European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:0010OB00007.16K.0225.000
Spruch:
Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.
Begründung:
Der (etwa siebzehnjährige) A***** G***** leidet an frühkindlichem Autismus. Er kann seine Wünsche lediglich in Zwei- bis Dreiwortsätzen formulieren und braucht bei Alltagsverrichtungen, wie zB Duschen und Zähneputzen, immer noch Hilfe. Im Laufe seiner Entwicklung wurde er zunehmend aggressiver gegenüber seiner Mutter und seiner um knapp mehr als ein Jahr jüngeren Schwester, schlug sie auf den Mund, zog sie an den Haaren und trat sie mit den Füßen.
Bei der tabakabhängigen Mutter liegen die chronisch obstruktive Lungenerkrankung COPD Stufe 3 und eine rezidivierende depressive Störung vor. Sie versuchte zwar in der Vergangenheit, sich für die Förderung ihres autistischen Sohnes einzusetzen, ist in ihrer allgemeinen Erziehungsfähigkeit jedoch deutlich eingeschränkt, mit einer Störung der Selbst‑ und Objektwahrnehmung. Aufgrund der Verzerrung der Realitätswahrnehmung neigt sie zur Idealisierung und Abwertung, leugnet die Aggression ihres Sohnes und nimmt die Geschwisterrivalität zwischen ihren beiden Kindern nicht wahr, weshalb es zu Fehleinschätzungen kommt. Die Mutter ist nicht in der Lage einen angemessenen Interessensausgleich herzustellen. Ihr Erziehungsstil pendelt zwischen Überprotektion und Vernachlässigung. Bei Überforderung kam es bei ihr zu übermäßigen Alkoholkonsum und zur zeitweise starken Vernachlässigung des Haushalts. Nachdem ihr A***** drei Rippen gebrochen hatte und in der Jugendpsychiatrie untergebracht gewesen war, verweigerte sie die geplante Zusammenarbeit mit der Caritas und opponierte von Anfang an gegen die Unterbringung beider Kinder. Ihre Tochter R***** war nach einem Suizidversuch ebenfalls in der Kinder‑ und Jugendpsychiatrie, nach einer kurzen Rückkehr zur Mutter wiederum im Krankenhaus, danach in einem Krisenzentrum und später in einer Wohngemeinschaft untergebracht gewesen. Sie ist aber in der Wohngemeinschaft nicht mehr führbar. Durch die Borderlinestörung der Tochter und die autistische Störung des Sohnes, wäre eine Rückführung beider Kinder nach Hause sehr gefährdend. Die Wahrscheinlichkeit, dass es zu Krisen bei einem oder bei beiden Kindern kommt, ist sehr hoch.
Das Rekursgericht bestätigte den Beschluss des Erstgerichts, das der Mutter die Obsorge im Bereich Pflege für ihren Sohn entzogen und dem Kinder‑ und Jugendhilfeträger (KJHT) übertragen, ihr aber gleichzeitig die Obsorge im Bereich Pflege und Erziehung für ihre Tochter wieder (rück‑)übertragen hatte. Der gesondert (zeitlich zwischen diesen beiden Entscheidungen am 7. Oktober 2015) ergangene Beschluss, mit dem nach seiner Anerkennung der Vaterschaft am 19. August 2015 der Antrag des Vaters, ihm die alleinige Obsorge für die beiden Kinder, eventualiter gemeinsam mit der Mutter, hilfsweise auch nur für ein Kind zu übertragen, abgewiesen wurde, erwuchs unangefochten in Rechtskraft.
Rechtliche Beurteilung
1. Der Revisionsrekurs der Mutter führt zwar aus, es werde der bekämpfte Beschluss zur Gänze angefochten, bereits der Antrag, die angefochtene Entscheidung dahin abzuändern, dass ihr die Obsorge für ihren Sohn im Bereich Pflege und Erziehung rückübertragen werde, lässt aber erkennen, dass nur dieser Teil der Entscheidung angefochten werden soll. Eine Beschwer wäre in Ansehung der Tochter, wozu der Revisionsrekurs inhaltlich nichts ausführt, auch gar nicht gegeben.
