European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:0030OB00121.16I.0824.000
Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.
Begründung:
Mit Scheidungsvergleich vom 17. Dezember 2008 vereinbarten die Eltern, dass nach der Scheidung die Obsorge für ihren Sohn weiterhin beiden gemeinsam zukommen und der hauptsächliche Aufenthalt bei der Mutter sein soll. Für die Zeit nach der Räumung der Ehewohnung vereinbarten die Eltern die Betreuung ihres Sohnes je zur Hälfte, wobei er sich jeweils eine Woche beim Vater bzw bei der Mutter aufhalten und dem Vater ein durchgehendes Besuchsrecht im Ausmaß von zwei Wochen im Winter und von vier Wochen im Sommer zustehen solle. Das Erstgericht genehmigte diese Regelung pflegschaftsgerichtlich.
Am 26. Mai 2009 beantragte die Mutter, sie alleine mit der Obsorge zu betrauen, in der Folge beantragte auch der Vater, ihm die alleinige Obsorge zu übertragen, wobei er auch mit einer weiter bestehenden gemeinsamen Obsorge einverstanden wäre. Am 9. August 2011 sprach das Erstgericht aus, dass der Mutter künftig die alleinige Obsorge zukomme, weil eine gemeinsame Obsorge gegen den Willen eines Elternteils nicht beibehalten werden könne.
Am 22. März 2013 beantragte der Vater, ihm die Obsorge für den Minderjährigen (einstweilig) alleine zu übertragen, hilfsweise die Obsorge beider Eltern festzulegen, in diesem Fall jedoch auszusprechen, dass der hauptsächliche Aufenthalt im Haushalt des Vaters sei. Später ergänzte der Vater sein Begehren um den Eventualantrag, dass der hauptsächliche Aufenthalt so geregelt werden solle, dass er in den geraden Jahren bei der Mutter und in den ungeraden Jahren beim Vater sein solle, dies unter Beibehaltung des wöchentlichen Aufenthaltswechsels.
Das Erstgericht legte fest, dass die Obsorge für den Sohn künftig wieder von beiden Eltern gemeinsam ausgeübt werde, die hauptsächliche Betreuung im Haushalt der Mutter erfolge und der Eventualantrag des Vaters auf hauptsächliche Betreuung in seinem Haushalt abgewiesen werde. Die seit langer Zeit durchgeführte gemeinsame Betreuung der Eltern im Sinn einer Doppelresidenz mit wöchentlichem Wechsel des Kindes von einem Elternteil zum anderen entspreche hier dem Kindeswohl. Umstände, die gegen eine Obsorge beider Eltern und eine Betreuung des Minderjährigen im Sinn eines Doppelresidenzmodells, wie es praktisch seit fünf Jahren stattfinde, sprechen würden, seien nicht bekannt. Aus Sicht des Kindeswohls liege kein Grund nahe, dem einen oder dem anderen Elternteil die hauptsächliche Betreuung zuzusprechen, auch aus kinderpsychologischer Sicht gebe es keine Präferenz oder Empfehlung hiezu. Da die Mutter bislang die alleinige Obsorge gehabt habe, auch die Kinderbeihilfe bekomme und der Vater infolge seines deutlich höheren Einkommens laufend Unterhalt leiste, sei es sachgerecht, in diesem Fall auszusprechen, dass das Kind im Haushalt der Mutter hauptsächlich betreut werde. Für eine jährlich wechselnde Anordnung der hauptsächlichen Betreuung einmal bei der Mutter und einmal beim Vater fehle eine gesetzliche Grundlage.
