OGH 10ObS83/15a

OGH10ObS83/15a2.9.2015

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Fellinger als Vorsitzenden, den Hofrat Univ.‑Prof. Dr. Neumayr und die Hofrätin Dr. Fichtenau sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Christoph Wiesinger (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und KR Karl Frint (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Mag. L*****, vertreten durch Mag. Ulrich Salburg, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich‑Hillegeist‑Straße 1, wegen Berufsunfähigkeits-pension, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 29. Mai 2015, GZ 8 Rs 19/15w‑100, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2015:010OBS00083.15A.0902.000

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

Der 1954 geborene Kläger war von 1984 bis 1990, weiters in den Jahren 1994 und 1998 bis 1999 bei diversen jüdischen Einrichtungen als Mitarbeiter im Bereich der Sicherheit beschäftigt. Seine Aufgabe bestand im Schutz dieser jüdischen Einrichtungen und deren Besucher/Bewohner/Mitarbeiter vor Terrorangriffen, wobei mögliche Gefahren im Vorfeld erkannt werden sollten. Im Fall eines (Terror‑)Angriffs wäre der Kläger zum unmittelbaren persönlichen Eingreifen und zur Abwehr des/der Angreifer/s inklusive Schusswaffengebrauch und Nahkampf verhalten gewesen. Seine Tätigkeit bestand weiters in der Koordination der Sicherheit der jüdischen Einrichtungen und der 30 im Bereich der Sicherheit dort tätigen Mitarbeiter. Von 1990 bis 1992 und zuletzt von 2001 bis 2002 war der Kläger jeweils als Personenschützer für Einzelpersonen tätig. Er spricht mehrere Sprachen und verfügt über eine in Litauen abgeschlossene Universitätsausbildung, die mit Bescheid des Dekanats der Grund‑ und Integrativwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien nostrifiziert wurde und dem österreichischen Grad „Magister der Philosophie aus den Fächern Sportwissenschaften und Fächerkombination aus Trainingswissenschaften“ entspricht. Er hat in der vormaligen Sowjetunion und in Israel mehrjährige Militärdienste absolviert und dabei Kenntnisse aus Waffenkunde und im Schießen erworben.

Der Kläger beantragte am 9. 3. 2009 die Gewährung der Berufsunfähigkeitspension.

Das Erstgericht wies das gegen den abweislichen Bescheid der Beklagten gerichtete Klagebegehren ab. Es traf umfangreiche und detaillierte Feststellungen, die sich ‑ soweit für das Revisionsverfahren relevant ‑ im Wesentlichen wie folgt zusammenfassen lassen:

„Zu Beginn seiner Zusammenarbeit mit den jüdischen Einrichtungen absolvierte der Kläger eine dreimonatige Schulungsphase mit anschließender (interner) Abschlussübung. In der Folge nahm er im Rahmen seiner Tätigkeit bei den Dienstgebern der jüdischen Einrichtungen immer wieder an Fortbildungen in der Dauer zwischen einem und drei Monaten teil. Er erlernte im Rahmen der Fortbildungen Waffenkunde, Nahkampf, Routenplanung und die Planung von Veranstaltungen. Im Rahmen der unternehmensinternen Ausbildung wurden Anschläge, die anderswo passiert waren, analysiert und daraus Schlüsse gezogen. Mit Spezialisten u.a aus Israel trainierte er jede Woche Schießen und körperliche Fitness und lernte Theorie (Fragetechniken, Sprengstoffkunde, ...). Wie viele Stunden/ Unterrichtseinheiten diese Aus‑ und Fortbildungen insgesamt umfassten, ist nicht feststellbar.

Die bei den jüdischen Einrichtungen ausgeübten Tätigkeiten sind überwiegend Arbeitertätigkeiten in Mischverwendung mit Elementen von Angestellten‑Berufstätigkeiten, die dem Berufsbereich Aufsichts‑ und Bewachungsberufe‑Personenschutz angehören. Es handelt sich nicht um Tätigkeiten, für die es erforderlich ist, praktische Kenntnisse und Fähigkeiten zu erwerben, die einem erlernten Beruf gleichzuhalten wären. Die Tätigkeit der Personenschützer/Bodyguards ist sehr betriebsspezifisch; jedes Unternehmen schafft sich eigene Voraussetzungen, die es für seine Personenschützer für erforderlich hält. Der Kläger konnte seine zusätzlichen Fachqualifikationen (seine Sprachkenntnisse, seine im Rahmen des Militärdiensts erworbenen, sowie seine sportlichen Kenntnisse und Fähigkeiten) bei seinen Dienstgebern gut verwerten. Er kann aber aufgrund seiner Tätigkeit und der dort erfolgten Spezialisierung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt im Rahmen dieser Ausbildung nur in einem kleinen Bereich eingesetzt werden. Personen, die einen Lehrberuf erlernt haben, sind im Vergleich dazu in verschiedensten Bereichen einsetzbar. Für eine lehrberufswertige Berufsqualifikation wäre üblicherweise auf der Grundlage mehrjähriger ‑ im Durchschnitt dreijähriger ‑ systematischer Fachausbildung erworbenes berufsbezogenes Fachwissen und Fachkönnen erforderlich.

