OGH 10ObS89/15h

OGH10ObS89/15h2.9.2015

Der Oberste Gerichtshof hat als Rekursgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Fellinger als Vorsitzenden, die Hofräte Univ.‑Prof. Dr. Neumayr und Dr. Schramm sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Christoph Wiesinger (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und KR Karl Frint (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Marina W*****, vertreten durch Mag. Nikolaus Weiser, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist‑Straße 1, vertreten durch Dr. Josef Milchram und andere Rechtsanwälte in Wien, wegen Invaliditätspension, über den Rekurs der beklagten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 26. Mai 2015, GZ 9 Rs 25/15k‑24, mit dem das Urteil des Arbeits‑ und Sozialgerichts Wien vom 27. November 2014, GZ 39 Cgs 94/14w-16, aufgehoben wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2015:010OBS00089.15H.0902.000

 

Spruch:

Der Rekurs wird zurückgewiesen.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 371,52 EUR (davon 61,92 EUR USt) bestimmten Kosten der Rekursbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Begründung

Die beklagte Partei lehnte mit Bescheid vom 3. 3. 2014 den Antrag der 1980 geborenen Klägerin vom 4. 10. 2013 auf Weitergewährung der mit 31. 12. 2013 befristeten Invaliditätspension ab. Zugleich wurde ausgesprochen, dass ab 1. 1. 2014 weiterhin vorübergehende Invalidität vorliege und daher als Maßnahme der medizinischen Rehabilitation zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit der Verlauf weiterer Therapien abzuwarten sei; Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation seien nicht zweckmäßig. Ab dem 1. 1. 2014 bestehe für die weitere Dauer der vorübergehenden Invalidität Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung.

Die Klägerin litt am 1. 1. 2014 und leidet an einer Polytoxikomanie seit dem Jahr 2001 und an einer Alkoholkrankheit. Zur Zeit der Untersuchung durch den Sachverständigen konsumierte sie keine schädlichen Substanzen und sie war in ein Substitutionsprogramm eingegliedert. Bei ihr liegt eine kombinierte Persönlichkeitsstörung, eine schwere depressive Symptomatik mit dysphorischen Reaktionen und eine psychotische Reaktion Anfang des Jahres 2014 vor. Aufgrund ihres Gesundheitszustands war sie, die keine qualifizierte Erwerbstätigkeit ausgeübt hat, seit 1. 1. 2014 zur Ausübung einer regelmäßigen Erwerbstätigkeit weiterhin nicht in der Lage. Eine zukünftige Verbesserung dieses Gesundheitszustands ist möglich. Sie mag zwar unwahrscheinlich erscheinen, ist jedoch jedenfalls nicht auszuschließen. Dazu ist die Aufnahme einer regelmäßigen psychiatrischen Betreuung und die Durchführung einer medikamentösen Therapie erforderlich. Gegebenenfalls (je nach Ratschlag des behandelnden Arztes) können auch eine Psychotherapie oder eine stationäre Rehabilitation durchgeführt werden.

