OGH 10ObS102/15w

OGH10ObS102/15w22.10.2015

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Fellinger als Vorsitzenden, den Hofrat Univ.‑Prof. Dr. Neumayr und die Hofrätin Dr. Fichtenau sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Werner Hallas (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Ernst Bassler (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei R*****, vertreten durch Dr. Renate Garantini, Rechtsanwältin in Linz, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich‑ Hillegeist‑Straße 1, wegen Invaliditätspension, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 24. Juni 2015, GZ 12 Rs 49/15k‑21, womit das Urteil des Landesgerichts Linz als Arbeits‑ und Sozialgericht vom 24. Februar 2015, GZ 10 Cgs 199/14h‑17, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2015:010OBS00102.15W.1022.000

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Der Kläger hat die Kosten seines erfolglosen Rechtsmittels selbst zu tragen.

Entscheidungsgründe:

Die beklagte Partei lehnte mit Bescheid vom 2. 6. 2014 den Antrag des am 12. 11. 1964 geborenen Klägers vom 26. 3. 2014 auf Weitergewährung der mit 30. 6. 2014 befristeten Invaliditätspension ab. Zugleich wurde ausgesprochen, dass ab 1. 7. 2014 weiterhin vorübergehende Invalidität vorliege und als Maßnahme der medizinischen Rehabilitation zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit der Verlauf weiterer Therapien abzuwarten sei; Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation seien nicht zweckmäßig. Ab dem 1. 7. 2014 bestehe für die weitere Dauer der vorübergehenden Invalidität Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung.

Der Kläger war ‑ unstrittig ‑ im Beobachtungs‑ zeitraum gemäß § 255 Abs 2 ASVG nicht überwiegend in erlernten/angelernten Berufen tätig. Bei ihm liegt ein Zustand nach mehrfacher Operation eines Wirbelgleitens vor. Es besteht eine chronische Schmerzsymptomatik mit teilweiser Wurzelirritationssymptomatik L 5 links und einer höhergradigen Peroneusparese sowie eine depressive Episode von etwa leicht‑ bis mittelgradigem Ausmaß mit Somatisierung. Die körperlichen Beschwerden werden wesentlich durch die psychische Erkrankung, die sich primär in der Somatisierungsstörung äußert, verstärkt. Dadurch werden vorhandene Schmerzen und neurologische Ausfälle verstärkt empfunden, woraus erhebliche Einschränkungen der Körperhaltung und der physischen und psychischen Belastbarkeit resultieren. Es ist nicht davon auszugehen, dass durch eine weitere Operation eine Verbesserung oder wesentliche Änderung des Leistungskalküls eintreten wird. Eine Verbesserung müsste in dem ‑ im Vordergrund stehenden ‑ Bereich der Somatisierungsstörung eintreten. Bisher konnte die Somatisierungsstörung weder durch therapeutische Schritte noch durch Medikamente verbessert werden. Es ist aber möglich, dass eine ambulante oder stationäre psychosomatische Behandlung, welche bereits einmal begonnen wurde, dann aber aufgrund der Schmerzen vorzeitig abgebrochen wurde, ein zweites Mal versucht wird. Der aktuelle Zustand ist ‑ unter Berücksichtigung des Alters des Klägers, des bisherigen Krankheitsverlaufs und der erfolgten Behandlungsschritte ‑ mit einer über 50%igen Wahrscheinlichkeit als Dauerzustand anzusehen. Derzeit ist der Kläger (unstrittig) arbeitsunfähig. Auch bei Einhaltung seines Leistungskalküls würden selbst bei einer Halbtagsbeschäftigung mit hoher Wahrscheinlichkeit leidensbedingte Krankenstände von mehr als 7 Wochen pro Jahr anfallen.

