OGH 10ObS25/16y

OGH10ObS25/16y10.5.2016

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Fellinger als Vorsitzenden, die Hofräte Univ.‑Prof. Dr. Neumayr und Dr. Schramm sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Johanna Biereder (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Harald Kohlruss (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei A*****, vertreten durch den Sachwalter Dr. Helmut Salzbrunn, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Wiener Gebietskrankenkasse, 1100 Wien, Wienerbergstraße 15‑19, vertreten durch Dr. Heinz Edelmann, Rechtsanwalt in Wien, wegen Rückforderung von Kinderbetreuungsgeld, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 28. April 2015, GZ 7 Rs 17/15v‑14, womit das Urteil des Arbeits‑ und Sozialgerichts Wien vom 14. Oktober 2014, GZ 32 Cgs 47/14g‑6, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:010OBS00025.16Y.0510.000

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten der Revision sind weitere Verfahrenskosten.

Die beklagte Partei hat die Kosten der Revisionsbeantwortung selbst zu tragen.

Begründung

Der Klagevertreter wurde vom Bezirksgericht Leopoldstadt mit Beschluss vom 6. 12. 2010 zum einstweiligen Sachwalter (Wirkungskreis: Besorgung finanzieller Angelegenheiten, Vertretung gegenüber Ämtern, Behörden und Gerichten) und mit Beschluss vom 2. 1. 2012 zum Sachwalter der Klägerin mit dem Wirkungskreis der Verwaltung von Einkommen und Vermögen sowie der Vertretung gegenüber Ämtern, Behörden, Gerichten, Sozialversicherungsträgern und privaten Vertragspartnern bestellt.

Die Klägerin brachte am 6. 2. 2011 ihre Tochter J***** zur Welt.

Mit dem am 1. 4. 2011 bei der beklagten Partei eingelangten Antrag begehrte der Sachwalter im Namen der Klägerin die Gewährung pauschalen Kinderbetreuungsgeldes in der Variante „12 + 2“.

Bei einer Vorsprache bei der beklagten Partei am 11. 4. 2011 stellte die Klägerin selbst mit dem vorgesehenen Formular einen Antrag auf pauschales Kinderbetreuungsgeld in der Variante „20 + 4“. Die diesem Antrag entsprechenden Beträge des pauschalen Kinderbetreuungsgeldes überwies die beklagte Partei bis zum 5. 10. 2012 auf das Treuhandkonto des Sachwalters.

Mit Bescheid vom 12. 3. 2014 sprach die beklagte Partei aus, dass die Höhe des gebührenden Kinderbetreuungsgeldes für den Zeitraum 6. 2. 2011 bis 5. 2. 2012 33 EUR täglich (Variante „12 + 2“) betrage. Die Auszahlung des Kinderbetreuungsgeldes für den Zeitraum 6. 2. 2011 bis 5. 10. 2012 in der Pauschalvariante „20 + 4“ in Höhe von 20,80 EUR täglich sei hingegen zu Unrecht erfolgt; die Zuerkennung der Leistung im Umfang dieser (Bezugs‑)Variante werde sohin widerrufen. Die Klägerin sei daher verpflichtet, den sich daraus ergebenden Fehlbezug von 601,40 EUR zurückzuzahlen.

Die Klägerin begehrt mit ihrer Klage die Erlassung des Urteils, dass der von der beklagten Partei gegen sie mit Bescheid vom 12. 3. 2014 geltend gemachte Anspruch auf Rückzahlung von 601,40 EUR nicht zu Recht bestehe, weil der Fehler allein auf der unrichtigen Bearbeitung durch die beklagte Partei beruhe. Ihr sei die Sachwalterschaft schon vor dem ersten Antrag bekannt gewesen. Sie hätte den Antrag des Sachwalters schon längst verarbeitet haben müssen, als die Klägerin persönlich einen Antrag anderen Inhalts gestellt habe. Diese habe trotz mehrmaliger Nachfragen keine Mitteilung erhalten, aus der insbesondere Beginn, voraussichtliches Ende und Höhe des Leistungsanspruchs hervorgingen. Es seien in unregelmäßigen Zeitabständen Geldbeträge ohne jegliche Aufgliederung auf das Treuhandkonto des Sachwalters überwiesen worden.

