 letzter Satz, 271 Abs 6 letzter SatzStPO iVm § 458 zweiter Satz StPO und § 152 Abs 3 Geo.
II. Die Urteile des Bezirksgerichts Donaustadt vom 19. August 2010, GZ 32 U 94/09p-12 und GZ 32 U 67/10v-13, sowie der im Beschluss dieses Gerichts vom 13. Oktober 2009, GZ 32 U 94/09p-6, enthaltene Ausspruch, dass sich der Angeklagte während der Probezeit verpflichtet, „einen Unterhalt in Höhe von € 150,-- monatlich zu zahlen und unaufgefordert dem Gericht dies alle 3 Monate“ nachzuweisen hat, werden aufgehoben.
Die Strafsache AZ 32 U 67/10v wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Bezirksgericht Donaustadt verwiesen.
Im Verfahren AZ 32 U 94/09p wird diesem Gericht aufgetragen, zunächst die Voraussetzungen für eine Fortsetzung des vorläufig eingestellten Verfahrens unter Abstandnahme vom Fortsetzungsgrund nach § 205 Abs 2 Z 2 erster Fall StPO zu prüfen.
Die Staatsanwaltschaft Wien wird mit ihrer im Verfahren AZ 32 U 94/09p des Bezirksgerichts Donaustadt angemeldeten Berufung auf diese Entscheidung verwiesen.
Text
Gründe:
Mit Strafantrag vom 15. Juni 2009 legte die Staatsanwaltschaft Wien im Verfahren AZ 32 U 94/09p des Bezirksgerichts Donaustadt Ramiz H***** ein als Vergehen der Verletzung der Unterhaltspflicht nach § 198 Abs 1 StGB zum Nachteil des mj Alen G***** beurteiltes Verhalten zur Last (ON 3).
In der Hauptverhandlung vom 15. September 2009 wurde die Möglichkeit einer Diversion mit zweijähriger Probezeit erörtert, wobei sich der Angeklagte verpflichtete, 150 Euro monatlich (zu ergänzen: an Unterhalt) zu zahlen und dies alle drei Monate unaufgefordert dem Gericht nachzuweisen (ON 5 S 3).
Nach Vertagung dieser Hauptverhandlung stellte das Bezirksgericht Donaustadt mit - gleichzeitig an den Angeklagten und die Staatsanwaltschaft zugestelltem - Beschluss (der Sache nach) das Strafverfahren unter Bestimmung einer Probezeit von zwei Jahren gemäß § 203 Abs 1 und Abs 2 StPO iVm § 199 StPO vorläufig ein und wies den Angeklagten (ua) darauf hin, dass das Strafverfahren bei nicht hinreichender Erfüllung der übernommenen Pflichten fortgesetzt werden könne (ON 6).
In der Folge legte Ramiz H***** - trotz schriftlicher Aufforderung vom 2. März 2010 (ON 7) - keine Nachweise über geleistete Unterhaltszahlungen vor, weshalb das Bezirksgericht Donaustadt, ohne einen Beschluss auf Fortsetzung des Verfahrens gemäß § 205 Abs 2 StPO iVm § 199 StPO zu fassen, am 8. Juli 2010 die Hauptverhandlung durchführte und diese zur Überprüfung der Ortsanwesenheit des nicht erschienenen Angeklagten auf den 19. August 2010, 14:45 Uhr, vertagte (ON 10).
In dem weiters gegen Rasim H***** wegen des Vergehens der Unterhaltspflicht nach § 198 Abs 1 StGB zum Nachteil des mj Samuel H***** - entgegen § 37 Abs 3 StPO gesondert - geführten Verfahren AZ 32 U 67/10v des Bezirksgerichts Donaustadt wurde nach Vertagung am 11. Juni 2010 die Hauptverhandlung am 19. August 2010 in der Zeit von 08:30 Uhr bis 08:50 Uhr in Abwesenheit des ordnungsgemäß geladenen (ON 10), bereits von der Polizei vernommenen (ON 2 S 15 ff, ON 10) Angeklagten durchgeführt (ON 12). Nach „einverständlichem“ Verzicht auf Neudurchführung setzte das Bezirksgericht das Verfahren gemäß § 276a StPO fort, verlas den gesamten Akteninhalt und erkannte Ramiz H***** schließlich des Vergehens der Verletzung der Unterhaltspflicht nach § 198 Abs 1 StGB schuldig, wobei es ihn zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe verurteilte (ON 12, 13). Den Schuldspruch stützte das Gericht ersichtlich auf die in der Hauptverhandlung verlesenen Angaben der Zeugin Zulfija Ha***** (ON 2 S 21 ff, ON 9 S 2).
In der Folge wurde lediglich eine gekürzte Urteilsausfertigung (ON 13) hergestellt; die Zustellung einer begründeten Urteilsausfertigung samt Rechtsbelehrung sowie des Hauptverhandlungsprotokolls ist unterblieben.
