European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2014:0030OB00179.14S.1022.000
Spruch:
Der außerordentliche Revisionsrekurs des Vaters und der Mutter wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen (§ 71 Abs 3 AußStrG).
Begründung:
Die Eltern M*****, geboren am ***** 1974, und S*****, geboren am ***** 1975, haben fünf Kinder, vier Töchter ‑ R*****, geboren am ***** 1999, R*****, geboren am ***** 2000, R*****, geboren am ***** 2004 sowie R*****, geboren am ***** 2007 ‑ und einen Sohn, M*****, geboren am ***** 2010. Sowohl die Eltern als auch die Kinder sind in Österreich lebende türkische Staatsangehörige. Sie sind Moslems.
Mit Beschluss vom 14 April 2014 entzog das Erstgericht den Eltern die Obsorge für die beiden jüngsten Kinder R***** und M***** und übertrug diese dem Kinder- und Jugendhilfeträger (Punkt 1.). Der Antrag der Eltern auf Rückführung der beiden Kinder in ihren Haushalt (Punkt 2.) wurde ebenso abgewiesen wie Obsorgeanträge der mütterlichen Großeltern (Punkt 3.), der väterlichen Großmutter (Punkt 4.) und dreier väterlicher Onkel (Punkte 5. ‑ 7.).
Das Kontaktrecht der Eltern zu M***** regelte das Erstgericht dahingehend, dass die Eltern berechtigt wurden, M***** alle vier Wochen im Ausmaß von einer Stunde „nach Maßgabe des Jugendwohlfahrtsträgers“ im Beisein eines Sozialarbeiters zu sehen (Punkt 8.), und wies den weiteren Antrag der Eltern, ihnen zu M***** ein weitergehendes Kontaktrecht als das unter Punkt 8. bestimmte zu gewähren, ab (Punkt 9.). Das Kontaktrecht der Eltern zu R***** bestimmte das Erstgericht derart, dass die Eltern berechtigt wurden, nach Nachweis einer muttersprachlichen therapeutischen Vorbereitung auf das Kontaktrecht im Ausmaß von fünf Stunden durch eine Therapeutin R***** alle vier Wochen für eine Stunde ‑ eventuell gemeinsam mit M***** ‑ „nach Maßgabe des Jugendwohlfahrtsträgers“ und im Beisein seines Sozialarbeiters und vorerst auch der Therapeutin zu sehen (Punkt 10.) und wies den weitergehenden Antrag der Eltern, ihnen zu R***** ein weitergehendes Kontaktrecht zu gewähren, ab (Punkt 11.).
Das Erstgericht stellte unter anderem fest, dass der Rauchfangkehrer ob des unzumutbaren Zustands der Wohnung am 7. Oktober 2010 eine Gefährdungsmeldung an das Amt für Jugend und Familie richtete und ein Heizverbot verfügte. Nach einem Kontrollbesuch wurden die fünf im Haushalt allein vorgefundenen Kinder den Eltern abgenommen und in sogenannter Krisenpflege fremduntergebracht. Die Wohnung war völlig verwahrlost (Müllberge; verschimmelte Essensreste; schmutzige Windeln). Bei der jüngsten Tochter R***** wurde eine Windeldermatitis festgestellt. Sie hatte auch extreme Zahnschäden, die in der Folge saniert werden mussten. Die Eltern brachten in der Folge bis 5. November 2010 die Wohnung wieder in Ordnung. Ein Räumungsbegehren wurde rechtskräftig abgewiesen.
Im Februar 2011 kam die Tochter R***** zu einer Pflegemutter (einer AHS‑Lehrerin) in Dauerpflege, am 3. Februar 2012 kam auch M***** zu Pflegeeltern in Dauerpflege. Das Kontaktrecht der Eltern wurde auf eine Stunde im Monat herabgesetzt.
Am 23. August 2012 fand ein begleiteter Besuchstermin der Eltern zur Tochter statt, an dem auch die älteren Geschwister teilnahmen. Wegen eines Kreuzes am Hals der Tochter reagierten die Eltern mit Geschrei und Beschimpfungen. Der Vater riss das Kind gewaltsam an sich und lief weg. Mit Hilfe von Passanten konnte das Kind wieder in die Obhut der Pflegemutter übergeben werden. Seit diesem Vorfall hat die Tochter Angst vor ihren Eltern, die sie seither nicht mehr gesehen hat und auch nicht sehen will. Das Kontaktrecht wurde ausgesetzt.
