European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2017:0120OS00027.17P.0406.000
Spruch:
Im Verfahren AZ 6 U 144/15h des Bezirksgerichts Bregenz verletzt das Abwesenheitsurteil dieses Gerichts vom 7. August 2015, GZ 6 U 144/15h‑19, soweit Manuel V***** auch des im Zeitraum vom 3. Juni 2015 bis 30. Juni 2015 begangenen Vergehens der Verletzung der Unterhaltspflicht nach § 198 Abs 1 StGB schuldig erkannt wurde, den in §§ 6, 451 Abs 1 letzter Satz und 427 Abs 1 StPO zum Ausdruck kommenden Grundsatz des rechtlichen Gehörs nach Art 6 EMRK.
Es werden das Urteil, das im Übrigen unberührt bleibt, im Strafausspruch sowie der zugleich mit dem Urteil gefasste Beschluss im Umfang des Ausspruchs auf Verlängerung einer Probezeit aufgehoben und die Sache insoweit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Bezirksgericht Bregenz verwiesen.
Die Nichtigkeitsbeschwerde im Übrigen wird verworfen.
Gründe:
Mit Strafantrag vom 3. Juni 2015 legte die Staatsanwaltschaft Feldkirch Manuel V***** ein als Vergehen der Verletzung der Unterhaltspflicht nach § 198 Abs 1 StGB beurteiltes Verhalten zur Last. Danach habe er seit Juni 2013 keine oder nur unzureichende Unterhaltszahlungen geleistet und dadurch seine im Familienrecht begründete Unterhaltspflicht gegenüber der am 11. Dezember 2010 geborenen Lisa-Marie H***** verletzt (ON 10).
In der darüber in Abwesenheit des Angeklagten durchgeführten Hauptverhandlung am 1. Juli 2015 dehnte die Staatsanwaltschaft den Strafantrag auf den Zeitraum 22. Juni 2013 bis 30. Juni 2015 aus (ON 14).
Am 2. Juli 2015 verfügte das Bezirksgericht Bregenz die Ladung des in Deutschland lebenden Angeklagten für die für den 7. August 2015 anberaumte Hauptverhandlung samt Zustellung des Protokolls der Hauptverhandlung vom 1. Juli 2015 sowie der neuerlichen Übermittlung des Strafantrags ON 10 sowohl mit internationalem Rückschein als auch auf dem normalen Postweg (ON 15).
Der Angeklagte verweigerte (am 15. und 16. Juli 2015) die Annahme dieser Schriftstücke. Davon erlangte das Bezirksgericht Bregenz erstmals am 7. August 2015 aufgrund eines auf die Annahmeverweigerung verweisenden Postfehlberichts, der auch die zuzustellenden Dokumente enthielt (ON 17), Kenntnis.
In der Hauptverhandlung am 7. August 2015 erkannte das Bezirksgericht den – zur Hauptverhandlung abermals nicht erschienenen – Angeklagten im Sinn des ausgedehnten Strafantrags des Vergehens der Verletzung der Unterhaltspflicht nach § 198 Abs 1 StGB schuldig und verurteilte ihn hiefür zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten. Unter einem sah das Gericht vom Widerruf der zu AZ 6 U 170/13d des Bezirksgerichts Bregenz gewährten bedingten Strafnachsicht ab und verlängerte die diesbezügliche Probezeit auf fünf Jahre (ON 18, 19).
In ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde führt die Generalprokuratur folgendes aus:
Gemäß § 427 Abs 1 erster Satz StPO darf bei sonstiger Nichtigkeit nur dann die Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten durchgeführt und das Urteil gefällt werden, wenn es sich um ein Vergehen handelt, der Angeklagte gemäß den §§ 164 f StPO zum Anklagevorwurf vernommen und ihm die Ladung zur Hauptverhandlung persönlich zugestellt wurde.
§ 11 Abs 1 ZustellG zufolge sind Zustellungen im Ausland nach den bestehenden internationalen Vereinbarungen oder allenfalls auf dem Weg, den die Gesetze oder sonstigen Rechtsvorschriften des Staates, in dem zugestellt werden soll, oder die internationale Übung zulassen, erforderlichenfalls unter Mitwirkung der österreichischen Vertretungsbehörden, vorzunehmen.
§ 179 dritter Satz dZPO – deren Vorschriften gemäß § 37 Abs 1 dStPO für „das Verfahren bei Zustellungen“ auch im Strafverfahren entsprechend anzuwenden sind – sieht vor, dass ein Schriftstück mit der Annahmeverweigerung als zugestellt gilt. Wird die Annahme des zuzustellenden Schriftstückes verweigert, so ist dieses in der Wohnung jedoch zurückzulassen (§ 179 erster Satz dZPO).
