OGH 10ObS100/15a

OGH10ObS100/15a22.10.2015

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Fellinger als Vorsitzenden, die Hofräte Univ.‑Prof. Dr. Neumayr und Dr. Schramm sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Werner Hallas (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Ernst Bassler (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei M*****, vertreten durch Dr. Klaus Plätzer, Rechtsanwalt in Salzburg, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich‑Hillegeist‑Straße 1, wegen Berufsunfähigkeits-pension, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 10. Juni 2015, GZ 11 Rs 51/15x‑22, mit dem das Urteil des Landesgerichts Salzburg als Arbeits‑ und Sozialgericht vom 6. Februar 2015, GZ 18 Cgs 96/14x-17, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2015:010OBS00100.15A.1022.000

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Rechtssache wird an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Begründung

Die beklagte Partei lehnte mit Bescheid vom 2. 5. 2014 den Antrag des 1981 geborenen Klägers vom 24. 10. 2013 auf Weitergewährung der mit 31. 12. 2013 befristeten Berufsunfähigkeitspension ab. Zugleich wurde ausgesprochen, dass ab 1. 1. 2014 weiterhin vorübergehende Berufsunfähigkeit vorliege, als berufliche Maßnahmen der Rehabilitation eine Qualifizierung zum Angestellten im administrativen Bereich, Hygienefachkraft und psychosoziale Beratung in der Pflege zweckmäßig und zumutbar sei und Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation nicht zweckmäßig seien.

Der Kläger leidet an den physischen und psychischen Folgen eines schweren Motorradunfalls vom 9. 11. 2007. Aufgrund seines medizinischen Leistungskalküls ist ihm derzeit eine Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt oder auch als Diplomkrankenpfleger nicht zumutbar.

Aufgrund der bisherigen Entwicklung der posttraumatischen Leiden kann nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine Verbesserung des Leistungskalküls des Klägers ausgeschlossen werden. Bei konsequent fortgeführter neurologischer und psychiatrischer engmaschiger Kontrolle mit gezielter antidepressiver Medikation und Fortführung der psychotherapeutischen Behandlung ist eine Besserung im Bereich der Depression nicht auszuschließen, sodass insgesamt möglicherweise wieder eine Arbeitsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erreicht werden kann. Die Besserungswahrscheinlichkeit besteht im Ausmaß von 10 bis 20 %. Eine neuropsychiatrische Nachuntersuchung ist in zwei bis drei Jahren zu empfehlen.

Das Erstgericht wies das auf Weitergewährung der Berufsunfähigkeitspension im gesetzlichen Ausmaß über den 31. 12. 2013 hinaus gerichtete Klagebegehren ab. Es traf die eingangs wiedergegebenen und weitere Feststellungen. Rechtlich führte es aus, dass der Kläger nicht voraussichtlich dauerhaft berufsunfähig sei.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Berufsunfähigkeit liege im Sinn der Rechtsprechung zu § 256 ABGB „voraussichtlich dauerhaft“ (§ 271 Abs 1 Z 1 ASVG) vor, wenn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststehe, dass die Arbeitsfähigkeit nicht wiederhergestellt werden könne.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass die Revision zulässig sei, weil zur Auslegung des § 271 Abs 1 Z 1 ASVG idF des SRÄG 2012 noch keine Rechtsprechung bestehe.

Die unbeantwortet gebliebene Revision des Klägers ist zulässig und im Sinn des Aufhebungsantrags auch berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

1. Der erkennende Senat hat bereits in der Entscheidung vom 30. 7. 2015, 10 ObS 40/15b (= RIS‑Justiz RS0130217), mit ausführlicher Begründung die vom Berufungsgericht vertretene Auffassung der Auslegung des § 271 Abs 1 Z 1 ASVG abgelehnt und ausgesprochen, dass der Versicherte nicht beweisen muss, dass eine Besserung des Gesundheitszustands (mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit) ausgeschlossen ist (eine Besserung unmöglich oder an Gewissheit grenzend unwahrscheinlich ist), sondern nur, dass sie nicht sehr wahrscheinlich ist, damit feststeht, dass Berufsunfähigkeit (Invalidität) „voraussichtlich dauerhaft“ vorliegt (vgl auch 10 ObS 89/15h zum Anspruch auf Invaliditätspension).

2. Der Anspruch auf Berufsunfähigkeits-pension/Invaliditätspension setzt voraus, dass die Berufsunfähigkeit (§ 273 ASVG)/die Invalidität (§ 255 ASVG) aufgrund des körperlichen oder geistigen Zustands voraussichtlich dauerhaft vorliegt (§ 271 Abs 1 Z 1; § 254 Abs 1 Z 1 ASVG). Es reicht demnach nicht aus, dass irgendeine Besserungsmöglichkeit des Gesundheitszustands des Versicherten besteht, sondern entscheidend ist eine kalkülsrelevante, die Berufsunfähigkeit/Invalidität beseitigende Besserung (Panhölzl in DRdA 2011/18, 153 [156 f]). Bei Versicherten mit Berufsschutz muss sich daher das medizinische Leistungskalkül soweit bessern können, dass der (die) Versicherte eine berufsschutzerhaltende Tätigkeit verrichten kann.

3. Im Sinne der Entscheidungen 10 ObS 40/15b und 10 ObS 89/15h liegt Berufsunfähigkeit/Invalidität voraussichtlich dauerhaft vor, wenn eine die Berufsunfähigkeit/Invalidität beseitigende Besserung des Gesundheitszustands der versicherten Person mit hoher Wahrscheinlichkeit (im Sinn des Regelbeweismaßes der ZPO) nicht zu erwarten ist. Diesen Beweis einer anspruchsbegründenden Tatsache hat die versicherte Person zu erbringen.

4. Dem Kläger ist dieser Beweis gelungen, weil nach den Feststellungen der Vorinstanzen eine kalkülsrelevante Besserung seines Gesundheitszustands mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht zu erwarten ist.

5. Obwohl das Vorliegen der Leistungsvoraussetzung nach § 271 Abs 1 Z 1 ASVG zu bejahen ist, ist die Sache nicht spruchreif. Voraussetzung für die begehrte Leistung ist auch, dass berufliche Maßnahmen der Rehabilitation nicht zweckmäßig oder nicht zumutbar sind (§ 271 Abs 1 Z 2 ASVG). Feststellungen, die eine Beurteilung dieser zwischen den Parteien strittigen Frage erlauben, hat das Erstgericht nicht getroffen. Dies führt zur Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen und zur Zurückverweisung der Rechtssache an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung.

6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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