In Österreich stehen Zertifizierungen aus dem Bereich der Personenschutzfachkraft noch am Anfang. Im europäischen Umfeld besteht in Berlin eine Ausbildung zur Personenschutzfachkraft in der Sicherheitsakademie. Dort erfolgt eine zertifizierte Ausbildung zum Beruf des Bodyguards oder für den Personenschutz. Die theoretische und praktische Ausbildung dauert 6 Monate und umfasst 960 Unterrichtseinheiten.

Der Kläger ist aufgrund seiner medizinischen Einschränkungen nicht mehr in der Lage, seine bisherigen Berufstätigkeiten kalkülsentsprechend durchzuführen. Berücksichtigt man, dass er in Teilbereichen seiner Mischverwendung auch höherwertige (Angestellten)Tätigkeiten wie die Koordination und Organisation von Sicherheitsdiensten und/oder Objektbewachungen durchgeführt hat, so entsprechen seinem medizinischen Leistungskalkül weiterhin u.a. Tätigkeiten als Angestellter bei Sicherheitsdienstleistungs‑ und Bewachungsfirmen mit kollektivvertraglicher Wertigkeit in der Beschäftigungsgruppe 3, befasst etwa mit der Erstellung von Personal‑ und Einsatzplänen.

Weiter könnte der Kläger kalkülsentsprechend Aufsichtsberufe und Aufsehertätigkeiten, beispielsweise als Portier in größeren Betrieben diverser Wirtschaftssparten und auch in öffentlichen Institutionen verrichten oder auch als Aufseher in Dauerausstellungsräumlichkeiten eingesetzt werden.“

Rechtlich ging das Erstgericht davon aus, auf den Kläger, der überwiegend Arbeitertätigkeiten verrichtet habe, sei § 255 ASVG in der zum Stichtag geltenden Fassung anzuwenden. Seine Tätigkeiten seien einem Lehrberuf nicht gleichzuhalten, sodass kein angelernter Beruf vorliege und das Verweisungsfeld mit dem allgemeinen Arbeitsmarkt ident sei. Da der Kläger auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt weiterhin kalkülsentsprechend berufstätig sein könne, stehe ihm eine Berufsunfähigkeitspension nicht zu. Selbst wenn man die Tätigkeit des Klägers zur Gänze dem Angestelltenbereich (§ 273 Abs 1 ASVG) zuordnen sollte, wäre für den Kläger im Ergebnis nichts gewonnen, weil er in Berufen von ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten ‑ wie in der zuletzt nicht bloß vorübergehend ausgeübten Tätigkeit als Angestellter in der Sicherheitsbranche befasst mit Planung und Organisation ‑ weiterhin tätig sein könnte.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Es billigte die Rechtsansicht des Erstgerichts und sprach aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei.

Rechtliche Beurteilung

Die außerordentliche Revision des Klägers zeigt keine Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO auf:

1.1 Vorerst ist auf den zwischen den Verfahrensparteien ergangenen Aufhebungsbeschluss des Obersten Gerichtshofs vom 4. 10. 2011 zu 10 ObS 53/11h, SSV‑NF 25/80 zu verweisen. Dort wurde ua bereits ausgeführt, dass ein Lehrberuf „Personenschützer“ in Österreich nicht exisitiert, sodass für den Kläger ein Berufsschutz allenfalls über die Anlernqualifikation des § 255 Abs 2 ASVG in Betracht komme.

1.2 Ein angelernter Beruf iSd § 255 Abs 1 ASVG in der zum Stichtag (1. 4. 2009) anzuwendenden Fassung des 2. SVÄG 2003, BGBl I 2003/145, liegt dann vor, wenn der Versicherte eine Tätigkeit ausübt, für die es erforderlich ist, durch praktische Arbeit qualifizierte Kenntnisse oder Fähigkeiten zu erwerben, die jenen in einem erlernten Beruf gleichzuhalten sind (§ 255 Abs 2 ASVG idF BGBl I 2003/145).

