OGH 10ObS36/16s

OGH10ObS36/16s10.5.2016

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Fellinger als Vorsitzenden, den Hofrat Univ.‑Prof. Dr. Neumayr und die Hofrätin Dr. Fichtenau sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Johanna Biereder (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Harald Kohlruss (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei R*****, vertreten durch Mag. Michael Kadlicz, Rechtsanwalt in Wr. Neustadt, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich‑Hillegeist‑Straße 1, wegen Invaliditätspension, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 25. Februar 2016, GZ 9 Rs 20/16a-27, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:010OBS00036.16S.0510.000

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

Der am ***** 1964 geborene Kläger, der den Beruf des Maschinenschlossers erlernt hat, hat innerhalb der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag (dem 1. 9. 2014) 18 Monate den Beruf eines Dispositionsangestellten ausgeübt, 11 Monate war er als Taxifahrer, 16 Monate als Maschinenschlosser und 50 Monate bei einem Paketdienst beschäftigt. Innerhalb der letzten 12 Monate vor dem Stichtag war er als arbeitslos nach § 12 AlVG gemeldet. Er hat insgesamt mindestens 360 Versicherungsmonate erworben, davon mindestens 240 Beitragsmonate der Pflichtversicherung aufgrund einer Erwerbstätigkeit.

Das Erstgericht sprach dem Kläger die Invaliditätspension ab 1. 9. 2014 zu.

Es traf ua Feststellungen zum (Rest‑)Leistungskalkül des Klägers sowie zu dem Anforderungsprofil der für ihn noch in Betracht kommenden Berufstätigkeiten eines Hilfsarbeiters in der Werbemittelbranche, eines einfachen Kontrollarbeiters sowie eines Tagportiers. Rechtlich war das Erstgericht der Auffassung, dass beim Kläger die Voraussetzungen des § 255 Abs 3a iVm Abs 3b ASVG („Härtefallregelung“) vorlägen, weil sein Leistungskalkül dem in § 255 Abs 3b ASVG beschriebenen Anforderungsprofil entspreche.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei Folge und änderte das angefochtene Urteil dahin ab, dass das Klagebegehren abgewiesen wurde. Es sprach aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei. Rechtlich legte das Berufungsgericht seinen Ausführungen zugrunde, dass § 255 Abs 3b ASVG nicht ein medizinisches Leistungskalkül, sondern ein bestimmtes Profil von Tätigkeiten beschreibe, die das leichteste Anforderungsprofil erfüllen, auf das aber nach dem Willen des Gesetzgebers nicht verwiesen werden dürfe. Dieses Profil umfasse ua Tätigkeiten vorwiegend in sitzender Haltung. Dies bedeute, dass die sitzende Arbeit in mehr als zwei Drittel der Gesamtarbeitszeit durchgeführt werde. Nach den vom Erstgericht getroffenen Feststellungen würden die für den Kläger in Frage kommenden Verweisungstätigkeiten (eines Hilfsarbeiters in der Werbemittelbranche, eines einfachen Kontrollarbeiters sowie eines Tagportiers) aber jeweils nicht mehr als zweidrittelzeitig im Sitzen durchgeführt (sondern etwa zu einem Drittel auch im Gehen und Stehen), sodass diese Verweisungstätigkeiten den Anforderungen nach nicht unter die in § 255 Abs 3b ASVG beschriebenen Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil fielen.

In seiner außerordentlichen Revision wendet sich der Revisionswerber dagegen, dass die in § 255 Abs 3b ASVG enthaltene Formulierung „vorwiegend im Sitzen“ mit mehr als zwei Drittel der Zeit in sitzender Arbeitshaltung gleichgesetzt werde und meint, nach dem Wortsinn ergebe sich nur, dass die im Sitzen verbrachte Arbeitszeit größer sein müsse als jene, die im Stehen/Gehen verbracht werde.

Rechtliche Beurteilung

Damit zeigt der Kläger keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO auf.