Das Erstgericht wies das auf Weitergewährung der Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß über den 31. 12. 2013 hinaus gerichtete Klagebegehren ab und sprach aus, dass bei der Klägerin vorübergehende Invalidität vorliege, Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation nicht zweckmäßig seien, als Maßnahme der medizinischen Rehabilitation das Ergebnis weiterer Therapiemaßnahmen abzuwarten sei und ab 1. 1. 2014 für die weitere Dauer der vorübergehenden Invalidität Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung bestehe. Es traf die eingangs wiedergegebenen und weitere Feststellungen. Rechtlich führte es aus, dass bei der Klägerin ein Gesundheitszustand vorliege, der einer Besserung zugänglich sei. Dass eine Besserung unwahrscheinlich sei, genüge nach der zum außer Kraft getretenen § 256 ASVG ergangenen Rechtsprechung nicht für die Annahme dauernder Invalidität.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin Folge. Es hob die angefochtene Entscheidung auf und verwies die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurück. Für die Rechtslage vor dem SRÄG 2012 sei die befristete Pension der Regelfall gewesen. Da bei der Klägerin die Befristung der zuletzt gewährten Invaliditätspension mit 31. 12. 2013 abgelaufen sei, sei bei der Prüfung der Weitergewährung dieser Leistung § 254 Abs 1 ASVG idF SRÄG 2012 anzuwenden. Danach sei Voraussetzung für den Anspruch auf Invaliditätspension unter anderem, dass die Invalidität aufgrund des körperlichen oder geistigen Zustands voraussichtlich dauerhaft vorliege. Die Annahme dauerhaft vorliegender Invalidität erfordere nicht, dass mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststehe, eine Besserung sei nicht möglich. Es sei das Regelbeweismaß der hohen Wahrscheinlichkeit anzuwenden. Es stehe fest, dass eine Besserung des Gesundheitszustands der Klägerin möglich, also nicht ausgeschlossen sei. Aus der weiteren Feststellung der „Unwahrscheinlichkeit“ einer künftigen Besserung allein könne nicht abschließend beurteilt werden, ob eine Besserung mit der nach dem Regelbeweismaß heranzuziehenden hohen Wahrscheinlichkeit nicht eintreten werde. Daher sei das Verfahren ergänzungsbedürftig.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass der Rekurs an den Obersten Gerichtshof zulässig sei, weil zur Frage des „bei der Prüfung der Besserbarkeit nach der neuen Rechtslage anwendbaren Beweismaßes“ zur Auslegung der durch das SRÄG 2012 geschaffenen Voraussetzungen der „voraussichtlich dauerhaft“ vorliegenden Invalidität bzw Berufsunfähigkeit noch keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs vorliege.

Rechtliche Beurteilung

Der von der Klägerin beantwortete Rekurs der beklagten Partei ist nicht zulässig, weil der Oberste Gerichtshof die Frage, wann Invalidität (Berufsunfähigkeit) „voraussichtlich dauerhaft“ im Sinn der durch das SRÄG 2012 geschaffenen Rechtslage vorliegt, jüngst zu 10 ObS 40/15b bereits entschieden hat.

Der erkennende Senat hat in dieser Entscheidung vom 30. 7. 2015 aus den nachstehenden Erwägungen ausgesprochen, dass die Versicherte nicht beweisen muss, dass eine Besserung des Gesundheitszustands (mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit) ausgeschlossen ist (eine Besserung unmöglich oder an Gewissheit grenzend unwahrscheinlich ist), sondern nur, dass sie nicht sehr wahrscheinlich ist, damit feststeht, dass Berufsunfähigkeit (Invalidität) „voraussichtlich dauerhaft“ vorliegt:

„1. § 256 ASVG in der vor dem StrukturanpassungsG 1996 geltenden Fassung sah vor, dass die Invaliditätspension bei vorübergehender Invalidität für eine bestimmte Frist zuerkannt werden kann (Satz 1). Bestand nach Ablauf dieser Frist Invalidität weiter, so war die Pension ‑ bei fristgerechtem Antrag ‑ für die weitere Dauer der Invalidität zuzuerkennen (Satz 2). Der Oberste Gerichtshof sprach dazu aus, vorübergehende geminderte Arbeitsfähigkeit sei nicht erst dann anzunehmen, wenn ihr Wegfall in absehbarer Zeit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten sei. Es genüge vielmehr, dass eine diesbezügliche hohe (große) Wahrscheinlichkeit bewiesen werde, die wesentliche Besserung des die geminderte Arbeitsfähigkeit verursachenden Zustands in absehbarer Zeit also sehr wahrscheinlich sei (RIS‑Justiz RS0085150).

