OGH 10ObS126/15z

OGH10ObS126/15z17.11.2015

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Fellinger als Vorsitzenden, die Hofräte Univ.‑Prof. Dr. Neumayr und Dr. Schramm sowie die fachkundigen Laienrichter Werner Rodlauer (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Wolfgang Cadilek (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei R*****, vertreten durch Dr. Manfred Schiffner, Mag. Werner Diebald und Mag. Kuno Krommer, Rechtsanwälte in Köflach, gegen die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, Adalbert‑Stifter-Straße 65, 1200 Wien, wegen Versehrtenrente, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 17. September 2015, GZ 6 Rs 50/15t‑23, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2015:010OBS00126.15Z.1117.000

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision der klagenden Partei wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

Bei der Klägerin, einer Altenpflegerin, wurde am 17. Juni 2011 eine rechtsseitige Dickdarmresektion wegen divertikelbedingter Perforation und entsprechender Bauchfellentzündung durchgeführt. Postoperativ kam es im Bereich der Laparotomienarbe zu einer Wundheilstörung, die immer wieder antibiotisch behandelt und mit Verbandswechseln ambulant zum Stillstand gebracht wurde. Im Jänner bzw Februar 2012 verspürte die Klägerin beim Heben einer Patientin im Rahmen ihrer Berufstätigkeit einen Stich im Bereich der Bauchnarbe. In weiterer Folge wurde am 29. März 2012 eine kleine Vorwölbung im Sinne einer Narbenhernie diagnostiziert und intraoperativ am 30. März 2012 ein sogenanntes Bionetz zum Verschluss des Narbenbruchs eingesetzt. Der postoperative Verlauf war unkompliziert.

Am 2. Jänner 2013 unterstützte die Klägerin im Zuge ihrer beruflichen Tätigkeit eine Heimbewohnerin beim Duschen. Als diese vom Duschsessel aufstand, rutschte sie aus und fiel auf die Klägerin, die sie reflexartig auffing. Dabei erlitt die Klägerin, die einen Stich verspürte, ein sogenanntes Hebetrauma; es kam zum Ausriss des Netzes, welches die Bruchpforte verschlossen hatte. Dieser Ausriss wurde operativ am 9. Jänner 2013 versorgt.

Der Netzriss hätte auch innerhalb eines Jahres vor oder nach dem Vorfall vom 2. Jänner 2013 im privaten Umfeld der Klägerin bei jeder abdominellen Druckerhöhung (Hustenanfälle, Stuhlpressen, jegliche mittelschwere Arbeiten im Haushaltsbereich) verursacht werden können.

Das Erstgericht wies das auf Gewährung von Unfallversicherungsleistungen aus dem Ereignis vom 2. Jänner 2013 gerichtete Klagebegehren ab. Die Zurechnung zur Unfallversicherung scheitere daran, dass keine aus dem geschützten Lebensbereich stammende und in einem Sinnzusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stehende Ursache wesentliche Bedingung für den Eintritt des Körperschadens der Klägerin gewesen sei. Der bei der Klägerin eingetretene Leidenszustand hätte in gleicher Intensität innerhalb eines Jahres jederzeit durch ein alltägliches Ereignis ausgelöst werden können.

Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung und ließ die Revision mangels erheblicher Rechtsfrage nicht zu. Das der versicherten Tätigkeit zuzurechnende Hebetrauma sei keine wesentliche Bedingung für den Netzausriss gewesen, weil die Unfallfolge auch bei einer alltäglichen Belastung in absehbarer Zeit eintreten hätte können.

In ihrer außerordentlichen Revision bekämpft die klagende Partei die Feststellung, dass der Netzriss auch bei jeder abdominellen Druckerhöhung im privaten Umfeld innerhalb eines Jahres vor oder nach dem Unfall ursächlich werden hätte können. Der Sturz der Klägerin am 2. Jänner 2013 stehe in unmittelbarem Kausalzusammenhang mit ihrer Tätigkeit als Pflegehelferin.

