OGH 6Ob103/17s

OGH6Ob103/17s7.7.2017

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.-Prof. Dr. Kuras als Vorsitzenden und durch die Hofräte Dr. Schramm, Dr. Gitschthaler, Univ.‑Prof. Dr. Kodek und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Außerstreitsache des Antragstellers M***** P*****, Frankreich, vertreten durch Dr. Gottfried Forsthuber, Rechtsanwalt in Baden bei Wien, gegen die Antragsgegnerin I***** V*****, vertreten durch Dr. Gerhard Ebenbichler, Rechtsanwalt in Wien, wegen Rückführung der minderjährigen Z***** P*****, geboren am 28. Juni 2013, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Landesgerichts Wiener Neustadt als Rekursgericht vom 25. April 2017, GZ 16 R 91/17x-86, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Wiener Neustadt vom 17. Februar 2017, GZ 9 Ps 99/16v‑72, mit Maßgabe bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2017:0060OB00103.17S.0707.000

 

Spruch:

Aus Anlass des außerordentlichen Revisionsrekurses wird die angefochtene Entscheidung als nichtig aufgehoben und dem Rekursgericht eine neuerliche Entscheidung aufgetragen.

Der Antrag des Antragstellers auf Zuspruch von Kosten für seine Revisionsrekursbeantwortung wird abgewiesen.

 

Begründung:

Z***** P*****, geboren am 28. Juni 2013, ist das uneheliche Kind der Streitteile. Der Antragsteller hat die Vaterschaft anerkannt. Die Familie lebte zunächst in Frankreich. Zwischen den Streitteilen ist es nicht (mehr) strittig, dass die Antragsgegnerin das Kind am 30. 3. 2016 widerrechtlich iSd Art 3 Haager Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung, BGBl 512/1988, (HKÜ) nach Österreich verbracht hat. Am 1. 12. 2016 wurde dem Antragsteller in Frankreich die alleinige Obsorge für das Kind übertragen und dessen Aufenthalt am Wohnsitz des Antragstellers festgelegt; der Antragsgegnerin wurde ein Kontaktrecht eingeräumt.

Das Erstgericht trug der Antragsgegnerin auf, das Kind unverzüglich spätestens binnen 14 Tagen in das Hoheitsgebiet der Republik Frankreich zurückzubringen und davon den Antragsteller, das französische Pflegschaftsgericht und das Erstgericht nachweislich zu verständigen. Für den Fall eines fruchtlosen Verstreichens dieser Frist ordnete das Erstgericht detaillierte Vollzugsmaßnahmen an. Den Behauptungen der Antragsgegnerin, die zwangsweise Rückführung des Kindes nach Frankreich zu einer ihm unbekannten Familie wäre schädlich und würde zu dessen Traumatisierung führen, außerdem hätte eine Trennung des Kindes von der Antragsgegnerin als Mutter und Hauptbezugsperson gravierende psychische Folgen für das Kind, hielt das Erstgericht entgegen, der Ausnahmetatbestand des Art 13 Abs 1 lit b HKÜ sei restriktiv auszulegen, weshalb nur eine schwerwiegende Gefährdung des Kindeswohls die Verweigerung des Vollzugs rechtfertigen könnte; eine solche sei aber nicht zu erkennen.

Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung mit der Maßgabe, „dass zuvor vom Antragsteller ein vom zuständigen französischen Pflegschaftsgericht einzuholendes Sachverständigengutachten zum psychischen Gesundheitszustand [des Antragstellers] vorgelegt wird; die [vom Erstgericht angeordnete] 14‑tägige Leistungsfrist beginn[e erst] mit Vorlage dieses Gutachtens“. Den Revisionsrekurs erklärte es für nicht zulässig.

