OGH 12Os162/16i

OGH12Os162/16i30.12.2016

Der Oberste Gerichtshof hat am 30. Dezember 2016 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Schroll als Vorsitzenden, den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Philipp und durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. T. Solé in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Jorda als Schriftführerin in der Übergabesache des Mark G*****, AZ 313 HR 26/16w des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über die Grundrechtsbeschwerde des Genannten gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Beschwerdegericht vom 22. November 2016, AZ 22 Bs 301/16z, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:0120OS00162.16I.1230.000

 

Spruch:

Mark G***** wurde im Grundrecht auf persönliche Freiheit nicht verletzt.

Die Beschwerde wird abgewiesen.

Gründe:

Mit Beschluss vom 31. Mai 2016 (ON 22) verhängte das Landesgericht für Strafsachen Wien die Übergabehaft über Mark G***** aus den Haftgründen der Flucht- und Tatbegehungsgefahr gemäß § 173 Abs 2 Z 1 und 3 lit b StPO iVm § 35 JGG, § 18 EU-JZG und setzte sie zuletzt am 2. November 2016 (ON 56) fort. Der dagegen gerichteten Haftbeschwerde gab das Oberlandesgericht Wien mit dem nunmehr angefochtenen Beschluss nicht Folge und setzte die Übergabehaft aus den Haftgründen der Flucht‑ und Tatbegehungsgefahr nach § 173 Abs 2 Z 1 und 3 lit b StPO iVm § 18 EU‑JZG, § 29 ARHG und § 35 JGG fort.

Nach der Beschwerdeentscheidung (BS 3 erster Absatz iVm ON 44 S 3 iVm ON 33 S 5 ff) ergaben sich aus den Europäischen Haftbefehlen des Bezirksgerichts Dunakeszi vom 11. März 2016, AZ 6.Fk.328/2015, und des Bezirksgerichts Budapest Umgebung vom 6. April 2016, AZ 3.Bny.115/2016, hinreichende Gründe für die Annahme, der Betroffene habe eine Vielzahl nach österreichischem Recht als die Verbrechen der Erpressung nach § 144 Abs 1 StGB, die Vergehen der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB, das Vergehen der Sachbeschädigung nach § 125 StGB, die Verbrechen des Raubes nach § 142 Abs 1 und Abs 2 StGB, das Vergehen des Diebstahls durch Einbruch nach §§ 127, 129 Abs 1 Z 1 StGB und das Vergehen der Beleidigung nach § 115 Abs 1 StGB zu beurteilender strafbarer Handlungen begangen.

Die Haftgründe der Flucht‑ und Tatbegehungsgefahr gemäß § 173 Abs 2 Z 1 und 3 lit b StPO gründete das Oberlandesgericht (BS 3 f) auf die Befürchtung, dass sich der in Österreich weder sozial noch beruflich integrierte Betroffene, der nach einem Monat Aufenthalt in Österreich am 30. Jänner 2016 festgenommen und vom Landesgericht Eisenstadt am 30. Mai 2016 wegen des Verbrechens des Diebstahls durch Einbruch nach §§ 127, 129 Abs 1 Z 1 und Abs 2 Z 1, 15 Abs 1 StGB und anderer strafbarer Handlungen zu einer – teilweise bedingt nachgesehenen – Freiheitsstrafe verurteilt wurde, dem Verfahren im Zielstaat aufgrund einer zu erwartenden hohen Freiheitsstrafe nicht stellen wolle und sich diesem durch Flucht entziehen werde. Aufgrund der Vielzahl der ihm in Ungarn zur Last gelegten Tathandlungen und dem in Österreich gezeigten kriminellen Verhalten sei zu befürchten, dass der Betroffene weitere strafbare Handlungen mit nicht bloß leichten Folgen begehen werde, die gegen dasselbe Rechtsgut wie die ihm nun angelasteten gerichtet sind.

Aufgrund der konkreten Tatmodalitäten – nämlich insbesondere auch in einer Jugendbetreuungseinrichtung gezeigter Gewalthandlungen – und der beim Betroffenen anzunehmenden Persönlichkeitsstörung mit dissozialen Anteilen und Störung der Impulskontrolle kämen gelindere Mittel zur Substituierung der Haft gegenwärtig nicht in Betracht. Eine Unverhältnismäßigkeit der Fortsetzung der Übergabehaft sei – trotz Überschreitung der in § 21 Abs 2 EU-JZG normierten Fristen – noch nicht auszumachen (BS 4 ff), weil dem Betroffenen angesichts der Vielzahl der ihm zur Last gelegten Tathandlungen und dem dabei als grausam zu bezeichnenden Vorgehen gegenüber Kindern eine hohe Freiheitsstrafe drohe. Aufgrund seiner persönlichen Verhältnisse in Österreich werde der Betroffene, der in wenigen Monaten die Volljährigkeit erreiche, auch nicht in seinem weiteren Fortkommen gehindert. Aufgrund der neuartigen und komplexen Fragestellungen an die ungarischen Behörden, die eine Beteiligung mehrerer Institutionen und anschließender Übersetzungen erfordere, sei dem Erstgericht, welches nunmehr zügig eine Entscheidung zu treffen und die Behörden des ersuchenden Staates unter Hinweis auf die besondere Dringlichkeit Befristungen aufzuerlegen haben werde, auch keine Säumnis vorzuwerfen.

