OGH 6Ob113/14g

OGH6Ob113/14g30.7.2014

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr.

 Pimmer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schramm, Dr. Gitschthaler, Univ.‑Prof. Dr. Kodek und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Außerstreitsache des Antragstellers J***** S*****, Spanien, vertreten durch Dr. Georg Thum, Rechtsanwalt in St. Pölten als Verfahrenshelfer, gegen die Antragsgegnerin A***** B*****, vertreten durch Mag. Thomas Kaumberger, Rechtsanwalt in Pressbaum als Verfahrenshelfer, wegen Rückführung der mj A***** S*****, geboren am 24. Juli 2000, über den außerordentlichen Revisionsrekurs des Antragstellers gegen den Beschluss des Landesgerichts St. Pölten als Rekursgericht vom 7. Mai 2014, GZ 23 R 104/14d‑166, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2014:0060OB00113.14G.0730.000

 

Spruch:

Der Revisionsrekurs wird mangels Vorliegens der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

1.1.  Art 11 Abs 6‑8 Brüssel IIa‑VO sehen ein spezielles Verfahren für den Fall vor, dass die Gerichte im Zufluchtsstaat den Antrag auf Rückgabe des Kindes ablehnen. In diesem Fall hat das Gericht im Zufluchtsstaat das zuständige Gericht im Herkunftsstaat zu verständigen und ihm innerhalb eines Monats alle Unterlagen zuzusenden. Dieses hat sodann alle beteiligten Personen, also insbesondere die Eltern, von der Ablehnung des Rückgabeantrags zu unterrichten und sie einzuladen, binnen einer Frist von drei Monaten beim Gericht des Ursprungsmitgliedsstaats ein Sorgerechtsverfahren einzuleiten, falls es nicht ohnehin bereits mit einer derartigen Angelegenheit befasst ist. Sodann wird im Herkunftsland das Sorgerechtsverfahren durchgeführt. Die daraufhin ergehende Entscheidung ist nach Art 11 Abs 8 Brüssel IIa‑VO, auch wenn sie die Herausgabe des Kindes anordnet, entsprechend den Vorschriften der Art 40 ff Brüssel IIa‑VO vollstreckbar, und zwar ohne dass es einer Vollstreckbarerklärung bedarf und ohne dass die Anerkennung angefochten werden kann (Art 42 Brüssel IIa‑VO). Damit kommt der späteren Entscheidung des Herkunftsstaats der Vorrang zu.

1.2.  Durch Art 11 Abs 8 Brüssel IIa‑VO werden aber nur solche Entscheidungen privilegiert, die später als die Entscheidung im Herausgabeverfahren nach dem HKÜ erlassen wurden. Damit soll verhindert werden, dass im Herkunftsland quasi schon vorsorglich das Sorgerecht übertragen wird und Entscheidungen ohne echte Prüfung des Kindeswohls erlassen werden. Zudem soll damit ein unkoordiniertes Nebeneinander von Herausgabeverfahren nach dem HKÜ und Sorgerechtsverfahren im Herkunftsstaat beendet werden ( Keese , Die Kindesentführung durch einen Elternteil im europäischen und internationalen Zivilprozessrecht [2011] 202 ff). Gerade dieses Ziel wurde im vorliegenden Fall jedoch nicht erreicht. Völlig zutreffend hat das Rekursgericht erkannt, dass die Obsorgeentscheidung des spanischen Gerichts vom 11. 9. 2009 keine taugliche Grundlage für die Ausstellung einer Bescheinigung nach Art 42 Brüssel IIa‑VO sein kann, weil die zeitliche Abfolge nach Art 11 Abs 6‑8 Brüssel IIa‑VO nicht eingehalten wurde.

2.1.  Wenn eine vollstreckbare Entscheidung vorliegt, ist die Vollstreckung selbst nach § 110 AußStrG durchzuführen. Nach § 110 Abs 3 AußStrG ist jedoch von einer Fortsetzung der Vollstreckung auch von Amts wegen dann abzusehen, wenn das Wohl des Kindes gefährdet ist. Diese Bestimmung ist der Regelung im deutschen Recht nach § 44 IntFamRVG vergleichbar, wonach die Vollstreckung nur unter strikter Beachtung der Grundrechte des Kindes und des Verhältnismäßigkeitsprinzips möglich ist (dazu Keese aaO 208).