2. Nach § 256 Abs 1 ASVG idF StrukturanpassungsG 1996 (iVm § 271 Abs 3, § 277 Abs 2 ASVG) ist vorgesehen, dass eine Pension wegen geminderter Arbeitsfähigkeit längstens für die Dauer von 24 Monaten gebührt und für längstens 24 Monate weiter zu gewähren ist, wenn die geminderte Arbeitsfähigkeit nach Ablauf der Befristung weiterbesteht. Der Gesetzgeber schaffte damit die Möglichkeit der flexiblen Zuerkennung der Pension. Aufgrund von nicht vorhersehbaren Weiterentwicklungen medizinischer Behandlungsmethoden und der Unsicherheit von Langzeitprognosen auf diesem Gebiet bestand ein entsprechendes Bedürfnis. Zudem erwartete er, dass dadurch die Schwierigkeiten vermieden werden, die zuvor beim Entzug von Pensionen wegen geminderter Arbeitsfähigkeit auftraten (vgl ErläutRV 72 BlgNR 20. GP 248; 10 ObS 8/13v, SSV‑NF 27/24). Ohne zeitliche Befristung ist die Pension aber zuzuerkennen, wenn 'auf Grund des körperlichen oder geistigen Zustands dauernde Invalidität (Berufsunfähigkeit, Dienstunfähigkeit) anzunehmen ist' (§ 256 Abs 2 ASVG). Die Materialien halten dazu fest, sinnvollerweise müsse vom Grundsatz der Befristung abgesehen werden, wenn auch unter Bedachtnahme auf die Weiterentwicklung der medizinischen Behandlungsmethoden infolge des körperlichen oder geistigen Zustands des Versicherten dauernde Invalidität (Berufsunfähigkeit, Dienstunfähigkeit) anzunehmen sei. Zugleich gab der Gesetzgeber die Unterscheidung von dauernder und vorübergehender Invalidität (Berufsunfähigkeit, Dienstunfähigkeit) bei den Anspruchsvoraussetzungen auf (vgl 10 ObS 242/03s).

3. Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zu dieser Bestimmung ist dauernde geminderte Arbeitsfähigkeit nicht anzunehmen, wenn ‑ auch nur geringe ‑ Chancen auf Besserung des Gesundheitszustands bestehen (vgl 10 ObS 130/01t, SSV‑NF 15/63; RIS‑Justiz RS0115354). Diese Rechtsprechung stützt sich auf den mit der Novellierung des § 256 ASVG vom Gesetzgeber verfolgten Zweck, die grundsätzliche Befristung von Pensionen aus den Versicherungsfällen der geminderten Arbeitsfähigkeit zu verankern (vgl 10 ObS 242/03s). Für den vom Versicherten zu erbringenden Beweis des Vorliegens dauernder Invalidität verlangt die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs, dass mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststeht, dass die Arbeitsfähigkeit des Versicherten nicht wiederhergestellt werden kann (vgl 10 ObS 88/10d, SSV‑NF 24/60 = DRdA 2011/18, 153 [krit Panhölzl]; RIS‑Justiz RS0115354). Dauernde geminderte Arbeitsfähigkeit wurde aber trotz Besserungsfähigkeit des Gesundheitszustands bejaht, wenn die dazu erforderlichen Maßnahmen dem Versicherten unzumutbar sind (10 ObS 8/13v, SSV‑NF 27/24).

4. § 256 ASVG ist mit Ablauf des 31. 12. 2013 außer Kraft getreten (§ 669 Abs 2 ASVG) und auf die 1980 geborene Klägerin nicht mehr anzuwenden (vgl § 669 Abs 5 und Abs 6 ASVG).

5. Nach der durch das SRÄG 2012, BGBl I 2013/3, geschaffenen Rechtslage gebührt anstelle einer befristeten Pension aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit Versicherten, die das 50. Lebensjahr nicht vor dem 1. 1. 2014 vollendet haben (vgl § 669 Abs 5 ASVG idF 84. ASVG‑Nov, BGBl I 2015/2) grundsätzlich ‑ als Leistung der Krankenversicherung ‑ das Rehabilitationsgeld (§ 143a ASVG), wenn die Anspruchsvoraussetzungen für diese Leistung vorliegen und nicht Umschulungsgeld in Verbindung mit beruflichen Maßnahmen der Rehabilitation gebührt.

6. Eine Voraussetzung für den Anspruch auf Rehabilitationsgeld ist, dass vorübergehende geminderte Arbeitsfähigkeit im Ausmaß von zumindest sechs Monaten vorliegt (§ 255b, § 273b ASVG idF 84. ASVG‑Nov, BGBl I 2015/2, rückwirkend mit 1. 1. 2014 in Kraft getreten [§ 688 Abs 1 Z 2 ASVG]).

