European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2017:0060OB00110.17W.0707.000
Spruch:
Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen (§ 71 Abs 3 AußStrG).
Begründung:
Rechtliche Beurteilung
Es ist im Revisionsrekursverfahren nicht (mehr) strittig, dass die Mutter im März 2016 das 2013 geborene Kind von Frankreich nach Österreich im Sinn der Bestimmungen des Haager Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung, BGBl 512/1988, (HKÜ) entführt hat. Damit haben aber die Vorinstanzen im Hinblick auf Art 10 Brüssel IIa-VO zutreffend die weiterhin bestehende internationale Zuständigkeit französischer Gerichte angenommen und festgestellt, dass für die Entscheidung, der Mutter die alleinige Obsorge für das minderjährige Kind zu übertragen, das von der Mutter angerufene Erstgericht international unzuständig ist.
Die Mutter beruft sich im Revisionsrekursverfahren auf Art 10 lit b sublit iv Brüssel IIa‑VO, wonach internationale Zuständigkeit des Aufenthaltsstaats unter anderem dann gegeben wäre, wenn von den Gerichten des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, eine Sorgerechtsentscheidung erlassen wurde, in der die Rückgabe des Kindes nicht angeordnet wurde. Das Berufungsgericht Bourges habe mit Entscheidung vom 1. 12. 2016 eine derartige Sorgerechtsentscheidung getroffen, jedoch eine Rückgabe des Kindes nicht angeordnet.
Mit ihrer Argumentation übersieht die Mutter allerdings, dass mit dieser Entscheidung dem Vater die alleinige Obsorge zugesprochen wurde. Die genannte Bestimmung zielt primär auf das Verfahren nach Art 11 Abs 7 und 8 Brüssel IIa-VO ab, welches den Gerichten des Ursprungsmitgliedstaats auch im Fall der Ablehnung der Rückgabe durch Gerichte des Aufenthaltsstaats den Entscheidungsvorrang gibt (Rauscher in Rauscher, EuZPR/EuIPR4 [2015] Art 10 Brüssel IIa‑VO Rz 30). Eine solche Verfahrenskonstellation ist hier jedoch nicht gegeben: Durch Art 11 Abs 8 Brüssel IIa‑VO werden nur solche Entscheidungen privilegiert, die später als die Entscheidung im Herausgabeverfahren nach dem HKÜ, also im Aufenthaltsstaat, erlassen wurden, womit verhindert werden soll, dass im Herkunftsland quasi schon vorsorglich das Sorgerecht übertragen wird und Entscheidungen ohne echte Prüfung des Kindeswohls erlassen werden; zudem soll damit ein unkoordiniertes Nebeneinander von Herausgabeverfahren nach dem HKÜ und Sorgerechtsverfahren im Herkunftsstaat beendet werden (6 Ob 113/14g EF‑Z 2014/173 [Nademleinsky] = iFamZ 2014/198 [Fucik] unter Verweis auf Keese, Die Kindesentführung durch einen Elternteil im europäischen und internationalen Zivilprozessrecht [2011] 202 ff). Von den österreichischen Gerichten wurde die Rückgabe des Kindes (bislang) jedoch nicht verweigert. Im Übrigen lässt sich der Entscheidung des Berufungsgerichts Bourges der eindeutige Entscheidungswille entnehmen, dass dem Vater nicht bloß das elterliche Sorgerecht zukommen, sondern das Kind auch bei seinem Vater (in Frankreich) Aufenthalt nehmen soll.
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