Zwischen den Eltern gibt es Konflikte und es kommt gelegentlich zu Gewalt des Vaters gegen die Mutter.
Von den umfangreichen Feststellungen über die Versuche eines Beziehungsaufbaus der Eltern zu ihrem Sohn M***** (Erstgericht S 9 bis 14) bei der Ausübung des Kontaktrechts ist hervorzuheben, dass diese Versuche insbesondere auch deswegen scheiterten, weil die Eltern signalisieren, dass das Kind mit ihnen kommen solle, wodurch das Kind verstört wird. Auf die Art, wie die Eltern die Besuchte gestalten, reagiert das Kind mit Worten, zieht sich zurück und leistet Widerstand.
Am 30. August 2013 wurden die drei älteren Mädchen unter Auflagen in den elterlichen Haushalt zurückgeführt. Die Eltern sind in der Lage, die Versorgung der drei älteren Mädchen im gerade noch erforderlichen Mindestmaß erfüllen zu können, nicht jedoch auch der zwei jüngsten Kinder. Sie wären einer Rückkehr der beiden Kinder, die altersmäßig noch besonders bedürftig sind und aus einer sehr förderlichen und fürsorglichen Umgebung herausgenommen würden, nicht gewachsen. Die Familie hat eine geringe Stabilität und wäre durch das Hinzukommen der beiden jüngeren Kinder massiv gefährdet (im Sinne einer Kindeswohlgefährdung für alle fünf Kinder). Sowohl R***** als auch M***** sind jeweils schon längere Zeit zunächst in Krisenpflege und dann in Dauerpflege in ihren Pflegefamilien untergebracht und haben Beziehungen aufgebaut, deren Abbruch sie nicht verkraften würden, was zu ihrer Gefährdung führen würde. Da die Kinder familiären Belastungen ausgesetzt waren, die zur Unterbringung geführt haben, und bereits Trennungserfahrungen haben, sind bei Rückführung an die Feinfühligkeit und die Erziehungskompetenz der Eltern besondere Anforderungen zu stellen. Solche Eltern müssen in der Lage sein, auf erwartbare Verhaltensauffälligkeiten und Belastungen der Kinder sowie auf ihre eigenen dann veränderten Lebenssituationen im Zuge der Rückführung besonders kompetent zu reagieren. Das können die leiblichen Eltern keinesfalls. Ihre Familiensituation nach der Rückführung muss sich erst konsolidieren, sie haben Mängel im Perspektivewechsel und in der Empathiefähigkeit. Nach dem lang dauernden Aufenthalt der Kinder bei den Pflegeeltern, ihrem jungen Alter und ihrer seinerzeitigen Verwahrlosung (bei der Abnahme) würde die Rückführung per se eine Gefährdung darstellen, selbst wenn die Eltern in der Lage wären, die Beziehung zum Kind angemessen aufzubauen und auf die Besonderheiten der Situation, insbesondere betreffend die Beziehungen der Kinder zur Pflegefamilie, Rücksicht zu nehmen. Die Eltern sind in Bezug auf R***** und M***** nicht erziehungsfähig und keinesfalls dazu in der Lage. Die Kinder wären also bei einer Rückführung einerseits gefährdet durch die nicht gegebene Erziehungsfähigkeit der Kindeseltern und andererseits durch den Verlust ihres jetzigen Lebens- und Beziehungsumfeldes.
Bei über ein Mindestmaß hinausgehenden Besuchskontakten der Eltern besteht die (näher erläuterte) Gefahr einer Überforderung der beiden Kinder.
Zu den mütterlichen Großeltern, zur väterlichen Großmutter und zu den Onkeln hatten die Kinder nie Kontakt, möglicherweise die Tochter „punktuell“. Der Wechsel in eine völlig fremde Umgebung zu fremden Personen käme einer Entwurzelung gleich.
Im Rahmen der rechtlichen Beurteilung bejahte das Erstgericht eine Kindeswohlgefährdung bei einer Rückführung der Kinder in den elterlichen Haushalt wegen des Beziehungsabbruchs zu den Pflegeeltern sowie wegen der mangelnden Erziehungskompetenz der Eltern. Bei einer Obsorge der Großeltern oder eines Onkels würden die Kinder aus ihrem stabilen und guten Beziehungsumfeld herausgerissen und dadurch gefährdet werden.