2. Bei der Entscheidung über die Obsorge für ein Kind ist ausschließlich dessen Wohl, welches dem Elternrecht vorgeht (RIS‑Justiz RS0118080), maßgebend, wobei nicht nur von der momentanen Situation ausgegangen werden darf, sondern auch Zukunftsprognosen zu stellen sind (RIS‑Justiz RS0048632; RS0106312). In Entsprechung des Grundsatzes der Familienautonomie soll den Familienmitgliedern die Obsorge solange gewahrt bleiben, als sich das mit dem Kindeswohl verträgt. Eine Beschränkung oder Übertragung der Obsorge darf nur das letzte Mittel sein und nur insoweit angeordnet werden, als dies zur Abwendung einer drohenden Gefährdung des Kindeswohls notwendig ist (RIS‑Justiz RS0048712 [T1, T10]; vgl RS0047841 [T13]). Unter dem Begriff der Gefährdung des Kindeswohls ist allerdings nicht geradezu ein Missbrauch der elterlichen Befugnisse zu verstehen. Es genügt, dass die elterlichen Pflichten (objektiv) nicht erfüllt oder (subjektiv) gröblich vernachlässigt worden sind oder die Eltern durch ihr Gesamtverhalten das Wohl des Kindes gefährden (RIS‑Justiz RS0048633 [T3]). Dazu gehört auch das Nichtbewältigen von Erziehungsaufgaben (RIS‑Justiz RS0048633 [T18]), ohne dass ein subjektives Schuldelement hinzutreten müsste (RIS‑Justiz RS0048633 [T19]).
3. Ob die Voraussetzungen für eine Obsorgeübertragung nach § 181 ABGB ‑ hier (nur) im Bereich Pflege und Erziehung ‑ erfüllt sind und eine Kindeswohlgefährdung vorliegt, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab und wirft keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des § 62 Abs 1 AußStrG auf, wenn dabei ausreichend auf das Kindeswohl Bedacht genommen wurde (RIS‑Justiz RS0007009 [T4]; vgl RS0115719; RS0007101 [T2, T3]; zur Übertragung auf den Jugendwohlfahrtsträger: 7 Ob 184/04s; 3 Ob 208/09y; 1 Ob 241/12s uva; RS007101 [T11]).
4. Eine (erhebliche) Fehlbeurteilung, die vom Obersten Gerichtshof aus Gründen der Rechtssicherheit oder der Einzelfallgerechtigkeit korrigiert werden müsste, ist dem Rekursgericht nicht unterlaufen. Entgegen den Ausführungen der Mutter, war dem Rekursgericht durchaus bewusst, dass die Beschränkung der Obsorge nur letztes Mittel sein darf. Die Revisionsrekurswerberin vermag nicht darzulegen, mit welchem gelinderen Mittel angesichts der vorliegenden Umstände, insbesondere des aggressiven Verhaltens des Sohnes und der Geschwisterrivalität, auf die nicht reagiert wird, das Wohl ihres Sohnes, wäre er wieder bei ihr, die nach den Feststellungen des Erstgerichts höchstwahrscheinlich schon mit einem Kind überfordert ist, nicht gefährdet wäre. Ihre Ausführungen dazu gehen ‑ anders als die getroffenen Feststellungen ‑ davon aus, dass ihr der KJHT keine ausreichenden unterstützenden Maßnahmen angeboten habe und sie mehrfach ihre Bereitschaft, eine Unterstützung durch den KJHT bis hin zur „mittelfristigen Fremdunterbringung“ von Montag bis Freitag, ausgenommen an Feiertagen und Ferienzeiten, anzunehmen während des Verfahrens bekräftigt habe. Der Oberste Gerichtshof ist aber auch im Außerstreitverfahren nicht Tatsacheninstanz (RIS‑Justiz RS0007236; RS0006737), weshalb Fragen der Beweiswürdigung nicht an ihn herangetragen werden können (RIS‑Justiz RS0007236 [T4, T7]; RS0099292 [T7, T9]).