Rechtliche Beurteilung

Dagegen richtet sich die ausschließlich Verstöße gegen die Verhältnismäßigkeit der Haftdauer behauptende Grundrechtsbeschwerde des Betroffenen, der keine Berechtigung zukommt:

Gegenstand der Verhältnismäßigkeitsprüfung im Grundrechtsbeschwerdeverfahren ist – auch im Übergabeverfahren nach §§ 16 ff EU‑JZG – die vom Oberlandesgericht getroffene Entscheidung über die Haft (RIS‑Justiz RS0120790 [insb T3]; vgl Kier in WK2 GRBG § 2 Rz 11 ff), in concreto somit allein, ob aus den vom Beschwerdegericht angeführten bestimmten Tatsachen der von diesem gezogene Schluss auf ein ausgewogenes Verhältnis der Haft‑(dauer) zur Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe vertretbar war. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die im Übergabeverfahren weiters relevanten, in § 21 Abs 2 erster und letzter Satz EU‑JZG genannten Fristen keine Fallfristen sind, deren Überschreitung zur Enthaftung des Betroffenen führt (vgl § 21 Abs 3 erster Satz EU‑JZG), sondern gesetzliche Konkretisierungen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (Hinterhofer/Schallmoser in WK2 EU‑JZG § 21 Rz 34 f mwN).

Ausgehend von den Sachverhaltsannahmen des Beschwerdegerichts war das Erstgericht gehalten, aufgrund von Berichten des Europäischen Komitees zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) zu prüfen, in welcher Justizanstalt der Betroffene inhaftiert werden würde und ob er dort seinen speziellen Bedürfnissen entsprechend angehalten werden könne (BS 2); dies war für die ungarischen Behörden mit der Beantwortung neuartiger und komplexer Fragen durch eine Mehrzahl von Behörden sowie mit zusätzlichem Übersetzungsaufwand verbunden (BS 6; vgl ON 46, 53 und 57). Damit ist die Annahme des Vorliegens sachlicher Gründe für die Dauer der Übergabehaft (vgl dazu Hinterhofer/Schallmoser in WK2 EU‑JZG § 21 Rz 35) nicht zu beanstanden. Aus den weiteren Annahmen des Oberlandesgerichts zu der als gegeben erachteten Flucht- und Tatbegehungsgefahr (BS 3 f) und der aus der Vielzahl der dem Betroffenen zur Last gelegten strafbaren Handlungen abgeleiteten Erwartung der Verhängung einer hohen Freiheitsstrafe ist die Schlussfolgerung, wonach gravierende Haftgründe (vgl § 21 Abs 3 erster Satz EU‑JZG) vorliegen, welche die Dauer der Übergabehaft (noch) als verhältnismäßig erscheinen lassen (BS 4 ff), ebenfalls nicht zu kritisieren.

Mit Blick auf die zur Fluchtgefahr und die besonderen persönlichen Verhältnisse getroffenen Annahmen (BS 4), aus welchen das Oberlandesgericht ableitet, dass jugendwohlfahrtsrechtliche Maßnahmen nicht erfolgversprechend den Haftgründen entgegenwirken können, ist auch die weitere Schlussfolgerung der fehlenden Möglichkeit der Substituierung der Haft durch gelindere Mittel (vgl dazu auch den Erlass des Bundesministeriums für Justiz vom 6. Mai 2016 zum Europäischen Haftbefehl: Unzulässigkeit der Übergabe bei ernsthafter und begründeter Annahme grundrechtsverletzender Haftbedingungen im Ausstellungsstaat; Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 5. April 2016, verbundene Rechtssachen C‑404/15, Aranyosi, und C-659/15 P PU, Caldaru [BMJ-S884.094/0003-IV 2/2016], S 3) nicht zu beanstanden.

Indem sich der Beschwerdeführer darauf beschränkt, die Überschreitung der Fristen nach § 21 Abs 2 EU‑JZG aufzuzeigen und zu behaupten, dass fallbezogen keine besondere Schwierigkeiten bzw kein besonderer Prüfungsumfang iSd § 21 Abs 3 EU‑JZG vorliegen, vermag er eine willkürliche Annahme der (noch) als gegeben erachteten Verhältnismäßigkeit durch das Beschwerdegericht nicht begründet darzulegen.

Bleibt anzumerken, dass eine Säumigkeit der (österreichischen) Gerichte (vgl RIS‑Justiz RS0120790) – auch mit Blick auf die erfolgten Betreibungen der gestellten Rechtshilfeersuchen – nach dem Akteninhalt (ON 46, 52, 57 und 64) nicht indiziert ist. Im Übrigen wurde die Übergabeverhandlung nach Vorliegen der Auskunft der ungarischen Behörden (ON 70) nunmehr für den 28. Dezember 2016 anberaumt (ON 1 S 19).

Die Beschwerde war daher in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur aber entgegen der Äußerung des Verteidigers dazu ohne Kostenzuspruch (§ 8 GRBG) abzuweisen.

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