In der Sache selbst teilte es die Auffassung des Erstgerichts, dass eine schwerwiegende Gefährdung des Kindeswohls nicht erkennbar sei. Die Entscheidung über die Rückführung des Kindes komme allein dem Pflegschaftsgericht im Ursprungsstaat zu, das zu klären habe, welchem Elternteil das Kind aufgrund der maßgebenden Umstände des Einzelfalls unter Berücksichtigung des vorrangigen Kindeswohls anzuvertrauen sei. Damit sei mit der Rückführungsanordnung nicht notwendigerweise die Trennung des Kindes vom entführenden Elternteil verbunden, auch wenn hier zu beachten sei, dass die Rückführung aufgrund der französischen Obsorgeentscheidung die Rückgabe des Kindes an den Antragsteller bedeuten werde. Allerdings nahm das Rekursgericht auf eine Eingabe der Antragsgegnerin Bezug, mit welcher diese ein Privatgutachten vorgelegt und dazu ausgeführt hatte, dass der Antragsgegner unter einer bedeutenden psychischen Beeinträchtigung leide; dies ergebe sich auch aus einem im Juni 2015 vom französischen Pflegschaftsgericht eingeholten Gerichtssachverständigengut-achten. Der Antragsgegner habe seit seiner Jugend bis zum frühen Erwachsenenalter unter Stimmungsschwankungen im Sinn einer bipolaren Störung gelitten und leide noch immer, wobei die Tendenz bestehe, hypochondrisch zu reagieren; die Erkrankung mache eine medikamentöse und psychologische Therapie und eine Unterstützung bei der Elternschaft notwendig. Unter Bezugnahme auf das französische Gerichtssachverständigengutachten erkannte das Rekursgericht Anhaltspunkte für die Richtigkeit dieser Behauptungen der Antragsgegnerin und nahm an, dass eine (derartige) gravierende psychische Beeinträchtigung für das Kind eine erhebliche Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens bedeuten könnte, was einer Rückführung des Kindes zum Vater entgegenstehen würde. Deshalb sei– als Maßnahme iSd Art 11 Abs 4 Brüssel IIa-VO – die Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Frage notwendig, ob der Antragsgegner aktuell an einer geistigen Störung oder einer physischen oder psychischen Beeinträchtigung leidet, die kurz- oder langfristige Folgen für die Ausübung der elterlichen Funktion haben könnten.

Rechtliche Beurteilung

Aus Anlass des außerordentlichen Revisionsrekurses der Antragsgegnerin war der angefochtene Beschluss als nichtig aufzuheben.

1. Die Antragsgegnerin macht im Revisionsrekursverfahren primär geltend, die Vorinstanzen hätten es zu Unrecht unterlassen, ein von ihr beantragtes kinderpsychologisches oder kinderpsychiatrisches Sachverständigengutachten zur Frage, „ob die beantragte Rückführung [des Kindes] zum Antragsteller nach Frankreich und die damit resultierende dauerhafte Trennung von der [Antragsgegnerin] als Hauptbezugsperson mit einer schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist“, einzuholen; mit der „Abnahme des Kindes von der [Antragsgegnerin] als Hauptbezugsperson [wäre eine derartige Gefahr] im Sinn einer schweren Traumatisierung [des Kindes] verbunden,“ weil „aufgrund der in Frankreich bestehenden alleinigen Obsorge des Antragstellers eine Trennung [des Kindes] von der Antragsgegnerin als Hauptbezugsperson im Fall einer Rückführung des Kindes nach Frankreich gewiss wäre“. Im Übrigen hätte das Kind von einem kinderpsychologischen oder kinderpsychiatrischen Sachverständigen iSd § 105 AußStrG angehört werden müssen.

1.1. Die Antragsgegnerin übersieht mit ihrer Argumentation allerdings, dass auch im Verfahren außer Streitsachen eine vom Rekursgericht verneinte Mangelhaftigkeit des Verfahrens erster Instanz nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs im Revisionsrekursverfahren nicht mehr geltend gemacht werden kann (RIS-Justiz RS0121265 [T12], RS0050037, RS0030748). Diese Regel kann zwar in Obsorge-, Kontaktregelungs- und Rückführungsverfahren nach dem HKÜ in Fällen der Gefährdung des Kindeswohls durchbrochen werden (RIS‑Justiz RS0050037 [T4]; 8 Ob 25/16h iFamZ 2016/179 [ThomaTwaroch]); nach ständiger Rechtsprechung des erkennenden Senats ist aber im Verfahren nach dem HKÜ im Interesse der Beschleunigung des Verfahrens grundsätzlich kein Sachverständigengutachten einzuholen (RIS‑Justiz RS0108469 [T3]; jüngst 6 Ob 99/16a iFamZ 2016/170 [Fucik]).