Die Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens und die Klägerin zu verpflichten, den Überbezug an Kinderbetreuungsgeld in Höhe von 601,40 EUR zurückzuzahlen. Zum Zeitpunkt der Entgegennahme des Antrags der Klägerin vom 11. 4. 2011 habe es keinen Hinweis auf die Sachwalterschaft gegeben. Mit E‑Mail vom 30. 1. 2013 habe der Sachwalter darauf hingewiesen, dass er bereits vor dem 11. 4. 2011 einen Antrag auf Kinderbetreuungsgeld nach einer anderen Variante gestellt habe. Nach Prüfung durch die beklagte Partei habe dieser Einwand nachvollzogen werden können, es sei auch der vom Sachwalter gestellte Antrag gefunden worden. Der Bezug von Kinderbetreuungsgeld sei daraufhin in dem von ihm gewünschten Sinn auf die Variante „12 + 2“ nachträglich umgestellt worden. Der Fehlbezug hätte dem Sachwalter auffallen müssen. Die Klägerin sei gemäß § 31 Abs 1 und 2 KBGG zur Rückzahlung verpflichtet.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab und verpflichtete die Klägerin, der Beklagten 601,40 EUR zu zahlen.

Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Die beklagte Partei könne den Überbezug an Kinderbetreuungsgeld gemäß § 31 Abs 1 KBGG rückfordern. Dem Sachwalter hätte auffallen müssen, dass ungeachtet der abgelaufenen Antragszeit über mehrere Monate hinweg weiter Kinderbetreuungsgeld ausbezahlt worden sei und daher auf Basis der Antragstellung ein offenkundiger Irrtum der Beklagten vorliegen musste. Bei entsprechender Aufmerksamkeit hätte er daher erkennen können, dass die Klägerin eine nicht beantragte oder nicht (mehr) gebührende Leistung erhalten habe.

Das Berufungsgericht sprach aus, die ordentliche Revision sei nicht zulässig. Die rechtliche Beurteilung sei anhand der oberstgerichtlichen Rechtsprechung erfolgt.

Rechtliche Beurteilung

Die von der beklagten Partei beantwortete außerordentliche Revision der Klägerin ist aus Gründen der Rechtssicherheit zulässig und im Sinn einer vom Abänderungsantrag umfassten Aufhebung auch berechtigt.

1. Die behauptete Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens wurde geprüft. Sie liegt nicht vor (§ 510 Abs 3 ZPO).

2. In der Rechtsrüge macht die Klägerin geltend, unter den in § 31 Abs 1 KBGG angeführten Tatbeständen für eine Rückforderung finde sich keiner, der sich auf eine unrichtige Bearbeitung durch die beklagte Partei anwenden ließe. Seien dem Krankenversicherungsträger bei der Gewährung des Kinderbetreuungsgeldes bereits alle für die Gewährung maßgebenden Umstände bekannt gewesen und habe er ‑ etwa aufgrund einer unrichtigen Rechtsansicht oder einer unrichtigen Berechnung ‑ trotzdem das Kinderbetreuungsgeld ausgezahlt, bestehe kein Rückforderungsanspruch nach § 31 Abs 2 KBGG, falls der Krankenversicherungsträger nachträglich die Unrichtigkeit der Gewährung bemerke. Der beklagten Partei seien schon bei Antragstellung alle wesentlichen Tatbestandserfordernisse für die (richtige) Zuerkennung des Kinderbetreuungsgeldes bekannt gewesen oder hätten ihr bekannt sein müssen. Nachträglich herausgestellt habe sich lediglich der Fehler der beklagten Partei.

Hiezu wurde erwogen:

3.1. Ist in Angelegenheiten des Kinderbetreuungsgeldes eine Gebietskrankenkasse zuständig (§ 25 Abs 1 iVm § 28 KBGG), so sind die für Leistungssachen in der Krankenversicherung geltenden verfahrensrechtlichen Bestimmungen des ASVG anzuwenden, soweit im KBGG nichts anderes bestimmt ist (§ 25a KBGG). Im Verfahren in Leistungssachen nach dem ASVG hat der Versicherungsträger das AVG mit im Gesetz aufgezählten Ausnahmen anzuwenden (§ 360b ASVG). Anwendbar sind ua die §§ 8, 9, 10 ‑ 12, 13 ‑ 17a AVG (vgl Kneihs in SV‑Komm [134. Lfg] § 360b ASVG Rz 14 f).