Das Rekursgericht wies den Rekurs der Eltern gegen die Punkte 3. bis 7. des erstgerichtlichen Beschlusses zurück und gab ihm im Übrigen nicht Folge. Der Revisionsrekurs wurde mangels erheblicher Rechtsfrage nicht zugelassen.
In ihrem außerordentlichen Revisionsrekurs verweisen die Eltern darauf, dass „interkulturelle und religiöse Grundrechtseingriffe“ gesetzt worden seien. Insbesondere widerspreche die mangelnde Berücksichtigung von leiblichen Verwandten für die Obsorge der EGMR‑Rechtsprechung. Das Fehlen einer Kindeswohlgefährdung bei den Eltern, insbesondere nach Säuberung der Wohnung, sei nicht entsprechend berücksichtigt worden, ebensowenig die Erziehungsfähigkeit der leiblichen Eltern, die sich in Bezug auf die drei älteren Töchter zeige. Bei der Überprüfung der Pflegeeltern wären die gleichen Maßstäbe anzulegen gewesen. Die Entfremdung der beiden jüngsten Kinder sei auf die ursprüngliche Besuchsrechtsregelung zurückzuführen und werde mit der nunmehr getroffenen Kontaktregelung perpetuiert. Der daraus resultierende Identitätsverlust der beiden türkischstämmigen Kinder ohne jeden Kontakt zur islamischen Religion widerspreche Art 8 der UN‑Kinderrechtekonvention.
Rechtliche Beurteilung
Damit wird keine erhebliche Rechtsfrage dargestellt.
1. Das im Verhältnis zur Türkei nach wie vor anzuwendende Haager Minderjährigenschutzabkommen (6 Ob 138/13g = EF‑Z 2014/64, 94 [Nademleinsky]) geht in Bezug auf die Anordnung von Schutzmaßnahmen vom Grundsatz aus, dass das nach dem Abkommen für die Schutzmaßnahmen international zuständige Gericht (hier im Hinblick auf den gewöhnlichen Aufenthalt der Kinder in Österreich das österreichische Gericht) sein eigenes innerstaatliches Recht anwendet (RIS‑Justiz RS0074320).
2. Vorauszuschicken ist, dass die Entscheidung über die Obsorge und das Kontaktrecht immer eine solche des Einzelfalls ist, der in der Regel keine grundsätzliche Bedeutung zuerkannt werden kann, sofern nicht durch die Entscheidung leitende Grundsätze der Rechtsprechung oder das Kindeswohl verletzt wurden (RIS‑Justiz RS0007101 [T12]). Dies gilt auch bei der Übertragung der Obsorge auf den Kinder‑ und Jugendhilfeträger (RIS‑Justiz RS0007101 [T11]).
3.1. Entscheidend ist, ob der Grundsatz der Kontinuität der Erziehung (hier bei Pflegeeltern) die angefochtene Obsorgeentscheidung als zumindest vertretbar erscheinen lässt. Dem Grundsatz kommt unter dem Blickwinkel des Kindeswohls jedenfalls besondere Bedeutung zu (RIS‑Justiz RS0047928 [T10]), weil die Kontinuität nach der Lebenserfahrung eine Grundbedingung für eine erfolgreiche und damit dem Wohl des Kindes dienende Erziehung ist (RIS‑Justiz RS0047928 [T1]). Nach den getroffenen Feststellungen ist es durchaus vertretbar, eine Kindeswohlgefährdung zu bejahen, würden die beiden Kinder in den Haushalt der Eltern zurückgeführt. Betreffend die Pflegeeltern gibt es weder Indizien für eine Gefährdung des Wohls der beiden Kinder noch Hinweise, dass die Pflegeeltern nicht ausreichend auf die Herkunft und Religionszugehörigkeit der Kinder Rücksicht nehmen. Befürchtungen der Eltern in Richtung einer „Zwangschristianisierung“ der Kinder sind vom Sachverhalt nicht gedeckt.