Das Erstgericht wies das auf Weitergewährung der Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß über den 1. 7. 2014 hinaus gerichtete Klagebegehren unter Wiederherstellung des bekämpften Bescheids ab. Es traf die eingangs wiedergegebenen und weitere Feststellungen. Rechtlich führte es aus, da beim Kläger die Befristung der zuletzt gewährten Invaliditätspension abgelaufen sei, sei bei der Prüfung der Weitergewährung dieser Leistung § 254 Abs 1 ASVG idF SRÄG 2012 anzuwenden. Danach sei Voraussetzung für den Anspruch auf Invaliditätspension unter anderem, dass die Invalidität aufgrund des körperlichen oder geistigen Zustands „voraussichtlich dauerhaft“ vorliege. Unter „voraussichtliche dauerhaft“ iSd § 254 Abs 1 ASVG sei ein nach medizinischen und wissenschaftlichen Erfahrungssätzen zu prognostizierender üblicher Verlauf einer Krankheit zu verstehen. Der beim Kläger prognostizierte Krankheitsverlauf schließe Besserungsmöglichkeiten ein. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich der Zustand des Klägers nicht mehr verbessere, liege zwar über 50 %, dies sei aber nicht mit einer voraussichtlich dauerhaften Invalidität iSd § 254 Abs 1 ASVG idF des 2. SRÄG 2012 gleichzusetzen.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Rechtlich ging es davon aus, die Annahme dauerhaft vorliegender Invalidität erfordere nicht, dass mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststehe, eine Besserung sei nicht möglich. Im Geltungsbereich des § 254 Abs 1 ASVG idF SRÄG 2012 habe es beim Regelbeweismaß der hohen Wahrscheinlichkeit zu bleiben. Die Feststellung, dass der Zustand des Klägers mit einer über 50%igen Wahrscheinlichkeit als Dauerzustand anzusehen sei, beschreibe aber keinen hohen Wahrscheinlichkeitsgrad eines Dauerzustands. Wann eine „hohe Wahrscheinlichkeit“ anzunehmen sei, hänge nicht nur von den objektiven Umständen des Anlassfalls ab, sondern auch von der subjektiven Einschätzung des Richters. Man könne insofern auch von einem „flexiblen Beweismaß“ sprechen. Auch im Verfahren vor den Sozialgerichten würden die Regeln der objektiven Beweislast gelten. Ein Anspruch könne nur bejaht werden, wenn die anspruchsbegründenden Tatsachen erwiesen seien. Bei mehreren Werten und bei „von ‑bis‑Angaben“ habe der Beweispflichtige nur den für ihn ungünstigeren Wert bewiesen. Der Kläger habe demnach nur eine knapp über 50%ige Wahrscheinlichkeit eines Dauerzustands seiner Arbeitsunfähigkeit unter Beweis gestellt. Nach dem allgemeinen Sprachgebrauch und auch der wissenschaftlichen Terminologie sei ein knapp über 50%iger Wahrscheinlichkeitsgrad nicht mit dem Begriff einer hohen Wahrscheinlichkeit gleichzusetzen, sondern allenfalls mit einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit, während die hohe Wahrscheinlichkeit ab ca 75 % oder auch erst ab 80 % angesetzt werde. In diesem Sinn habe der Oberste Gerichtshof in der Entscheidung 10 ObS 2/07b, SSV-NF 21/7, die Ansicht der Vorinstanzen gebilligt, die geforderte hohe Wahrscheinlichkeit des Eintritts einer psychischen Krankheit und der Notwendigkeit einer ärztlichen Behandlung sei nicht erfüllt, wenn die Wahrscheinlichkeit für depressive Entwicklungen (nur) über 50 % betrage.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass die Revision an den Obersten Gerichtshof zulässig sei, weil zur Frage der „voraussichtlich dauerhaft“ vorliegenden Invalidität iSd § 254 Abs 1 Z 1 ASVG idF SRÄG 2012 bzw zu dem bei der Prüfung der Invalidität nach dieser Bestimmung anzuwendenden Beweismaß noch keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs vorliege.

Die von der beklagten Partei unbeantwortet gebliebene Revision des Klägers ist nicht berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

1. Der erkennende Senat hat bereits in der Entscheidung vom 30. 7. 2015, 10 ObS 40/15b (= RIS‑Justiz RS0130217), mit ausführlicher Begründung zu § 271 Abs 1 Z 1 ASVG ausgesprochen, dass der Versicherte nicht beweisen muss, dass eine Besserung des Gesundheitszustands (mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit) ausgeschlossen ist (eine Besserung unmöglich oder an Gewissheit grenzend unwahrscheinlich ist), sondern nur, dass sie nicht sehr wahrscheinlich ist, damit feststeht, dass Berufsunfähigkeit (Invalidität) „voraussichtlich dauerhaft“ vorliegt. Diese Grundsätze gelten nach einer weiteren Entscheidung des Obersten Gerichtshofs vom 2. 9. 2015, 10 ObS 89/15h, in gleicher Weise auch für das Vorliegen von „voraussichtlich dauerhafter Invalidität“ iSd § 254 Abs 1 Z 1 ASVG idF SRÄG 2012.

2. Der Anspruch auf Berufsunfähigkeitspension/Invaliditätspension setzt voraus, dass die Berufsunfähigkeit (§ 273 ASVG) Invalidität (§ 255 ASVG) aufgrund des körperlichen oder geistigen Zustands voraussichtlich dauerhaft vorliegt (§ 271 Abs 1 Z 1; § 254 Abs 1 Z 1 ASVG). Es reicht demnach nicht aus, dass irgendeine Besserungsmöglichkeit des Gesundheitszustands des Versicherten besteht, sondern entscheidend ist eine kalkülsrelevante, die Berufsunfähigkeit/Invalidität beseitigende Besserung (Panhölzl in DRdA 2011/18, 153 [156 f]). Bei Versicherten mit Berufsschutz muss sich daher das medizinische Leistungskalkül soweit bessern können, dass der (die) Versicherte eine berufsschutzerhaltende Tätigkeit verrichten kann.

3. Im Sinne der Entscheidungen 10 ObS 40/15b und 10 ObS 89/15h liegt Berufsunfähigkeit/Invalidität voraussichtlich dauerhaft vor, wenn eine die Berufsunfähigkeit/Invalidität beseitigende Besserung des Gesundheitszustands der versicherten Person mit hoher Wahrscheinlichkeit (im Sinn des Regelbeweismaßes der ZPO) nicht zu erwarten ist. Diesen Beweis einer anspruchsbegründenden Tatsache hat die versicherte Person zu erbringen.

4. Dem Kläger ist dieser Beweis nicht gelungen. Nach den maßgebenden Feststellungen der Vorinstanzen kann nicht davon ausgegangen werden, dass eine kalkülsrelevante Besserung seines Gesundheitszustands mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht zu erwarten ist.

Die Revision des Klägers bleibt daher ohne Erfolg.

5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Berücksichtigungswürdige Einkommens‑ und Vermögensverhältnisse des Klägers, die einen ausnahmsweisen Kostenersatzanspruch nach Billigkeit rechtfertigen könnten, wurden nicht vorgebracht und sind auch aus der Aktenlage nicht ersichtlich.

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