3.2. Das Kinderbetreuungsgeld gebührt nur auf Antrag (§ 4 Abs 1 KBGG). Die bindende Wahl der Leistungsart (eine der Pauschalvarianten oder das einkommensabhängige Kinderbetreuungsgeld) ist bei der erstmaligen Antragstellung zu treffen. Eine spätere Änderung dieser getroffenen Entscheidung ist nur einmal binnen 14 Kalendertagen ab der erstmaligen Antragstellung möglich (§ 26a KBGG).

3.3. Nach dem im Verfahren über einen Antrag auf Gewährung von Kinderbetreuungsgeld anzuwendenden § 9 AVG ist die persönliche Rechts- und Handlungsfähigkeit von Beteiligten vom Krankenversicherungsträger, wenn in den Verwaltungsvorschriften nichts anderes bestimmt ist, nach den Vorschriften des Bürgerlichen Rechts zu beurteilen. Infolge der Sonderbestimmung des § 361 Abs 2 ASVG können Minderjährige, die das 14. Lebensjahr vollendet haben, selbst den Antrag auf Gewährung des Kinderbetreuungsgeldes stellen.

3.4. Wird für eine Person ein einstweiliger Sachwalter bestellt, so ist sie in ihren Rechtshandlungen nur insofern beschränkt, als es das Gericht ausdrücklich anordnet. Für die einstweilige Sachwalterschaft gelten die Regelungen über die Sachwalterschaft für behinderte Personen (§ 120 AußStrG).

3.5. Die Rechtsstellung des einstweiligen Sachwalters ist nach § 268 Abs 3, §§ 275 ff ABGB zu beurteilen. Der einstweilige Sachwalter vertritt die betroffene Person in den ihm übertragenen Angelegenheiten (Schauer in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG § 120 Rz 26 mwN). Der für die Klägerin bestellte einstweilige Sachwalter war nach dem Inhalt des Bestellungsbeschlusses berechtigt, in ihrem Namen den Antrag auf Gewährung von Kinderbetreuungsgeld zu stellen.

3.6.1. Durch die Bestellung des einstweiligen Sachwalters wird die Geschäftsfähigkeit der betroffenen Person nicht mit konstitutiver Wirkung beschränkt, § 280 ABGB ist nicht anwendbar. Eine Beschränkung der Geschäftsfähigkeit der betroffenen Person muss vielmehr vom Gericht ausdrücklich angeordnet werden (§ 120 Satz 2 AußStrG). Daher kann die betroffene Person, sofern sie über die hiefür erforderlichen kognitiven und volitiven Fähigkeiten verfügt, wirksame Rechtshandlungen, auch innerhalb des Wirkungskreises des einstweiligen Sachwalters vornehmen (Schauer in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG § 120 Rz 30 mwN).

3.6.2. Es wurde weder behauptet noch festgestellt, dass das Bezirksgericht Leopoldstadt während des Bestehens der einstweiligen Sachwalterschaft eine Beschränkung der Geschäftsfähigkeit der Klägerin anordnete. War die Klägerin für die Stellung des Antrags auf Gewährung von Kinderbetreuungsgeld ausreichend fähig, die Bedeutung und Tragweite dieses Antrags einzusehen und sich den Anforderungen des Verfahrens entsprechend zu verhalten, so hat sie den Antrag am 11. 4. 2011 wirksam gestellt und dadurch jenen von ihrem einstweiligen Sachwalter am 1. 4. 2011 eingebrachten wirksam geändert. Der mit der Klage bekämpfte Bescheid der beklagten Partei ist in diesem Fall unbegründet und das Klagebegehren berechtigt.

3.6.3. Da die Frage der Geschäftsfähigkeit (Prozessfähigkeit) der Klägerin am 11. 4. 2011 nicht geprüft wurde, ist eine Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen unumgänglich. Diese Frage wird im fortgesetzten Verfahren mit den Parteien zu erörtern und es werden über strittige Tatsachenbehauptungen Beweise aufzunehmen und die zur Beurteilung der Frage notwendigen Feststellungen zu treffen sein.