Das Rekursgericht bestätigte die erstgerichtliche Obsorgezuteilung mit der Maßgabe, dass soweit gesetzliche Bestimmungen an eine hauptsächliche Betreuung des Kindes im Haushalt eines Elternteils anknüpfen, diese der Mutter zukomme. Es sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei, weil Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Auslegung des Begriffs der „hauptsächlichen Betreuung“, insbesondere vor dem Hintergrund der jüngeren Judikatur des Verfassungsgerichtshofs fehle. Der Verfassungsgerichtshof habe mit Entscheidung vom 9. Oktober 2015, AZ G 152/2015‑20, ausgesprochen, dass die angefochtenen Bestimmungen des ABGB (§§ 177 Abs 4 erster Satz, 179 Abs 2 und 180 Abs 2 letzter Satz) über die Festlegung der hauptsächlichen Betreuung im Einklang mit Art 8 EMRK so auszulegen seien, dass sie der elterlichen Vereinbarung einer zeitlich gleichteiligen Betreuung oder einer entsprechenden gerichtlichen Festlegung in jenen Fällen, in denen dies aus der Sicht des Gerichts dem Kindeswohl am besten entspricht, nicht entgegenstünden. Die Bestimmung, die ihrem Wortlaut nach eine Festlegung einer „hauptsächlichen Betreuung“ anordne, lasse eine Auslegung zu, derzufolge die Festlegung für diese Fälle insbesondere als Anknüpfungspunkt für andere Rechtsfolgen diene, wie etwa für die Bestimmung eines Hauptwohnsitzes nach Art 6 Abs 3 B‑VG. Bei diesem Verständnis seien die angefochtenen Bestimmungen verhältnismäßige Beschränkungen der Rechte des Art 8 EMRK und Art 1 BVG über die Rechte von Kindern. Das Erstgericht habe im Zweifel die Kontinuität der bisherigen „hauptsächlichen Betreuung“ einer Änderung derselben vorgezogen. Der Vater könne nicht aufzeigen, warum eine nominelle Festlegung der hauptsächlichen Betreuung bei der Mutter dem Wohl des Kindes widerspreche, und dieses bei einer Festlegung beim Vater besser gewahrt wäre. Eine jährlich abwechselnde Festlegung der „hauptsächlichen Betreuung“ für die Zukunft komme aufgrund gegebener Gesetzeslage nicht in Frage. Im Hinblick auf die vom Verfassungsgerichtshof nunmehr einschränkend ausgelegte Bedeutung des Begriffs „hauptsächliche Betreuung“ im Haushalt eines Elternteils sei es zweckmäßig, dies im Spruch des angefochtenen Beschlusses entsprechend zu verdeutlichen.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs des Vaters, mit dem er die Festlegung der hauptsächlichen Betreuung in seinem Haushalt, hilfsweise den Entfall dieser Festlegung oder eventualiter den jährlichen oder allenfalls kürzerfristigen Wechsel zwischen Vater und Mutter anstrebt, ist aus den vom Rekursgericht genannten Gründen zulässig, aber nicht berechtigt.
Gemäß § 180 Abs 2 letzter Satz ABGB hat das Gericht festzulegen, in wessen Haushalt das Kind hauptsächlich betreut wird, wenn das Gericht beide Eltern mit der Obsorge betraut. Dies entspricht der Verpflichtung der Eltern zum Abschluss einer entsprechenden Vereinbarung bei Auflösung der Ehe und der häuslichen Gemeinschaft (§ 179 Abs 2 ABGB) sowie der Festlegungsverpflichtung nach § 177 Abs 4 erster Satz ABGB.
Aus dem Wortlaut dieser Bestimmung sowie aus den Materialien zum KindRÄG 2001 (296 BlgNR 21. GP ) leitet ein Teil der Lehre ab, dass eine Vereinbarung oder eine Entscheidung über das Heim erster Ordnung in jedem Fall gemeinsamer Obsorge bei getrennten Wohnsitzen der Eltern zwingend nötig ist und das Festlegen einer Doppelresidenz unzulässig wäre (Barth, Zur „Doppelresidenz“ des Kindes nach österreichischem Recht. Entspricht eine solche Vereinbarung der geltenden Rechtslage?, iFamZ 2009, 181; Barth/Jelinek, Das neue Obsorgerecht, in Barth/Deixler‑Hübner/Jelinek, Handbuch 09 [123]).
Obwohl sich der Gesetzgeber dieses Problems bewusst war und entsprechende Forderungen an ihn herangetragen worden waren, unterließ er eine Änderung auch anlässlich der Novellierung des Kindschaftsrechts mit dem KindNamRÄG 2013 (vgl Kathrein, Kindschafts‑ und Namensrechtsänderungsgesetz 2013, ÖJZ 2013/23, 197; Beck, Muss Kinderbetreuung hauptsächlich sein?, iFamZ 2015, 17).
