European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2015:0120OS00098.15A.0819.000
Spruch:
Nevzat H***** wurde im Grundrecht auf persönliche Freiheit nicht verletzt.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
Gründe:
Das Landesgericht für Strafsachen Wien verhängte mit Beschluss vom 30. März 2015 (ON 48) aus den Haftgründen der Flucht‑, Verdunkelungs‑ und Tatbegehungsgefahr gemäß § 173 Abs 2 Z 1, 2 und 3 lit b und c StPO über Nevzat H***** die Untersuchungshaft und setzte diese mit Beschluss vom 13. April 2015 (ON 62) und vom 13. Mai 2015 (ON 73) fort. Nach Stellung eines Enthaftungsantrags durch den Beschuldigten und Durchführung einer Haftverhandlung setzte das genannte Gericht die Untersuchungshaft mit Beschluss vom 26. Juni 2015 (ON 101) aus den Haftgründen der Flucht‑ und Tatbegehungsgefahr nach § 173 Abs 2 Z 1 und 3 lit b und c StPO fort.
Mit der angefochtenen Entscheidung gab das Oberlandesgericht Wien der gegen den letztgenannten Beschluss erhobenen Beschwerde des Nevzat H***** nicht Folge und ordnete die Haftfortsetzung aus den Gründen der Flucht‑ und Tatbegehungsgefahr gemäß § 173 Abs 2 Z 1 und 3 lit b StPO an.
Dabei ging das Beschwerdegericht in Übereinstimmung mit der am 1. Juni 2015 eingebrachten Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Wien (ON 87) vom dringenden Verdacht (§ 173 Abs 1 erster Satz StPO) aus, Nevzat H***** habe in Wien
„I./ in der Absicht, sich durch die wiederkehrende
Begehung von schweren Betrugshandlungen eine fortlaufende Einnahme zu verschaffen, sowie mit dem Vorsatz, sich und Dritte unrechtmäßig zu bereichern, durch Täuschung über Tatsachen Verantwortliche der Wiener Gebietskrankenkasse sowie der Bauarbeiter‑, Urlaubs‑ und Abfertigungskasse durch die Vorgabe, Dienstgeberinnen der zur Anmeldung gebrachten Dienstnehmer wären nachgenannte Unternehmen, während diese Dienstnehmer bloß zum Schein auf diese Unternehmen angemeldet wurden, zu einer Unterlassung verleitet, nämlich zur Abstandnahme der Geltendmachung und der Einhebung der aus den Anmeldungen resultierenden Beiträge zur Sozialversicherung bei den tatsächlichen Dienstgebern, wodurch die Wiener Gebietskrankenkasse mit einem noch festzustellenden, 50.000 Euro übersteigenden Betrag geschädigt wurden, 23 Dienstnehmer die
A./ für andere Unternehmen tätig oder auf eigene Rechnung als im Baugewerbe tätige Arbeiterpartien organisiert und beschäftigt waren, und zwar
1. im Zeitraum 8. September 2014 bis 17. November 2014 für Mensur Y***** als Geschäftsführer der N***** GmbH acht Dienstnehmer, durch Anmeldung auf die A***** GmbH, Schadensbetrag 8.843,59 Euro;
2. im Zeitraum März bis Juni 2014 für die selbständige Bauarbeiterpartie bestehend aus Wissam B*****, Mihai C*****, Georgian‑Daniel M*****, Catalin‑Ionel C*****, Halil P*****, Darijan T***** und Mohamed To*****, die Genannten durch Anmeldung auf die L***** GmbH und die L.***** GmbH, Schadensbetrag 21.706,30 Euro;
3. im Zeitraum Oktober bis November 2014 für die EW***** KEG zumindest einen Dienstnehmer (Octavian S*****) durch Anmeldung auf die A***** GmbH, Schadensbetrag 1.993,84 Euro;
4. im Zeitraum Oktober bis November 2014 für die Sp***** GmbH zumindest einen Dienstnehmer (Sead K*****) durch Anmeldung auf die A***** GmbH, Schadensbetrag 1.527,12 Euro;
B./ keiner sozialversicherungspflichtigen Tätig-keit nachgingen, und zwar