3.2. Die angeführten Gründe gelten aber auch für die von den Vorinstanzen abgelehnte Obsorgeübertragung an die Großeltern oder Onkeln:
Wohl trifft der Einwand der Eltern, den sie auch noch im Revisionsrekursverfahren erheben können, zu, dass die Übertragung der Obsorge an den Kinder‑ und Jugendhilfeträger nur subsidiär, also nach den zur Verfügung stehenden Großeltern, in Frage kommt (§ 204 ABGB; 8 Ob 14/10g; 6 Ob 258/10z; 8 Ob 88/12t).
Die Revisionsrekurswerber setzen sich allerdings nicht mit den für eine Erziehungskontinuität sprechenden Feststellungen auseinander, dass nach dem Sachverständigengutachten eine Obsorgeübertragung auf die mütterlichen Großeltern oder die väterliche Großmutter oder die drei väterlichen Onkel aus Gründen des Kindeswohls nicht in Frage kommt. Die Kinder haben und hatten zu diesen Personen keinen Kontakt, würden in eine für sie völlig fremde Umgebung und zu ihnen fremden Personen gebracht, was einer Entwurzelung gleichkommt. Bei Unterbringung eines noch nicht dreijährigen Kindes gibt es schon nach zirka 12 Monaten bei Pflegeeltern einen Beziehungsaufbau, dessen Abbruch bei Herausnahme des Kindes zu einer Gefährdung führen würde. Hat ein Kind schon Beziehungsabbrüche erlitten, bedeutet dies, dass jeder neue Wechsel das Vertrauen zerstört und die Bindungsfähigkeit gefährdet. Das gilt insbesondere dann, wenn der Herausgabeanspruch nur dazu dienen soll, das Kind einer anderen Pflegefamilie zuzuführen, selbst wenn diese aus dem familiären Umkreis kommt. Der Vorteil eines Aufwachsens in dem großfamiliären und kulturellen Umfeld, dem die Kinder herkunftgemäß angehören, bei Personen die ihnen fremd sind, kann eine Gefährdung durch den Verlust ihres jetzigen und vertrauten Lebens‑ und Beziehungsumfeldes nicht rechtfertigen. Gerade wenn die Kinder ihrer Herkunftsfamilie entfremdet sind, führte ein Wechsel des gesamten Beziehungs‑ und Lebenskontextes zu einem Verlust und Zusammenbruch der kindlichen Orientierungs- und Regulationsstrategien. Die Kinder müssten sich neu ausrichten, anpassen und einfinden. Das könnten weder R***** noch M*****. Ein Wechsel zu verwandten Antragstellern, egal ob diese erziehungsfähig sind oder nicht, würde eine Kindeswohlgefährdung darstellen. Gegen diese schon vom Erstgericht festgestellten Umstände und die daraus gezogenen Schlussfolgerungen führt der Revisionsrekurs nichts Stichhältiges ins Treffen.
4. Mit den Revisionsausführungen, die Empfehlungen der Sachverständigen, die das Erstgericht „absolut“ in seine Entscheidung aufgenommen habe, seien kindeswohlgefährdend und menschenrechtswidrig, wird unzulässigerweise die Beweiswürdigung der Tatsacheninstanzen angegriffen. Neue Entwicklungen, die im Hinblick auf das Kindeswohl auch vom Obersten Gerichtshof zu beachten wären, sind nicht zu erkennen.
5. Auch mit der Frage, warum das Kindeswohl eine einschneidende zeitliche und umständliche Beschränkung des Kontaktrechts der Eltern erfordert, hat sich das Erstgericht ausführlich und nachvollziehbar auseinandergesetzt.
6. Eine Feindseligkeit der Vorinstanzen und der Sachverständigen gegenüber den kulturellen Besonderheiten der Eltern ist nicht erkennbar. Argumente wie „Zwangschristianisierung“ und „Entfremdung vom Türkentum“ können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Kinder den Eltern abgenommen werden mussten, weil sie die Kinder verwahrlosen ließen. Es sind also spezifische Gründe aus dem bisherigen Verhalten der Eltern, die es nun zum Schutz der Kinder erforderlich machen, in die Obsorgerechte einzugreifen.
7. Da die Entscheidungen der Vorinstanzen in Einklang mit der höchstgerichtlichen Rechtsprechung stehen, ist der außerordentliche Revisionsrekurs des Vaters und der Mutter mangels erheblicher Rechtsfrage zurückzuweisen.
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