Zu der am Nachmittag des 19. August 2010 anberaumten Hauptverhandlung im Verfahren AZ 32 U 94/09p des Bezirksgerichts Donaustadt wurde der Angeklagte vorgeführt. Als er bei seiner Vernehmung zur Sache über Vorhalt erklärte, er habe den vormittäglichen Verhandlungstermin im Verfahren AZ 32 U 67/10v nicht wahrnehmen können, weil er sich aufgrund des aktuellen Vorführbefehls in Polizeigewahrsam befunden habe, fasste die Bezirksrichterin - ohne einen darauf gerichteten Antrag - den Beschluss auf Wiederaufnahme des Verfahrens AZ 32 U 67/10v (ON 11 S 2).
Nach Verlesung des Akteninhalts wurde der Angeklagte (neuerlich) des Vergehens der Verletzung der Unterhaltspflicht nach § 198 Abs 1 StGB schuldig erkannt und unter Bedachtnahme gemäß §§ 31, 40 StGB auf das nicht rechtskräftige (Abwesenheits-)Urteil im Verfahren AZ 32 U 67/10v zu einer ebenfalls bedingt nachgesehenen Zusatzfreiheitsstrafe verurteilt. Der Angeklagte gab unmittelbar nach Urteilsverkündung einen Rechtsmittelverzicht ab und erklärte, auch das zu AZ 32 U 67/10v ergangene Urteil annehmen zu wollen (ON 11 S 4). Die Staatsanwaltschaft Wien hat im Verfahren AZ 32 U 94/09p des Bezirksgerichts Donaustadt rechtzeitig am 20. August 2010 Berufung wegen Nichtigkeit, Schuld und Strafe angemeldet (FAX-Sendebericht im Akt AZ 32 U 94/09p). Vom Bezirksgericht Donaustadt wurde in der Folge eine gekürzte Urteilsausfertigung (ON 12) hergestellt und am 8. September 2010 eine Endverfügung (ON 13) getroffen. Über die Berufung wurde bisher noch nicht entschieden.
Rechtliche Beurteilung
Wie die Generalprokuratur in ihrer Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend aufzeigt, stehen die beschriebenen Entscheidungen und Vorgänge des Bezirksgerichts Donaustadt mit dem Gesetz mehrfach nicht im Einklang:
A. Zum Verfahren AZ 32 U 94/09p des Bezirksgerichts Donaustadt:
1. Als Pflichten bei vorläufiger Einstellung des Verfahrens gemäß § 203 Abs 2 StPO kommen nur solche in Betracht, die als Weisungen nach § 51 StGB vom erkennenden Gericht in einem Strafurteil oder nachträglich während einer Probezeit erteilt werden könnten (Fabrizy, StPO10 § 203 Rz 4; Schroll, WK-StPO § 203 Rz 4). Die Weisung bedarf einer spezifischen Verhaltensaufforderung, die über das generelle und daher nicht eigens hervorzuhebende Verbot hinausgeht, neuerlich strafbare Handlungen zu begehen. Daher kann eine Anordnung, den Unterhalt laufend zu zahlen (womit lediglich das in § 198 StGB statuierte Verbot positiv umschrieben wird), nicht zum Gegenstand einer Weisung (Schroll in WK2 § 51 Rz 6 mwN) - und daher ebensowenig einer Verpflichtung nach § 203 Abs 2 StPO - gemacht werden. Diese unzulässig zur Voraussetzung für eine endgültige Verfahrenseinstellung gemäß § 203 Abs 4 iVm § 199 StPO gemachte Bedingung war zur Klarstellung zu beseitigen (vgl RIS-Justiz RS0116267; Ratz, WK-StPO § 292 Rz 45).
2. Gemäß § 209 Abs 2 StPO sind diversionelle Verfahrensschritte betreffende Beschlüsse, somit vorliegend auch jener auf vorläufige Einstellung des Verfahrens gemäß § 203 Abs 1 und 2 StPO iVm § 199 StPO (ON 6) zuerst der Staatsanwaltschaft zuzustellen und dem Beschuldigten (Angeklagten) erst, nachdem diese Entscheidung der Anklagebehörde gegenüber in Rechtskraft erwachsen ist (Schroll, WK-StPO § 203 Rz 23, § 209 Rz 5). Die gleichzeitige Zustellung an den Angeklagten und die Staatsanwaltschaft entsprach diesem Erfordernis nicht.
3. Über die Fortsetzung eines vom Gericht vorläufig eingestellten Verfahrens ist mit Beschluss (§ 205 Abs 2 StPO iVm § 199 StPO) zu entscheiden, der sowohl vom Beschuldigten als auch von der Staatsanwaltschaft angefochten werden kann (§§ 87 Abs 1, 209 Abs 2 und 3 StPO; Schroll, WK-StPO § 205 Rz 21, § 209 Rz 15). Da einer Beschwerde gegen die nachträgliche Fortsetzung des Strafverfahrens aufschiebende Wirkung zukommt (§ 209 Abs 3 letzter Satz StPO), ist die Durchführung einer Hauptverhandlung erst nach Rechtskraft eines - vorliegend jedoch gar nicht gefassten - Fortsetzungsbeschlusses zulässig. Es hätte daher weder die Hauptverhandlung durchgeführt noch das Urteil gefällt werden dürfen.
