OGH 10ObS139/16p

OGH10ObS139/16p25.11.2016

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Hofrat Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, den Hofrat Dr. Schramm und die Hofrätin Dr. Fichtenau sowie die fachkundigen Laienrichter ADir. Brigitte Augustin (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Ing. Thomas Bauer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei C*****, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Josef Milchram Dr. Anton Ehm und Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Invaliditätspension, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 23. August 2016, GZ 7 Rs 17/16w‑45, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:010OBS00139.16P.1125.000

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

Der 1972 geborene Kläger ist gelernter Rauchfangkehrer und hat in diesem Beruf in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag mehr als 90 Beitragsmonate erworben.

Mit Bescheid vom 11. 7. 2013 lehnte die beklagte Partei den Antrag des Klägers vom 15. 1. 2013 auf Gewährung der Invaliditätspension mit der Begründung ab, dass Invalidität nicht vorliege. Da Invalidität in absehbarer Zeit nicht eintreten werde, bestehe auch kein Anspruch auf berufliche Maßnahmen der Rehabilitation.

Das Erstgericht sprach aus, dass das Klagebegehren auf Gewährung der Invaliditätspension ab 1. 2. 2013 dem Grunde nach zu Recht bestehe, und erkannte dem Kläger ab 1. 2. 2013 eine vorläufige Leistung in Höhe von monatlich 500 EUR zu.

Es traf – soweit für das Revisionsverfahren noch wesentlich – folgende Feststellungen:

„Auf Grund seiner medizinischen Leistungseinschränkungen wird der Kläger nie mehr in der Lage sein, den Beruf des Rauchfangkehrers auszuüben. Auch eine erneute Alkoholentzugsbehandlung wird seine Leistungsfähigkeit nicht verbessern; ein besseres Leistungskalkül ist nicht mehr zu erzielen. Eine berufliche Reintegration ist nach dem Bericht des BBRZ derzeit nicht möglich. Im Rahmen der Prüfung von Zumutbarkeit und Zweckmäßigkeit von Maßnahmen beruflicher Rehabilitation konnten keine Umschulungsoptionen erarbeitet werden.

Die Beklagte gewährte dem Kläger keine medizinischen Rehabilitationsmaßnahmen.“

Rechtlich ging das Erstgericht davon aus, der Kläger sei nicht in der Lage, in seinem erlernten Beruf als Rauchfangkehrer zu arbeiten, dies auch nicht nach einer allfälligen Besserung seines Gesundheitszustands. Er sei daher als dauerhaft invalid anzusehen.

Das Berufungsgericht gab der gegen den Zuspruch der Invaliditätspension (dem Grunde nach) über den 31. 3. 2016 hinaus gerichteten Berufung nicht Folge und sprach aus, dass die Revision nicht zulässig sei (im Umfang des Teilzuspruchs für den Zeitraum vom 1. 2. 2013 bis 31. 3. 2016 erwuchs das Ersturteil in Rechtskraft). Das Berufungsgericht teilte – zusammengefasst – die Rechtsansicht des Erstgerichts, es liege dauerhafte Invalidität nach § 254 Abs 1 Z 1 ASVG vor.

Rechtliche Beurteilung

Die gegen diese Entscheidung gerichtete außerordentliche Revision der beklagten Partei ist mangels einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig.

1. Die Revisionswerberin legt ihren Ausführungen selbst zu Grunde, dass der im Revisionsverfahren noch strittig verbliebene Zeitraum nach der Rechtslage des SRÄG 2012, BGBl I 2013/3 zu beurteilen ist, weil § 256 ASVG mit Ablauf des 31. 12. 2013 außer Kraft getreten (§ 669 Abs 2 ASVG) und auf den 1972 geborenen Kläger nicht mehr anzuwenden ist (§ 669 Abs 5 und Abs 6 ASVG; Födermayr in SV‑Komm [139. Lfg] § 256 ASVG Rz 1).

2.1 Nach der Rechtslage des SRÄG 2012 gebührt Versicherten, die das 50. Lebensjahr nicht vor dem 1. 1. 2014 vollendet haben, anstelle einer befristeten Pension aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit grundsätzlich – als Leistung der Krankenversicherung – das Rehabilitationsgeld (§ 143a ASVG), wenn vorübergehende geminderte Arbeitsfähigkeit im Ausmaß von zumindest sechs Monaten vorliegt (§ 255b, § 273b ASVG idF 84. ASVG‑Nov, BGBl I 2015/2). Voraussetzung für die Zuerkennung der (dauernden) Invaliditätspension ist hingegen, dass die Invalidität aufgrund des körperlichen oder geistigen Zustandes voraussichtlich dauerhaft vorliegt (§ 254 Abs 1 Z 1 ASVG) und berufliche Maßnahmen der Rehabilitation nicht zweckmäßig (§ 303 Abs 3ASVG ) oder nicht zumutbar (§ 303 Abs 4 ASVG) sind (§ 254 Abs 1 Z 2 ASVG).