1. Zweck der so genannten Härtefallregelung des § 255 Abs 3a und 3b ASVG ist es, für stark leistungseingeschränkte ungelernte Arbeiter bzw Arbeiterinnen, die das 50. Lebensjahr vollendet haben jedoch die Voraussetzungen für einen besonderen Berufsschutz etwa nach § 255 Abs 4 ASVG nicht erfüllen, einen speziellen Verweisungsschutz zu schaffen. In den Genuss dieser Regelung sollen bei Erfüllung der übrigen allgemeinen Voraussetzungen Versicherte kommen, die nur mehr in der Lage sind, Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil zu verrichten (10 ObS 167/11y, SSV‑NF 25/113).

2.2. Die Definition der „Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil“ erfolgt in § 255 Abs 3b ASVG (idF des 2. SVÄG 2013 BGBl I 2013/139). Danach handelt es sich um leichte körperliche Tätigkeiten, die bei durchschnittlichem Zeitdruck und vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden. Tätigkeiten gelten auch dann als vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt, wenn sie durch zwischenzeitliche Haltungswechsel unterbrochen werden. Die „Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil“ werden somit nach ihrem Schweregrad, dem mit ihnen verbundenen Zeitdruck und der Körperhaltung umschrieben.

2.3. Die Definition des § 255 Abs 3b ASVG beschreibt nicht das medizinische (Rest‑)Leistungskalkül von Versicherten, sondern jene Tätigkeiten unter allen in Betracht kommenden Verweisungstätigkeiten, die das leichteste Anforderungsprofil erfüllen. Um den Anspruchsvoraussetzungen der Härtefallregelung zu genügen, darf der Pensionswerber nur mehr in der Lage sein, die in § 255 Abs 3b ASVG umschriebenen Tätigkeiten und sonst keine weiteren Verweisungstätigkeiten auszuüben. § 255 Abs 3b ASVG definiert somit ein bestimmtes Profil von Tätigkeiten, die der Versicherte zwar noch ausüben könnte, auf die er aber nach dem Willen des Gesetzgebers nicht verwiesen werden kann (RIS‑Justiz RS0127382). Kann ein Versicherter beispielsweise eine Berufstätigkeit ausüben, die nicht vorwiegend in sitzender Haltung, sondern auch gehend und stehend ausgeübt werden kann, fällt er nicht in den Anwendungsbereich der Härtefallregelung (10 ObS 69/13i).

3.1 Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs und dem Schrifttum bedeutet die in § 255 Abs 3b ASVG verwendete Formulierung „vorwiegend in sitzender Haltung“ sitzende Arbeit in mehr als zwei Drittel der Gesamtarbeitszeit (10 ObS 141/13b; Ivansits/Weissensteiner, Die Härtefallregelung ‑ Zugangserleichterungen in die Invaliditätspension für Versicherte ab 50, DRdA 2011, 175 [177]). Davon zu unterscheiden ist der Zeitbegriff „überwiegend“, der in der Praxis mit mehr als der Hälfte der Gesamtarbeitszeit gleichgesetzt wird ( Rudda, Das einheitliche Untersuchungsprogramm zur Feststellung des Gesundheitszustands bei geminderter Arbeitsfähigkeit (Erwerbsfähigkeit), SozSi 1998, 708 [717]).

3.2 Davon ausgehend ist die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, nach den im vorliegenden Fall getroffenen Feststellungen zum Anforderungsprofil der genannten Verweisungstätigkeiten handle es sich bei diesen Berufen nicht um Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil iSd § 255 Abs 3b ASVG, weil sie nicht mehr als zweidrittelzeitig im Sitzen durchgeführt werden, nicht zu beanstanden.

Den weiteren Revisionsausführungen ist entgegenzuhalten, dass die Feststellungen zu den Anforderungen in den Verweisungsberufen ausschließlich dem Tatsachenbereich angehören (RIS‑Justiz RS0043118) und der Oberste Gerichtshof an diese Feststellungen gebunden ist (RIS‑Justiz RS0042903 [T4, T5, T7]).

Stichworte