7. Nach § 254 Abs 1 Z 1 ASVG in der im vorliegenden Fall anzuwendenden Fassung des SRÄG 2012 ist eine Voraussetzung für die Invaliditätspension, dass die Invalidität (§ 255 ASVG) 'auf Grund des körperlichen oder geistigen Zustandes voraussichtlich dauerhaft vorliegt'. Dies ist nach den ErläutRV 2000 BlgNR 24. GP 24 dann der Fall, wenn 'eine Besserung des Gesundheitszustands des Versicherten nicht zu erwarten ist' (in diesem Sinn auch Födermayr in SV‑Komm § 254 ASVG Rz 14).

8. Der Gesetzgeber unterscheidet demnach (wieder) zwischen vorübergehender und dauerhafter (dauernder) geminderter Arbeitsfähigkeit bei den Anspruchsvoraussetzungen und ist vom Konzept der grundsätzlichen Befristung von Leistungen wegen geminderter Arbeitsfähigkeit abgegangen.

9. Nach dem Wortlaut des § 254 Abs 1 Z 1 ASVG muss die Invalidität nicht dauerhaft, sondern nur voraussichtlich dauerhaft, also nicht mit Gewissheit, sondern nur wahrscheinlich vorliegen. Aus den referierten Gesetzesmaterialien des SRÄG 2012 erhellt, dass die bloß mögliche Besserung des die geminderte Arbeitsfähigkeit verursachenden Zustands nicht mehr genügt, um das Vorliegen dauerhaft geminderter Arbeitsfähigkeit verneinen zu können. Die Besserung des Gesundheitszustands des Versicherten erwarten, bedeutet nämlich mit ihr zu rechnen, sie für sehr wahrscheinlich zu halten (vgl die oben unter 1. referierte Rechtsprechung zum Begriff der vorübergehenden Invalidität). Was nur möglich ist, ist noch nicht wahrscheinlich. Entgegen der Ansicht der Rekurswerberin ist die zu § 256 Abs 2 ASVG ergangene Rechtsprechung nicht zur Auslegung des § 254 Abs 1 Z 1 ASVG (und der Parallelbestimmung des § 271 Abs 1 Z 1 ASVG) heranzuziehen.

10. Die Versicherte muss demnach nicht beweisen, dass eine Besserung des Gesundheitszustands (mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit) ausgeschlossen ist (eine Besserung unmöglich oder an Gewissheit grenzend unwahrscheinlich ist), sondern nur, dass sie nicht sehr wahrscheinlich ist, damit feststeht, dass Berufsunfähigkeit (Invalidität) 'voraussichtlich dauerhaft' vorliegt.“

11. Diesen vom Obersten Gerichtshof in seiner soeben zitierten Entscheidung 10 ObS 40/15b vertretenen Grundsätzen ist bereits das Berufungsgericht gefolgt. Es entspricht auch der ausdrücklichen Anordnung des Gesetzgebers im SRÄG 2012 (vgl § 669 Abs 1 Z 2 und Abs 5 ASVG), dass für Versicherte bis einschließlich des Geburtsjahrganges 1963 weiterhin das „alte“ Recht gelten soll, während für alle Versicherten der Geburtsjahrgänge ab 1964 das „neue“ Recht gilt und somit insoweit eine unterschiedliche Rechtslage im Leistungsregime für Versicherungsfälle der geminderten Arbeitsfähigkeit besteht.

12. Im Hinblick auf die mittlerweile vorliegende Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs war daher der Rekurs der beklagten Partei mangels erheblicher Rechtsfrage im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO zurückzuweisen.

13. Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 2 lit a ASGG. Im Zwischenstreit über die mangels erheblicher Rechtsfrage verneinte Zulässigkeit des Rekurses gegen einen Aufhebungsbeschluss im Sinn des § 519 Abs 1 Z 2 ZPO findet ein Kostenvorbehalt nach § 52 ZPO nicht statt (RIS‑Justiz RS0123222). Die Rekursbeantwortung stellt sich als zweckentsprechende Rechtsverteidigungsmaßnahme dar, auch wenn die Klägerin darin im Hinblick auf die erst später ergangene Entscheidung des Obersten Gerichtshofs noch nicht auf die Unzulässigkeit des Rekurses hinweisen konnte (vgl 10 ObS 86/14s ua).

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