2.2 Die Ansicht des Berufungsgerichts, dem Kläger sei der Beweis des Vorliegens dauerhafter Invalidität gelungen, weicht nicht von der ständigen Rechtsprechung ab, nach der eine Besserung des Gesundheitszustands nicht (mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit) ausgeschlossen sein muss (eine Besserung unmöglich oder an Gewissheit grenzend unwahrscheinlich ist), sondern nur, dass sie nicht sehr wahrscheinlich ist, damit feststeht, dass Berufsunfähigkeit (Invalidität) „voraussichtlich dauerhaft“ vorliegt (RIS‑Justiz RS0130217).

3.1 Mit dem Revisionsvorbringen, es bestehe (doch) keine dauernde, sondern nur vorübergehende geminderte Arbeitsfähigkeit mit Anspruch auf Rehabilitationsgeld, weil – wie die Erörterung des neurologisch‑psychiatrischen Gerichtssachverständigen-gutachtens erbracht habe – die ergänzende Feststellung getroffen hätten werden müssen, der Kläger wäre nach einer neuerlichen Alkoholentzugsbehandlung innerhalb von sechs Monaten in der Lage, sich einer beruflichen Maßnahme der Rehabilitation zu unterziehen, wird keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung aufgezeigt:

3.2 Zu dieser Argumentation wurde bereits in der jüngst ergangenen Entscheidung 10 ObS 52/16v dahin Stellung genommen, dass Voraussetzung für die dauernde Invalidität die nicht zu erwartende medizinische Besserung des Gesundheitszustands ist und dass die Abfolge bei der Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen für die Invaliditätspension nunmehr eindeutig so festgelegt ist, dass zuerst die Prüfung des Vorliegens dauernder Invalidität vorzunehmen ist und erst dann die Prüfung, ob eine berufliche Maßnahme der Rehabilitation zweckmäßig und zumutbar ist.

Nach den im vorliegenden Fall getroffenen Feststellungen kann auf medizinischem Weg für den Kläger im bisherigen Beruf kein ausreichendes Verweisungsfeld erhalten bzw wiederhergestellt werden, weshalb eine kalkülsrelevante, die Invalidität beseitigende Besserungsmöglichkeit nicht gegeben ist. Die Ansicht, der Kläger sei als „voraussichtlich dauerhaft“ invalid im Sinn des § 254 Abs 1 Z 1 ASVG anzusehen, ist daher nicht zu beanstanden.

4.1 Stellt sich erst im sozialgerichtlichen Verfahren die dauernde Invalidität heraus, muss das Sozialgericht von Amts wegen das Vorliegen der negativen Anspruchsvoraussetzung nach § 254 Abs 1 Z 2 ASVG (ob berufliche Maßnahmen der Rehabilitation nicht zweckmäßig oder nicht zumutbar sind) prüfen, sofern die übrigen Anspruchsvoraussetzungen für die begehrte Invaliditätspension erfüllt sind (10 ObS 107/12a, SSV‑NF 27/9).

4.2 Als zweckmäßig werden Rehabilitations-maßnahmen dann anzusehen sein, wenn – wie sich aus der Verweisung auf § 303 Abs 3 ASVG ergibt – die Schulungs- und Wiedereingliederungsmaßnahmen ausreichend und zweckmäßig sind und das Maß des Notwendigen nicht überschreiten; sie müssen jedenfalls „erfolgversprechend“ sein.

4.3 Während es bei der Frage der Zweckmäßigkeit um die „objektive“ Seite geht, geht es bei der Frage der Zumutbarkeit von Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation kraft Verweisung auf § 303 Abs 4 ASVG um die „subjektive“ Seite. Maßgebend ist die physische und die psychische Eignung der versicherten Person, deren bisherige Tätigkeit, Dauer und Umfang der bisherigen Ausbildung, das Alter, der Gesundheitszustand etc.

4.4 Im Einklang mit der Entscheidung 10 ObS 107/12a, SSV‑NF 27/9, hat das Erstgericht dem beklagten Versicherungsträger zur Beurteilung der Zumutbarkeit und Zweckmäßigkeit von beruflichen Maßnahmen der Rehabilitation eine angemessene Frist zur Prüfung der für den Kläger in Frage kommenden Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation eingeräumt. Als Ergebnis dieses Berufsfindungsverfahrens wurde dem Kläger und dem Gericht (unter anderem) bekannt gegeben, dass „keine Umschulungsoptionen erarbeitet werden konnten“. Die auf dieser Aussage getroffene Feststellung kann nicht anders verstanden werden als dass für den Kläger keine erfolgversprechenden Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation gefunden werden konnten, derartige Maßnahmen also für den Kläger nicht zweckmäßig sind.

Im Hinblick auf dieses Ergebnis des Berufsfindungsverfahrens wird auch mit dem Vorbringen, das Berufungsgericht habe es unterlassen, sich mit den negativen Anspruchsvoraussetzungen der Zweckmäßigkeit und Zumutbarkeit der beruflichen Rehabilitation auseinanderzusetzen, keine erhebliche Rechtsfrage im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO aufgezeigt.

Die außerordentliche Revision war daher zurückzuweisen.

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