Zweck dieser Bestimmung ist es, eine Zustellung auch bei einer Verweigerungshaltung des Adressaten zu ermöglichen, wobei dem Zustellungsadressaten aber gleichzeitig die Gelegenheit gegeben werden soll, seine Annahmeverweigerung zu überdenken und Kenntnis vom Inhalt des betreffenden Schriftstückes zu erlangen. Demnach ist eine Zustellung unwirksam, wenn ein Schriftstück entgegen dieser Bestimmung nicht in der Wohnung des die Annahme verweigernden Adressaten zurückgelassen wird (MüKoZPO/Häublein § 179 Rn. 1 und 7; PG/Tombrink § 179 Rn 4; Wieczorek/Schütze/Rohe § 179 ZPO Rn. 16 und 19; Zöller/Stöber, ZPO, 31. Aufl., § 179 Rn 1; Stein/Jonas/Herbert Roth 23 § 179 Rdnr. 3; Musielak/Voit/Wittschier, ZPO, § 179 Rn. 1 f).
Da fallaktuell die Ladung zur fortgesetzten Hauptverhandlung am 7. August 2015 (gemeinsam mit Ausfertigungen des Strafantrages sowie des Protokolls der Verhandlung vom 1. Juli 2015) bei der Verweigerung der Annahme durch den Angeklagten offensichtlich nicht in dessen Wohnung hinterlegt wurde, lag keine ordnungsgemäße Ladung des Angeklagten im Sinn des § 427 Abs 1 StPO vor. Die Durchführung der Hauptverhandlung und die Urteilsfällung in Abwesenheit des Angeklagten waren demnach nicht zulässig und verletzten das Gesetz in § 427 Abs 1 StPO.
Darüber hinaus steht das Abwesenheitsurteil vom 7. August 2015, soweit es den ausgedehnten Deliktszeitraum (von 3. Juni 2015 bis 30. Juni 2015) umfasst, auch mit dem in den §§ 6, 451 Abs 1 letzter Satzteil und 447 StPO in Verbindung mit § 427 Abs 1 StPO zum Ausdruck kommenden Grundsatz des rechtlichen Gehörs nach Art 6 MRK nicht im Einklang, weil der Angeklagte über die am 1. Juli 2015 in seiner Abwesenheit erfolgte Ausdehnung des Deliktszeitraums – mangels wirksamer Zustellung des betreffenden Protokolls – nicht in Kenntnis gesetzt wurde und daher niemals Gelegenheit hatte, zum erweiterten Anklagevorwurf Stellung zu nehmen (RIS-Justiz RS0111828; RS0099130 [insbesondere T6]).
Da eine dem Angeklagten nachteilige Wirkung dieser Gesetzesverletzungen nicht ausgeschlossen werden kann, wäre ihrem Aufzeigen gemäß § 292 letzter Satz StPO konkrete Wirkung zuzuerkennen.
Rechtliche Beurteilung
Der Oberste Gerichtshof hat erwogen:
1./ § 427 Abs 1 StPO knüpft die Zulässigkeit eines Abwesenheitsurteils (unter anderem) an die persönliche Zustellung der Ladung zur Hauptverhandlung. Soweit nichts besonderes bestimmt ist, gilt für Zustellungen (neben hier nicht maßgeblichen Vorschriften der ZPO) das ZustG (§ 82 Abs 1 StPO). Gemäß § 11 Abs 1 ZustG sind Zustellungen im Ausland nach den bestehenden internationalen Vereinbarungen oder allenfalls auf dem Weg, den die Gesetze oder sonstigen Rechtsvorschriften des Staates, in dem zugestellt werden soll, oder die internationale Übung zulassen, erforderlichenfalls unter Mitwirkung der österreichischen Vertretungsbehörden, vorzunehmen. Kraft der vom Gesetz angeordneten Subsidiarität (arg: „allenfalls“; siehe Frauenberger-Pfeifer in Fasching/Konecny 3 II/2 § 11 ZustG Rz 11) kommt ausländisches Recht nur dann zur Anwendung, wenn internationale Vereinbarungen nicht bestehen (Walter/Mayer, Zustellrecht, § 11 ZustG Anm 4).