1.2. Was die Anhörung des Kindes nach § 105 AußStrG betrifft, so hat nach §§ 111a, 105 Abs 2 AußStrG eine Befragung unter anderem zu unterbleiben, wenn eine überlegte Äußerung nicht zu erwarten ist. Dies ist bei Kindern regelmäßig bis zum Erreichen des 5. oder 6. Lebensjahres der Fall (6 Ob 75/13t iFamZ 2013/120 [Fucik] unter Hinweis auf Völkl-Kernstock/Bein/Licpera/Friedrich, Evaluierung kinderpsychologischer Sachverständigengutachten aus der Sicht österreichischer Familienrichter, iFamZ 2006, 241; Beck, Kindschaftsrecht [2009] Rz 626/6; Barth/Gröger, Das Neue Kinderbeistands-Gesetz im Überblick, iFamZ 2010, 221 mwN; Gitschthaler in Kodek/Schwimann, ABGB4 [2012] § 146b Rz 17; vgl auch 6 Ob 2/11d EF-Z 2011/51 [Beck]). Das Kind ist hier jedoch erst 2013 geboren.

2. Warum Art 13 Abs 1 lit b HKÜ und Art 11 Abs 4 Brüssel IIa-VO gemeinschaftsrechtswidrig sein sollten, indem sie gegen Art 3 (Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit), Art 20 (Gleichheitsgrundsatz) und Art 24 (Rechte des Kindes) der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) verstoßen, ist nicht erkennbar. Beide Bestimmungen nehmen auf das Wohl und den Schutz des Kindes iSd Art 24 Abs 2 GRC Bedacht, woran auch nichts ändert, dass nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs der Ausnahmetatbestand des Art 13 Abs 1 lit b HKÜ eng auszulegen und deshalb auf wirklich schwere Gefahren zu beschränken ist (RIS-Justiz RS0074568 [T8]). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) anerkennt in ständiger Rechtsprechung, dass die den Staaten unter Art 8 EMRK auferlegten Pflichten im Bereich der Kindesentführung im Lichte des HKÜ, der Kinderrechtskonvention sowie der einschlägigen Regelungen und Prinzipien des Völkerrechts auszulegen sind. Der entscheidende Punkt sei, ob im Rahmen des den Staaten zustehenden Ermessensspielraums ein faires Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Interessen – denen des Kindes, der Eltern und der öffentlichen Ordnung – gewahrt wurde. Dabei sei zu berücksichtigen, dass das Kindeswohl an erster Stelle stehen muss und die Aspekte der Prävention und der unverzüglichen Rückführung zum Konzept des Kindeswohls gehören (26. 11. 2013 Bsw 27853/09 – X/Lettland). Der EGMR hielt dabei zwar fest, dass sowohl Art 8 EMRK als auch aus dem HKÜ deutlich machten, dass angesichts der darin ausdrücklich festgelegten Ausnahmen vom Prinzip der unverzüglichen Rückführung eine solche nicht automatisch oder schematisch angeordnet werden kann und dass die nationalen Gerichte eine detaillierte Prüfung der gesamten familiären Situation vornehmen müssen (26. 11. 2013, Bsw 27853/09 – X/Lettland; vgl auch Bsw 41615/07 – Neulinger und Shuruk/Schweiz); gerade eine solche Prüfung haben die Vorinstanzen im vorliegenden Fall aber vorgenommen. Im Übrigen hat nach Art 24 Abs 3 GRC jedes Kind Anspruch auf regelmäßige persönliche Beziehungen und direkte Kontakte zu beiden Elternteilen (es sei denn, dies steht seinem Wohl entgegen), was aber gerade durch ein widerrechtliches Verbringen iSd Art 3 HKÜ zwischen Kind und Antragsteller verhindert wird.

3. Die Antragsgegnerin spricht zwar in ihren Revisionsrekursdarlegungen nicht explizit den Gesundheitszustand des Antragstellers an, verweist jedoch mehrfach darauf, dass die Rückführung des Kindes nach Frankreich mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden sein könnte, und schließt ihrem Revisionsrekurs ein Privatgutachten an, in welchem unter anderem von einer bipolaren Erkrankung des Antragstellers gemeinsam mit hypochondrischen Ängsten und einer gravierenden psychischen Beeinträchtigung die Rede ist; das Privatgutachten bezieht sich insoweit auf ein psychiatrisches Gerichtssachverständigengutachten, welches im Juni 2015 in Frankreich eingeholt worden war. Das Rekursgericht nahm dieses Privatgutachten zum Anlass, die Rückführung des Kindes in das Hoheitsgebiet der Republik Frankreich an die erwähnte Bedingung zu knüpfen, „dass zuvor vom Antragsteller ein vom zuständigen französischen Pflegschaftsgericht einzuholendes Sachverständigengutachten zum psychischen Gesundheitszustand [des Antragstellers] vorgelegt wird; die [vom Erstgericht angeordnete] 14‑tägige Leistungsfrist beginn[e erst] mit Vorlage dieses Gutachtens“.