1.3 Die rasche wirtschaftliche Entwicklung und insbesondere die Spezialisierung haben es teilweise notwendig gemacht, die Mitarbeiter für ganz bestimmte qualifizierte Aufgaben selbst auszubilden (etwa in Kursen oder direkt am Arbeitsplatz), weil die durch die herkömmlichen Lehrberufe vermittelte Ausbildung für die besonderen Aufgaben oft nicht genügt oder in der Praxis entbehrlich ist (10 ObS 131/87, SSV‑NF 1/70). Es entspricht daher der ständigen Rechtsprechung, dass ein angelernter Beruf auch dann vorliegen kann, wenn es keinen gleichartig geregelten Lehrberuf gibt, sofern die vom Versicherten verrichtete Tätigkeit nach den für sie in Betracht kommenden Voraussetzungen im Allgemeinen eine ähnliche Summe besonderer Kenntnisse oder Fähigkeiten erfordert, wie die Tätigkeiten in einem erlernten Beruf (RIS‑Justiz RS0084602, RS0084433 [T8]). Maßgeblich ist also, dass die qualifizierten, in der Praxis erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten an Qualität und Umfang jenen in einem Lehrberuf gleichzuhalten sind. Dabei genügt es jedoch nicht, dass der Versicherte diese Kenntnisse und Fähigkeiten besitzt, sondern es müssen diese Kenntnisse und Fähigkeiten für die von ihm ausgeübte Berufstätigkeit erforderlich sein, also Voraussetzung hiefür gewesen sein (RIS‑Justiz RS0084616).

2.1 In welcher Form der Versicherte diese Kenntnisse erworben hat (also etwa durch eine teilweise absolvierte Lehre, Kurse, praktische Tätigkeit oder eine Kombination dieser Varianten), ist nicht maßgeblich (10 ObS 85/09m, SSV‑NF 23/57; Sonntag in Sonntag, ASVG6 § 255 Rz 107). Die Dauer von Einschulungs‑ und Anlernzeiten sind aber von entscheidender Bedeutung für die Beurteilung des Vorliegens eines Berufsschutzes. Bei einer Einschulungszeit von drei bis sechs Monaten liegt in der Regel kein angelernter Beruf vor (10 ObS 374/90, SSV‑NF 4/158).

3. Die Frage, ob ein angelernter Beruf vorliegt, ist keine Tat- sondern eine Rechtsfrage. Grundlage für die Lösung dieser Frage bilden detaillierte Feststellungen über die Kenntnisse und Fähigkeiten, über die der Versicherte im einzelnen Fall verfügt und über die Anforderungen, die an einen gelernten Arbeiter in diesem Beruf üblicherweise gestellt werden (RIS‑Justiz RS0084638 [T30]).

4. Aus den im letzten Rechtsgang getroffenen detaillierten Feststellungen der Vorinstanzen ergibt sich, dass der Kläger durch seine Tätigkeit für die jüdischen Einrichtungen nicht einen einem Lehrberuf gleichzuhaltenden Beruf angelernt und ausgeübt hat. Ob die in der Praxis (durch betriebsinterne Einschulung, berufsbegleitende Fortbildungen, Trainings, Kurse etc) vom Kläger insgesamt erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten an Qualität und Umfang jenen in einem Lehrberuf gleichzuhalten sind, kann nur einzelfallbezogen geprüft werden. In der Rechtsansicht des Berufungsgerichts, dass die von den konkreten Dienstgebern für die Ausübung der Tätigkeit zum Schutz jüdischer Einrichtungen vor Anschlägen geforderten spezifischen Kenntnisse und Fähigkeiten nicht zur Qualifikation als angelernter Beruf führen können, kann keine vom Obersten Gerichtshof im Einzelfall wahrzunehmende Fehlbeurteilung erblickt werden. Danach handelt es sich um einen Spezialberuf, der nicht die Breite an Kenntnissen und Fähigkeiten aufweist, die ein Lehrberuf üblicherweise hat. Die vom Kläger bei der Berufsausübung verwerteten Fachkenntnisse und anderen Qualifikationen sind betriebsspezifisch geprägt und entsprechen ‑ ungeachtet der während der Berufsausübung absolvierten Fortbildungskurse und Trainings‑ nicht einer lehrberufswertigen Berufsqualifikation. Entgegen den Ausführungen in der Revision hat das Berufungsgericht bei seiner Entscheidung (vgl S 20 f des Berufungsurteils) auch die Tatsache berücksichtigt, dass der Kläger im Rahmen seiner Tätigkeiten für die verschiedenen jüdischen Einrichtungen immer wieder Fortbildungen in einer Dauer zwischen einem und drei Monaten absolvierte, wodurch jedoch nach den maßgebenden Feststellungen keine Änderung (Erweiterung) seines Aufgabenbereichs eingetreten sei. Auch der Umstand, dass die Tätigkeit des Klägers aufgrund des besonderen Gefährdungspotentials jüdischer Einrichtungen besonders verantwortungsvoll war, macht sie noch nicht zu einem angelernten Beruf (RIS‑Justiz RS0084506).

Mangels einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO war die Revision daher zurückzuweisen.

Stichworte