4.1. Sollte sich im fortgesetzten Verfahren die fehlende Geschäftsfähigkeit (Prozessfähigkeit) der Klägerin ergeben, so wäre der Rückforderungsanspruch der beklagten Partei in § 31 Abs 2 KBGG begründet. Ob der Rückforderungstatbestand nach § 31 Abs 1 KBGG erfüllt ist, kann daher dahinstehen.

4.2. Nach § 31 Abs 2 erster Fall KBGG besteht die Verpflichtung zum Ersatz der empfangenen Leistung auch dann, wenn rückwirkend eine Tatsache festgestellt wurde, bei deren Vorliegen kein Anspruch besteht. Als rückwirkend festgestellte Tatsachen im Sinn dieser Bestimmung gelten alle für die Zuerkennung des Anspruchs maßgeblichen Umstände, die mit Rückwirkung erst zu einem nach der Zuerkennung liegenden Zeitpunkt, zB durch Gerichtsurteil oder Entscheidung einer Behörde, festgestellt wurden. Dieser Rückforderungstatbestand normiert nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs eine objektive (verschuldensunabhängige) Rückzahlungsverpflichtung, die nur davon abhängig ist, dass sich nachträglich eine (ursprünglich nicht bekannte) Tatsache herausstellte, bei deren Vorliegen kein Anspruch auf die Leistung besteht (10 ObS 106/13f, SSV‑NF 27/63; 10 ObS 91/11x, SSV‑NF 25/102; 10 ObS 54/10d, SSV‑NF 24/86).

4.3. Dementsprechend ordnet § 30 Abs 2 KBGG an, dass die Zuerkennung zu widerrufen oder die Bemessung rückwirkend zu berichtigen ist, wenn sich die Zuerkennung oder die Bemessung einer Leistung nachträglich als gesetzlich nicht begründet herausstellt (10 ObS 91/11x, SSV‑NF 25/102).

4.4. Der Rückforderungstatbestand des § 31 Abs 2 erster Fall KBGG bezieht sich nicht nur auf Umstände, die bei Gewährung des Anspruchs schon verwirklicht, jedoch nicht bekannt waren und nicht berücksichtigt werden konnten, sondern auch auf solche, die erst nach der Gewährung des Anspruchs entstehen und den Sozialversicherungsträger zu einem Widerruf oder einer rückwirkenden Berichtigung der Bemessung berechtigen (10 ObS 157/14g).

4.5. War die Klägerin bei ihrer Antragstellung nicht ausreichend prozessfähig, so konnte sie ohne ausdrückliche oder stillschweigende Einwilligung ihres einstweiligen Sachwalters nicht handeln (vgl Hengstschläger/Leeb, AVG I² § 9 Rz 15). Die beklagte Partei wäre entsprechend der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs verpflichtet gewesen, ein Mängelbehebungsverfahren im Sinn des § 13 Abs 3 AVG zwecks Beseitigung der mangelnden Genehmigung des von der prozessunfähigen Klägerin eingebrachten Antrags durch ihren einstweiligen Sachwalter durchzuführen (vgl Hengstschläger/Leeb, AVG I² § 9 Rz 6 mN aus der Rsp des VwGH). Sie hat dies unterlassen.

Nach dem insoweit unstrittigen Vorbringen der beklagten Partei hat der Sachwalter (frühere einstweilige Sachwalter) im Jänner 2013 die Genehmigung des von der Klägerin selbst gestellt Antrags abgelehnt. Damit hat sich nachträglich herausgestellt, dass die Antragstellung der Klägerin letztlich nicht wirksam war und die Leistung des pauschalen Kinderbetreuungsgeldes nach § 5a KBGG mangels Antrags gesetzlich nicht begründet war. Die beklagte Partei wäre demnach gemäß § 31 Abs 2 erster Fall KBGG zur Rückforderung des Überbezugs berechtigt.

5. Der Vorbehalt der Entscheidung über den Ersatz der Rechtsmittelkosten der Klägerin beruht auf § 52 Abs 1 ZPO. Nach § 77 Abs 1 Z 1 ASGG hat der beklagte Versicherungsträger die Kosten seiner Revisionsbeantwortung ohne Rücksicht auf den Verfahrensausgang selbst zu tragen.

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