5. Die Bemängelung der Mutter, sie habe den Beschluss des Erstgerichts über den Antrag des Vaters, ihm die Obsorge zu übertragen, mangels Beschwer nicht bekämpfen können, vernachlässigt, dass das Rekursgericht von den Feststellungen ausging, wie sie im bekämpften (erstinstanzlichen) Beschluss getroffen wurden. Den weiteren Beschluss (über den Antrag des Vaters) bezog es in seine Überlegungen nur insoweit mit ein, als es daraus schloss, dass auch die seither vorgefallenen Ereignisse keinen Anlass dazu böten, nun davon ausgehen zu können, dass die Mutter in der Lage wäre, sich entsprechend um die Bedürfnisse ihres Sohnes zu kümmern.
Das Neuerungsverbot ist zwar im Obsorgeverfahren aus Gründen des Kindeswohls durchbrochen, aber nur insofern, als der Oberste Gerichtshof nach der Beschlussfassung der Vorinstanzen eingetretene Entwicklungen zu berücksichtigen hat, die aktenkundig sind und die bisherige Tatsachengrundlage wesentlich verändern (RIS‑Justiz RS0006893 [T16]).
Die im unangefochten gebliebenen Beschluss wiedergegebenen Fakten, dass sie der Aufforderung, den Sohn nach einem vereinbarten Ausgang in der Gemeinschaft zurückzubringen, nicht nachgekommen war und auch nicht mitgeteilt hatte, wo er sich aufhielt, zu einer Besprechung am 22. Juli 2015 nicht erschien und die Situation in ihrer Wohnung am 27. Juli 2015 dermaßen eskalierte, dass es zu einem Polizeieinsatz kam, der Vater von der Wohnung weggewiesen wurde und der wild um sich schlagende und tretende Sohn trotz vom Notarzt verabreichter Beruhigungsmittels fixiert und mit dem Rettungswagen in ein neurologisches Krankenhaus gebracht werden musste, wo er für zwei Tage nach dem Unterbringungsgesetz untergebracht war, bestreitet auch die Mutter ‑ wie schon im erstgerichlichen Verfahren ‑ im Revisionsrekurs nicht.
Ihre Ausführungen, es sei davon auszugehen gewesen, dass sie sich nicht geweigert habe, ihren Sohn in die Wohngemeinschaft zurückzubringen, sondern „es als geduldet erachtet werden konnte, dass eine spätere stressfreie und freiwillige Rückkehr des A***** in die Wohngemeinschaft akzeptiert war“ können nicht verhehlen, dass ihr ‑ auch nach ihren eigenen Ausführungen, auf die das Rekursgericht zutreffend verweist ‑ bewusst war, dass ihre Vorgangsweise „rechtlich nicht korrekt“ war.
Diese nach dem Zeitpunkt der Beschlussfassung in erster Instanz vorgefallenen Ereignisse bilden keine Grundlage für die Annahme, es könne nunmehr davon ausgegangen werden, das das Kindeswohl nicht gefährdet wäre, wenn die Obsorge bei der Mutter bliebe. Der Revisionrekurs kann daher nicht aufzeigen, dass die vom Rekursgericht herangezogene Prognose, dass die Mutter ‑ trotz unzweifelhaft besten Willens ‑ aufgrund ihrer psychischen Situation nicht in der Lage wäre, auf den immer wieder aggressiven autistischen Sohn oder den Geschwisterkonflikt, so zu reagieren, sodass es nicht zur neuerlichen Gefährdung seines Wohles kommen werde, unrichtig wäre. Eine solche Gefährdung wäre durch eine Regelung des Aufenthalts von Montag bis Freitag in der Wohngemeinschaft, aber an Wochenenden und Feiertagen sowie während der Ferien nicht hintangehalten.
6. Einer weiteren Begründung bedarf dieser Beschluss nicht (§ 71 Abs 3 AußStrG).
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