2.2.  Nach ständiger Rechtsprechung ist das konkrete Kindeswohl ‑ wie sich gerade aus Art 13 Abs 1 lit b HKÜ ergibt ‑ auch noch im Vollstreckungsverfahren zu beachten und hat Vorrang vor dem vom Übereinkommen angestrebten Ziel, Kindesentführungen ganz allgemein zu unterbinden (RIS‑Justiz RS0106455). Eine Rückführungsentscheidung ist gemäß § 110 Abs 1 AußStrG nicht nach der Exekutionsordnung zu vollstrecken. Vielmehr hat das Gericht nach § 110 Abs 2 AußStrG angemessene Zwangsmittel nach § 79 Abs 2 AußStrG anzuordnen (6 Ob 75/13t). Bei dieser Anordnung kann nach mittlerweile ständiger Rechtsprechung auf das Kindeswohl nur dann Bedacht genommen werden, wenn zwischen der Anordnung der Rückführung und den Vollstreckungsmaßnahmen eine Änderung der Verhältnisse eingetreten ist (RIS‑Justiz RS0106454; 6 Ob 86/13k). Die Fortsetzung des Vollstreckungsverfahrens hängt davon ab, ob infolge der seit Ergehen der Rückführungsentscheidung eingetretenen Entwicklungen das Kindeswohl gefährdet wäre.

2.3.  Dass nach § 110 Abs 3 AußStrG iVm § 111a AußStrG das Gericht ganz allgemein von der Fortsetzung der Vollstreckung absehen kann, ohne dass es auf Änderungen seit der Titelentscheidung ankäme ( Deixler‑Hübner in Rechberger AußStrG 2 § 110 Rz 3), steht der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Rückführungsentscheidung jedenfalls im Anwendungsbereich der Art 10, 11 Brüssel IIa‑VO nicht entgegen. Diese steht vielmehr im Einklang mit der Rechtsprechung des EuGH, der im Zusammenhang mit Art 11 Abs 8 Brüssel IIa‑VO von einer „erheblichen Änderung der das Wohl des Kindes betreffenden Umstände“ spricht, die „gegebenenfalls zur Änderung der Entscheidung des zuständigen Gerichts über die Rückgabe des Kindes führen kann“ (EuGH C‑211/10 PPU, Povse/Alpago iFamZ 2010/212 [ Fucik ]; 6 Ob 134/13v).

3.1.  Nach Art 40 ff Brüssel IIa‑VO sind in einem Mitgliedstaat vollstreckbare Entscheidungen gemäß Art 11 Abs 8 EU‑Ehe‑Kind‑VO über die Rückgabe des Kindes innerhalb der europäischen Union vollstreckbar, ohne dass es einer eigenen Vollstreckbarerklärung im Vollstreckungsstaat bedarf. Erforderlich ist lediglich eine vom Gericht des Ursprungsmitgliedstaats auszustellende Bescheinigung, mit der bestätigt wird, dass die Verfahrensgarantien eingehalten wurden. Dadurch soll sichergestellt werden, dass wesentliche Standards eingehalten werden. Für die Vollstreckung selbst gilt hingegen das jeweilige innerstaatliche Recht (Art 47 Abs 1 EU‑Ehe‑Kind‑VO).

3.2.  In der Auffassung der Vorinstanzen, dass aufgrund der zahlreichen Formmängel keine ordnungsgemäße Bescheinigung vorliege, ist eine vom Obersten Gerichtshof im Interesse der Rechtssicherheit aufzugreifende Fehlbeurteilung nicht zu erblicken. Wenngleich nach Erwägungsgrund 24 Brüssel IIa‑VO offenbar ausreichen soll, dass die Bescheinigung ihren Inhalt erkennen lässt, liegen im vorliegenden Fall zahlreiche formelle Mängel vor, die von der Bezugnahme auf eine bereits vor der Ablehnung der Rückführung ergangene und damit als Basis für eine Rückführungsanordnung nach Art 11 Abs 8 HKÜ gerade nicht ausreichende Entscheidung über unvollständige Antworten, die Verneinung der Vollstreckbarkeit bis zum Fehlen der Beglaubigung und damit der Unmöglichkeit der Feststellung eines Verantwortlichen für die Richtigkeit der Übersetzung reichen. Zumindest in ihrer Gesamtheit sind die Mängel der verschiedenen vorgelegten Bescheinigungen daher jedenfalls ausreichend, die Rückführung zu versagen.

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