1. im Zeitraum Juni bis Oktober 2014 Muhamed Sa*****, durch die Anmeldung auf die L***** GmbH und die A***** GmbH, Schadensbetrag 1.757,44 Euro;
2. im Zeitraum September 2013 bis Februar 2014 Bombi Ni*****, durch die Anmeldung auf die HE***** GmbH, die E***** GmbH, die SP***** GmbH und die I***** GmbH, Schadensbetrag 7.476,60 Euro;
3. im Zeitraum August 2013 bis Februar 2014 Alexandrina Br***** durch die Anmeldung auf die HE***** GmbH, die E***** GmbH, die SP***** GmbH und die I***** GmbH, Schadensbetrag 4.361,12 Euro;
4. im Zeitraum Mai 2013 bis Jänner 2014 Herbert Ci*****, durch die Anmeldung auf die HE***** GmbH und die SP***** GmbH, Schadensbetrag zumindest 2.778,56 Euro;
5. im Zeitraum Mai bis Juni 2014 Danijel Sav*****, durch die Anmeldung auf die L***** GmbH, die TOL***** GmbH und die G***** GmbH und die L.***** GmbH, Schadensbetrag 5.033,69 Euro;
6. im Zeitraum September bis Dezember 2014 Alena Elsaid Pa*****, durch die Anmeldung auf die A***** GmbH, Schadensbetrag 3.221,53 Euro;
7. im Zeitraum Mai 2013 bis März 2014 Dejan Pan*****, durch die Anmeldung auf die HE***** GmbH, die E***** GmbH und die L***** GmbH, Schadensbetrag 8.562,96 Euro;
8. Franz Sl*****, durch die Anmeldung auf die TOL***** GmbH, die L***** GmbH, die L.***** GmbH, die G***** GmbH, Schadensbetrag 5.602,52 Euro;
II./ im Zeitraum Februar 2013 bis Februar 2015 als faktischer Machthaber der nachgenannten Gesellschaften, somit als Dienstgeber nachgenannter Unternehmen, Beiträge zur Sozialversicherung dem berechtigten Sozialversicherungsträger, nämlich der Wiener Gebietskrankenkasse betrügerisch vorenthalten, wobei er schon die Anmeldung zur Sozialversicherung in der Absicht vornahm, keine ausreichenden Beiträge und Zuschläge zu leisten und das Ausmaß der vorenthaltenen Beiträge und Zuschläge 50.000 Euro übersteigt, nämlich
A./ hinsichtlich der E***** GmbH in Höhe von 18.699,13 Euro;
B./ hinsichtlich der HE***** GmbH in Höhe von 129.990,46 Euro;
C./ hinsichtlich der SP***** GmbH in Höhe von 25.495,75 Euro;
D./ hinsichtlich der AL***** KG in Höhe von 6.410,61 Euro;
E./ hinsichtlich der A***** GmbH in Höhe von 118.481,36 Euro;
F./ hinsichtlich der G***** GmbH in Höhe von 23.891,59 Euro;
G./ hinsichtlich der TOL***** GmbH in Höhe von 37.684,52 Euro;
H./ hinsichtlich der L***** GmbH in Höhe von 303.124,35 Euro;
I./ hinsichtlich der L.***** GmbH in Höhe von 18.247,62 Euro;
J./ hinsichtlich der D***** GmbH in Höhe von 5.408,82 Euro;
K./ hinsichtlich der I***** GmbH in Höhe von 6.197,16 Euro;
L./ hinsichtlich der J***** GmbH in Höhe von 7.703,06 Euro;“
III./ am 26. Februar 2015 dadurch, dass er Sabina Be***** aufforderte, in ihrer bevorstehenden Vernehmung auszusagen, es habe sie Josef nach K***** geführt, sie habe keinen Kontakt mit ihm und seit einer Woche sei sie auf Urlaub, zu einer falschen Beweisaussage vor der Finanzpolizei als Kriminalpolizei in einem Ermittlungsverfahren nach der Strafprozessordnung zu bestimmen versucht.
In rechtlicher Hinsicht bejahte das Oberlandesgericht den dringenden Verdacht des Verbrechens des gewerbsmäßigen schweren Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 3, 148 zweiter Fall StGB, des Verbrechens des betrügerischen Vorenthaltens von Sozialversicherungsbeiträgen und Zuschlägen nach dem Bauarbeiter‑, Urlaubs- und Abfertigungsgesetz nach § 153d Abs 1, 2 und 3 StGB und des Vergehens der falschen Beweisaussage nach §§ 12 zweiter Fall (zu ergänzen:), 15 Abs 1, 288 Abs 1 und 4 StGB.