Im Hinblick auf die in Art 5 des Vertrags über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU-RHÜ, BGBl III 2005/65) geregelte Übersendung und Zustellung von Verfahrensurkunden spielt daher – entgegen der Auffassung der Generalprokuratur – deutsches Zustellrecht bei der vorzunehmenden Prüfung keine Rolle. Dieses Ergebnis steht auch im Einklang mit der – am Grundsatz „forum regit actum“ orientierten – Konzeption des EU-RHÜ, wonach für Form- und Fristvorgaben das Recht des ersuchenden Staates maßgeblich ist (vgl § 4 Abs 1 EU-RHÜ; Kubiciel in Ambos/König/Rackow, Rechtshilferecht in Strafsachen, Teil 4 Rz 272).
Ob der vorliegende Zustellvorgang zur Fällung eines Abwesenheitsurteils im Sinn des § 427 Abs 1 StPO berechtigte, ist somit nur an der österreichischen Rechtslage zu messen. Nach § 20 Abs 1 ZustG ist das zuzustellende Dokument im Fall einer unberechtigten Annahmeverweigerung an der Abgabestelle zurückzulassen, oder, wenn dies nicht möglich ist, nach § 17 ZustG ohne die dort (vgl § 17 Abs 2 ZustG) vorgesehene Verständigung zu hinterlegen. Im Sinn des § 20 Abs 1 ZustG zurückgelassene Dokumente gelten damit als hinterlegt (§ 20 Abs 2 ZustG).
Abweichend von der – von der Generalprokuratur als maßgeblich erachteten – Vorschrift des § 179 erster Satz dZPO erlaubt § 20 Abs 1 ZustG somit auch die Zustellung durch Hinterlegung bei Unmöglichkeit des Zurücklassens des Dokuments (zur Maßgeblichkeit des Beurteilungshorizonts des Zustellers siehe im Übrigen RIS-Justiz RS0083934; Stummvoll in Fasching/Konecny 3 II/2 § 20 ZustG Rz 2). Dass die zuzustellenden Schriftstücke nicht auf die in § 17 Abs 1 und Abs 3 ZustG vorgesehene Weise (tatsächlich) noch zur Abholung (für zumindest zwei Wochen; § 17 Abs 3 ZustG) tatsächlich bereitgehalten worden wären, behauptet die Beschwerdeführerin, die sich ausschließlich gegen die unterbliebene Zurücklassung der Ladung an der Abgabestelle wendet, aber nicht. Bleibt anzumerken, dass auch die von der Generalprokuratur referierte Aktenlage einer solchen Annahme nicht entgegen stünde.
Damit kann aber eine Verletzung des § 427 Abs 1 StPO wegen Unterbleibens einer „gehörigen“ Ladung nicht festgestellt werden. Die Nichtigkeitsbeschwerde war somit in diesem Umfang zu verwerfen.
2./ Hingegen trifft die Argumentation der Generalprokuratur zu, dass in der Aburteilung auch des zeitlich an den Strafantrag anschließenden Tatzeitraums ein Verstoß gegen den in § 427 Abs 1 StPO verbrieften Grundsatz des rechtlichen Gehörs (Art 6 EMRK; § 6 Abs 1 StPO) zu erblicken ist. Denn insoweit hatte der Angeklagte keine Gelegenheit, zum (zeitlich) über den schriftlichen Strafantrag hinausgehenden Vorwurf der Verletzung der Unterhaltspflicht Stellung zu nehmen (RIS-Justiz RS0111828, RS0099130).
Da sich diese Gesetzesverletzung bloß auf einen Einzelabschnitt einer tatbestandlichen Handlungseinheit bezieht, ändert sich der Schuldspruch auch bei gedanklicher Eliminierung des von der Gesetzesverletzung betroffenen Tatzeitraums nicht (vgl RIS-Justiz RS0128941). Gemäß § 292 letzter Satz StPO sah sich der Oberste Gerichtshof daher (nur) dazu veranlasst, der festgestellten Rechtsverletzung im Umfang der Aufhebung des Strafausspruchs (einschließlich des die Verlängerung der Probezeit anordnenden Beschlusses) konkrete Wirkung zu verleihen. Denn insoweit brachte das Erstgericht „einen Deliktszeitraum von über zwei Jahren“ (22. Juni 2013 bis 30. Juni 2015) als erschwerend in Anschlag (US 5), welche Annahme bei Subtraktion des von der Gesetzesverletzung befallenen Tatzeitraums nicht aufrecht erhalten werden kann. Insoweit ist daher ein Nachteil für den Angeklagten nicht auszuschließen.
Vom der Urteilskassation rechtslogisch abhängige Entscheidungen und Verfügungen sind damit – ohne dass auch deren Aufhebung erforderlich wäre – gleichermaßen beseitigt (vgl RIS-Justiz RS0100444).
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)