Mit Erkenntnis vom 9. Oktober 2015, G 152/2015, wies der Verfassungsgerichtshof den Antrag, § 177 Abs 4 erster Satz, § 179 Abs 2 und § 180 Abs 2 letzter Satz ABGB als verfassungswidrig aufzuheben, ab. Die angefochtenen gesetzlichen Anordnungen bildeten einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens nach Art 8 EMRK. Eingriffe in das durch Art 8 Abs 1 EMRK verbürgte Recht auf Achtung des Familienlebens seien gemäß Art 8 Abs 2 EMRK zulässig, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen sei und eine Maßnahme darstelle, die zur Erreichung eines der in Art 8 Abs 2 EMRK genannten legitimen Ziele notwendig sei. Für die Verfassungsmäßigkeit eines solchen Eingriffs sei erforderlich, dass er geeignet sei, eines der genannten Ziele zu erreichen, und überdies verhältnismäßig sei. Die Sicherstellung des Kindeswohls sei ein legitimes Ziel des Gesetzgebers in Familienrechts‑ und Obsorgeangelegenheiten. Daneben könne es ein legitimes Ziel sein, für den Fall der Auflösung der häuslichen Gemeinschaft klare Anknüpfungspunkte für bestimmte Rechtsfolgen zu schaffen. Der Verfassungsgerichtshof sah sich daher veranlasst, § 180 Abs 2 letzter Satz ABGB ebenso wie die mitangefochtenen Bestimmungen im Einklang mit Art 8 EMRK so auszulegen, dass sie der elterlichen Vereinbarung einer zeitlich gleichteiligen Betreuung oder einer entsprechenden gerichtlichen Festlegung in jenen Fällen, in denen dies aus der Sicht des Gerichts dem Kindeswohl am besten entspricht, nicht entgegenstehen. Die Bestimmung, die ihrem Wortlaut nach eine Festlegung einer „hauptsächlichen Betreuung“ anordne, lasse eine Auslegung zu, derzufolge die Festlegung für diese Fälle insbesondere als Anknüpfungspunkt für andere Rechtsfolgen diene, wie etwa für die Bestimmung eines Hauptwohnsitzes nach Art 6 Abs 3 B‑VG. Bei diesem Verständnis erwiesen sich die angefochtenen Bestimmungen als verhältnismäßige Beschränkungen der Rechte des Art 8 EMRK und Art 1 BVG über die Rechte von Kindern.
Diese Auslegung im Sinn der Zulässigkeit der Doppelresidenz, sofern sie dem Kindeswohl am besten entspricht, steht zwar in einem Spannungsverhältnis zum erklärten Gesetzeszweck, der darauf hinausläuft, dass für Kinder jedenfalls ein Heim erster Ordnung geschaffen werden soll (so etwa auch Beclin, Die wichtigsten materiell‑rechtlichen Änderungen des KindNamRÄG 2013, Zak 2013/7, 4; vgl auch Khakzadeh‑Leiler, Doppelresidenz eines Kindes kann zulässig sein, EF‑Z 2016/8, 35). Damit wird aber dem gesetzlichen Leitprinzip des Kindeswohls jedenfalls zum Durchbruch verholfen (vgl Kathrein, Kindschafts‑ und Namensrechtsänderungsgesetz 2013, ÖJZ 2013/23, 197, der im Fall der Zerstörung langjährig gewachsener Strukturen bei gelebter Doppelresidenz von einer möglichen Kindeswohlgefährdung spricht; vgl Beclin, Zusammenspiel von Obsorge, Betreuung und Informationspflicht in Gitschthaler, KindNamRÄG 2013, 195 [197]; Beck, Obsorgezuweisung neu, in Gitschthaler, KindNamRÄG 2013, 175 [179 f]).
Der Oberste Gerichtshof hat sich in Entscheidungen über Unterhaltsansprüche bei Doppelresidenzfällen bislang nicht zur (allfälligen) Unzulässigkeit der Doppelresidenz geäußert (vgl 7 Ob 145/04f; 1 Ob 158/15i; 4 Ob 206/15w EF‑Z 2016/72 [Gitschthaler]).
Auch bei Zugrundelegung der vom Verfassungsgerichtshof vorgenommenen Auslegung ist aber die Festlegung der hauptsächlichen Betreuung durch einen Elternteil, sei diese auch bloß nomineller Natur zur Schaffung eines Anknüpfungspunkts für verschiedene Rechtsnormen, jedenfalls erforderlich. Die Vorinstanzen haben daher zu Recht diese Festlegung vorgenommen.
Die Frage, welchem Elternteil die hauptsächliche Betreuung zukommen soll, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Die Gründe dafür, dass eine jährlich (oder sogar wöchentlich) wechselnde hauptsächliche Betreuung nicht in Frage kommt, hat das Rekursgericht zutreffend dargelegt. Es widerspräche auch dem Prinzip der anzustrebenden Kontinuität und Stabilität, wenn kurzfristige Wechsel des Anknüpfungspunkts etwa für den Bezug von Transferleistungen aber auch die Möglichkeit, den Hauptwohnsitz zu bestimmen, festgelegt würden.
Die gegen die konkrete Festlegung der „hauptsächlichen Betreuung“ ins Treffen geführten Argumente des Revisionsrekurswerbers vermögen nicht zu überzeugen. Alle Überlegungen zu der von ihm als ungerecht empfundenen Bevorzugung eines Elternteils („Machtgefälle“, Gefahr einer das Kindeswohl gefährdenden Wohnsitzverlegung etc) gelten stets für beide möglichen Lösungen des Problems, dass im Interesse der Stabilität und möglichen Anknüpfung für verschiedene Rechtsfolgen im Fall der Auflösung der häuslichen Gemeinschaft ein Elternteil „bevorzugt“ oder „hervorgehoben“ wird.
Der Revisionsrekurs des Vaters musste daher scheitern.
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