Rechtliche Beurteilung
Der dagegen erhobenen Grundrechtsbeschwerde des Nevzat H*****, welche die Annahme des dringenden Tatverdachts nicht bekämpft, kommt keine Berechtigung zu:
Gegenstand des Erkenntnisses über eine Grundrechtsbeschwerde ist ‑ anders als bei einer Haftbeschwerde an das Oberlandesgericht ‑ nicht die Haft, sondern die Entscheidung über diese (13 Os 125/06s, EvBl 2007/47, 252; RIS‑Justiz RS0061004 [T5], RS0112012 [T5] und RS0121605 [T3]).
Demzufolge prüft der Oberste Gerichtshof im Rahmen des Grundrechtsbeschwerdeverfahrens die rechtliche Annahme der in § 173 Abs 2 StPO genannten Gefahr (Prognoseentscheidung) darauf, ob sich diese angesichts der zugrunde gelegten bestimmten Tatsachen als willkürlich, also nicht oder nur offenbar unzureichend begründet darstellt (14 Os 138/03, SSt 2003/81; RIS‑Justiz RS0117806). Vergleichsbasis des Willkürverbots sind - mit Blick auf § 173 Abs 2 StPO, der nur verlangt, dass die angenommenen Haftgründe auf bestimmten Tatsachen beruhen - ausschließlich die der Prognoseentscheidung zugrunde gelegten Tatsachen.
Die Annahme der Fluchtgefahr gründete das Beschwerdegericht auf den Umstand, dass der Beschwerdeführer vor seiner Festnahme nach Deutschland verzog, während er in Österreich nur einen Nebenwohnsitz hatte, sowie seine ‑ jeweils aus Telefonüberwachungsprotokollen hervorgehenden ‑ sehr konkreten Auswanderungspläne nach Dubai, den dort bereits erfolgten Kauf eines Grundstücks bzw den mangels Perspektiven in Österreich geplanten Ankauf einer Wohnung um „unten zu bleiben“ und das Vorliegen einer Arbeitszusage sowie die Terminisierung des Abflugs mit 7. April 2015 (BS 8 f).
Indem die Beschwerde diesen Erwägungen bloß eigene Auffassungen gegenüberstellt und aus den ‑ gar nicht bestrittenen Telefonaufzeichnungen ‑ für den Angeklagten günstigere Schlüsse zieht, vermag sie eine willkürliche Annahme des Haftgrundes nicht darzutun (RIS‑Justiz RS0117806 [T11]).
Gleiches gilt für die vom Oberlandesgericht mit logisch und empirisch einwandfreier Begründung verworfene Behauptung (BS 8 f), der Beschwerdeführer sei durch seine schwere Krebserkrankung am Verlassen Österreichs gehindert.
Einzelne aus Sicht des Beschwerdeführers allenfalls erörterungsbedürftige Umstände - wie fallbezogen das Leben der Familie des Angeklagten in Österreich - bei dieser Prognose nicht ausdrücklich erwähnt zu haben, kann der angefochtenen Entscheidung nicht als Grundrechtsverletzung vorgeworfen werden (RIS‑Justiz RS0117806 [T1]; zu den hier nicht relevanten Ausnahmefällen des § 173 Abs 3 StPO vgl RIS‑Justiz RS0120458 [insbesondere T3]).
Da bereits ein Haftgrund die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft rechtfertigt, erübrigt es sich, im Rahmen der Behandlung der Grundrechtsbeschwerde auf das Vorbringen zum Haftgrund der Tatbegehungsgefahr gemäß § 173 Abs 2 Z 3 lit b StPO einzugehen (RIS‑Justiz RS0061196).
Soweit die Beschwerde bloß die Substituierbarkeit des Haftzwecks durch gelindere Mittel und die Unverhältnismäßgkeit der (weiteren) Haft behauptet, ohne konkret darzulegen, worin dem diese verneinenden Beschwerdegericht ein Beurteilungsfehler unterlaufen wäre, entzieht sie sich einer inhaltlichen Erwiderung (RIS‑Justiz RS0116422 [T1]).
Beim elektronisch überwachten Hausarrest (§ 173a StPO) handelt es sich um eine besondere Form des Vollzugs der Untersuchungshaft, somit nicht um eine Alternative zu jener. Da die Bedingungen des Vollzugs der Untersuchungshaft nicht in den Schutzbereich des GRBG fallen (RIS‑Justiz RS0122737 [T16] und RS0123350 [T3], Kier in WK 2 GRBG § 1 Rz 54) kann die Ablehnung des Begehrens, die Untersuchungshaft in Form des Hausarrests fortzusetzen, somit nicht mit Grundrechtsbeschwerde bekämpft werden (RIS‑Justiz RS0126401).
Die Beschwerde war daher ohne Kostenzuspruch (§ 8 GRBG) abzuweisen.
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)