4. Im erwähnten Urteil wurde gemäß §§ 31, 40 StGB auf das Urteil des Bezirksgerichts Donaustadt vom 19. August 2010, GZ 32 U 67/10v-13, Bedacht genommen, obwohl § 31 StGB die Rechtskraft der früheren Verurteilung voraussetzt (Fabrizy, StGB10 § 31 Rz 10).
5. Gegenstand einer Wiederaufnahme (hier: gemäß § 353 iVm § 480 StPO zugunsten des Verurteilten) kann nur eine rechtskräftige Verurteilung (Lewisch, WK-StPO § 353 Rz 3) bei Vorliegen eines Antrags eines Berechtigten (§ 354 StPO) sein. Das im Verfahren AZ 32 U 67/10v des Bezirksgerichts Donaustadt gefällte Abwesenheitsurteil war demgegenüber weder rechtskräftig noch wurde ein entsprechender Antrag gestellt.
B. Zum Verfahren AZ 32 U 67/10v des Bezirksgerichts Donaustadt:
1. Nach der - gemäß § 458 zweiter Satz StPO auch für die Verhandlung vor dem Bezirksgericht geltenden - Bestimmung des § 276a StPO ist die Fortsetzung einer vertagten Verhandlung nur zulässig, wenn seit der Vertagung nicht mehr als zwei Monate verstrichen sind oder beide Teile auf die Wiederholung wegen Überschreitung der Frist von zwei Monaten verzichten. Die Hauptverhandlung vom 19. August 2010 hätte daher wiederholt werden müssen, weil die vorangegangene vertagte Hauptverhandlung bereits am 11. Juni 2010 (ON 9) stattgefunden hatte und der im Hauptverhandlungsprotokoll vom 19. August 2010 ersichtliche „einverständliche“ Verzicht auf die Neudurchführung (ON 12 S 2) nicht die erforderliche Zustimmung des abwesenden Angeklagten umfassen konnte.
2. Überdies war die in dieser Hauptverhandlung vorgenommene Verlesung der Aussagen der Zeugin Zulfija Ha***** unzulässig. Amtliche Protokolle über die Vernehmung von Zeugen dürfen bei sonstiger Nichtigkeit nur in den im Gesetz genannten Fällen (§ 252 Abs 1 Z 1 bis 4 StPO) verlesen werden. Einer der dort genannten Ausnahmefälle lag nicht vor; insbesondere kann aus dem Nichterscheinen des Angeklagten zur Hauptverhandlung keine Verlesungszustimmung im Sinn des § 252 Abs 1 Z 4 StPO abgeleitet werden (RIS-Justiz RS0117012; Kirchbacher, WK-StPO § 252 Rz 103).
3. Gemäß § 427 Abs 1 letzter Satz StPO ist das Abwesenheitsurteil dem Angeklagten in seiner schriftlichen Ausfertigung persönlich zu eigenen Handen zuzustellen (§ 83 Abs 3 erster Satz und Abs 4 zweiter Satz StPO) und nach § 152 Abs 3 Geo stets eine schriftliche - und vollständige - Rechtsmittelbelehrung anzuschließen (Bauer/ Jerabek, WK-StPO § 427 Rz 16). Gemäß § 271 Abs 6 letzter Satz StPO ist im Übrigen eine Ausfertigung des Protokolls über die Hauptverhandlung den Parteien, soweit sie nicht darauf verzichtet haben, ehestmöglich, spätestens aber zugleich mit der Urteilsausfertigung zuzustellen (Danek, WK-StPO § 271 Rz 40). Indem das Bezirksgericht Donaustadt lediglich eine gekürzte Urteilsausfertigung herstellte und die Zustellung des Urteils, einer Rechtsmittelbelehrung und des Protokolls über die Hauptverhandlung unterließ, ist es auch all diesen Verpflichtungen nicht nachgekommen.
Da die aufgezeigten Gesetzesverletzungen dem Angeklagten zum Nachteil gereichten, sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst, die bezeichneten Urteile aufzuheben und die Neudurchführung des Verfahrens AZ 32 U 67/10v des Bezirksgerichts Donaustadt anzuordnen (§ 292 letzter Satz StPO). Im Verfahren AZ 32 U 94/09p wird dieses Gericht zunächst zu prüfen haben, ob eine Fortsetzung des vorläufig eingestellten Verfahrens aus einem anderen Grund als jenem nach § 205 Abs 2 Z 2 erster Fall StPO in Betracht kommt.
Die von den kassierten Urteilen rechtslogisch abhängigen Verfügungen gelten damit gleichermaßen als beseitigt (RIS-Justiz RS0100444).
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