Rechtliche Beurteilung

Damit wird keine erhebliche Rechtsfrage dargestellt.

1. Eine Bekämpfung der von den Tatsacheninstanzen getroffenen Feststellungen ist im Revisionsverfahren vor dem Obersten Gerichtshof nicht zulässig.

2. Für die Qualifikation eines Unfalls als Arbeitsunfall ist erforderlich, dass die Verrichtung der Versicherten zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer oder sachlicher Zusammenhang), diese Verrichtung zu dem zeitlich begrenzten Ereignis, dem Unfallereignis geführt hat (Unfallkausalität) und das Unfallereignis einen Gesundheitsschaden der Versicherten verursacht hat (10 ObS 123/12d, SSV‑NF 27/33 = DRdA 2014/6, 48 [Kohlbacher]; 10 ObS 82/13a; SSV‑NF 27/49).

3. Wirkt am Eintritt des Gesundheitsschadens der Versicherten neben der Ursache aus dem Schutzbereich der gesetzlichen Unfallversicherung auch eine Vorerkrankung (Vorschädigung) mit, so wird in ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs der Körperschaden nach der Theorie der wesentlichen Bedingung nur dann der Unfallversicherung zugerechnet, wenn er ohne den Umstand aus der Gefahrensphäre der Unfallversicherung erheblich später oder erheblich geringer eingetreten wäre (RIS‑Justiz RS0084308 [T3]). Als nicht wesentlich wird eine Bedingung angesehen, wenn die Schädigung durch ein alltäglich vorkommendes Ereignis zu annähernd gleicher Zeit und in annähernd demselben Ausmaß hätte ausgelöst werden können (10 ObS 164/09d, SSV‑NF 23/79; Rudolf Müller in SV‑Komm, Vor §§ 174‑177 ASVG Rz 49). Alltäglich sind die Belastungen, die altersentsprechend üblicherweise mit gewisser Regelmäßigkeit im Leben, wenn auch nicht jeden Tag auftreten (10 ObS 50/94, SSV‑NF 8/26; 10 ObS 123/12d, SSV‑NF 27/33 = DRdA 2014/6, 48 [Kohlbacher]).

Die Rechtsprechung hat die „annähernd gleiche Zeit“ einer Schädigung durch jedes andere alltäglich vorkommende Ereignis bislang nicht definiert, aber mehrfach ausgesprochen, dass eine „Verfrühung" des Körperschadens durch den Unfall um mehr als ein Jahr jedenfalls als erheblich anzusehen ist (vgl RIS‑Justiz RS0083987). Dieser Zeitspanne von einem Jahr kommt jedoch keine allein ausschlaggebende Bedeutung zu; die Entscheidung über die Wesentlichkeit einer Ursache richtet sich vielmehr nach den Besonderheiten des Einzelfalls (10 ObS 164/09d, SSV‑NF 23/79).

4. Wie das Berufungsgericht in Einklang mit dieser zitierten höchstgerichtlichen Rechtsprechung ausgeführt hat, hängt die Entscheidung des vorliegenden Falls davon ob, ob der Schaden auch bei einer „Alltagsbelastung“ in absehbarer Zeit eingetreten wäre bzw ausgelöst werden hätte können. Nach den vom Berufungsgericht übernommenen Feststellungen des Erstgerichts war das bereits vorhandene Leiden der Klägerin so leicht ansprechbar, dass jede abdominelle Druckerhöhung auch im privaten Bereich (Hustenanfälle, Stuhlpressen, jegliche mittelschwere Arbeiten im Haushaltsbereich) innerhalb eines Jahres zu einem Netzausriss führen hätten können. Das der versicherten Tätigkeit zuzurechnende Hebetrauma war daher keine wesentliche Bedingung für den Netzausriss; überragende Bedeutung kommt der ‑ nicht im Schutzbereich der gesetzlichen Unfallversicherung gelegenen ‑ Schadensanlage zu.

Mangels erheblicher Rechtsfrage ist die außerordentliche Revision der Klägerin zurückzuweisen.

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