3.1. Nach Art 11 Abs 4 Brüssel IIa-VO kann ein Gericht (im Fluchtsstaat) die Rückgabe eines Kindes aufgrund Art 13 Abs 1 lit b HKÜ nicht verweigern, wenn nachgewiesen ist, dass angemessene Vorkehrungen getroffen wurden, um den Schutz des Kindes nach seiner Rückkehr (in den Ursprungsstaat) zu gewährleisten. Diese Bestimmung ist primär auf Fälle zugeschnitten, in denen die Kindeswohlgefährdung unmittelbare Folge der Rückführung des Kindes ist (Rauscher in Rauscher, EuZPR/EuIPR4 [2015] Art 11 Brüssel IIa-VO Rz 23), etwa weil dem antragstellenden Elternteil zwischenzeitig im Ursprungsstaat die alleinige Obsorge für das Kind zuerkannt wurde und dieser Elternteil beispielsweise gewalttätig ist (Rauscher aaO); dieses Beispiel lässt sich auch auf Fälle erheblicher geistiger Beeinträchtigungen des antragstellenden Elternteils, mit denen eine Kindeswohlgefährdung verbunden ist, übertragen. Dass nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs das HKÜ nicht die Rückgabe des entführten Kindes an den anderen Elternteil verlangt, sondern (bloß) dessen Rückkehr in das Staatsgebiet des Herkunftsstaats (5 Ob 47/09m iFamZ 2009/216 [Fucik] = ZfRV-LS 2009/46 [Ofner]; 2 Ob 103/09z Zak 2009/574 [Fucik] = iFamZ 2009/253 [Fucik] = EvBl 2009/155 [Spitzer]; 1 Ob 176/09b iFamZ 2010/39 [Fucik]; 2 Ob 90/10i; 6 Ob 66/14w iFamZ 2014/117 [Fucik]), ändert daran nichts: Wie Rauscher (aaO) zutreffend ausführt, lässt sich (bei nunmehriger Alleinobsorge des Antragstellers) eine Kindeswohlsicherung nur realisieren, wenn im Ursprungsstaat bereits Maßnahmen getroffen wurden. Allein dass im Ursprungsstaat Gesetze zum Schutz des Kindes existieren und deshalb Maßnahmen gesetzt „werden können“ (1 Ob 194/10a), reicht nicht aus; die Behörden müssen vor Rückführung des Kindes im konkreten Fall konkrete Maßnahmen ergriffen haben (Kaller-Pröll in Fasching/Konecny² V/2 [2010] Art 11 EuEheKindVO Rz 17; ebenso Rauscher aaO Rz 22 unter Hinweis auf OLG Hamm NJW-RR 2013, 69).

Dass das Rekursgericht als Tatsacheninstanz die Möglichkeit einer Kindeswohlgefährdung aufgrund einer möglichen Beeinträchtigung des Antragstellers angenommen hat, entzieht sich dabei einer Beurteilung durch den Obersten Gerichtshof.

3.2. Der Antragsteller weist in seiner Revisionsrekursbeantwortung darauf hin, das Rekursgericht habe mit seiner „Auflage an [ihn], ein Gutachten durch französische Gerichte einholen zu lassen, die ihm zustehende Befugnis [überschritten]“. Tatsächlich versuchte das Rekursgericht durch seine Anordnung letztlich (mittelbar), ausländischen Gerichten den Auftrag zu erteilen, ein gerichtliches Sachverständigengutachten zum psychischen Zustand des Antragstellers einzuholen, wobei ihm offensichtlich vorschwebte, die französischen Gerichte „damit in die Lage [zu] versetze[n], auf sich daraus allenfalls ergebende Erfordernisse in Bezug auf das Kindeswohl umgehend reagieren zu können“. Mit dieser Anordnung hat das Rekursgericht aber letztlich in die nach Art 10 Brüssel IIa-VO weiterhin gegebene internationale Zuständigkeit der französischen Gerichte (siehe 6 Ob 110/17w) eingegriffen. Ein davon trennbarer Entscheidungswille des Rekursgerichts ist nicht feststellbar, weshalb der angefochtene Beschluss zur Gänze als nichtig aufzuheben war.

4. Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 107 Abs 5, § 111a AußStrG.

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