European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2013:0060OB00138.13G.0828.000
Spruch:
Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.
Begründung:
Am 31. Dezember 2008 kam das Kind als türkischer Staatsangehöriger in Wien zur Welt. Seine Eltern konnten keine sicheren, verlässlichen und auf seine Bedürfnisse abgestimmten Entwicklungsmöglichkeiten und Betreuungsbedingungen gewährleisten. Da in Österreich weder Verwandte noch sonst geeignete Personen das Kind betreuen und versorgen konnten, musste der Jugendwohlfahrtsträger zunächst wenige Tage nach der Geburt zur Verhinderung einer gravierenden Gefährdung des Kindeswohls ein Ausfolgungsverbot erlassen und den Buben bei einer Krisenpflegemutter unterbringen.
Der Jugendwohlfahrtsträger verständigte am 15. Jänner 2009 die türkische Botschaft in Wien über die Fremdunterbringung.
Am 31. März 2009 wurde der Bub Pflegeeltern übergeben, die ihn bis jetzt zuwendungsvoll und engagiert versorgen, betreuen und fördern. Er ist inzwischen an sie sicher gebunden und entwickelt sich in ihrem Verantwortungsbereich sehr gut. Einmal pro Monat finden begleitete Kontakte von etwa eineinhalb Stunden zwischen den (leiblichen) Eltern und ihrem Kind statt. Der Bub hielt sich noch nie in der Türkei auf und hat keinen Kontakt zu den in der Türkei lebenden Verwandten. Würde er aus dem familiären Umfeld der Pflegeeltern herausgerissen, bedeutete dies eine schwere Belastung seiner Entwicklung. Ein Beziehungsabbruch zu den Pflegeeltern wäre für ihn nicht begreiflich und mit der Gefahr einer Traumatisierung verbunden.
Am 8. Jänner 2010 betraute das Erstgericht den Jugendwohlfahrtsträger mit der Obsorge für das Kind im Bereich Pflege und Erziehung und entzog den Eltern die Obsorge in diesem Umfang. Rekurs und Revisionsrekurs der Eltern gegen diesen Beschluss blieben erfolglos.
Im Oktober 2010 und März 2011 ersuchten türkische Behörden um die „Auslieferung“ des Kindes an die Republik Türkei, um es in „Sozialhilfeeinrichtungen“ oder der „Anstalt für soziale Dienste und Kinderschutz“ in der Türkei zu betreuen. Am 29. März 2011 teilte das Gouverneursamt Ankara mit, das Kind sei „schutzbedürftig“, werde „in Schutz und Fürsorge“ genommen und in einem Kinderheim in Ankara untergebracht.
Am 1. September 2011 beantragten die Eltern die Übertragung der Obsorge „an den Jugendwohlfahrtsträger der Republik Türkei“. Das Anliegen des Vaters auf Erziehung und Betreuung im Heimatland des Kindes sei den türkischen Behörden bekannt.
Das Erstgericht wies diesen Antrag ab. Da eine Übersiedlung in die Türkei das Kindeswohl massiv gefährde, sei die angestrebte Maßnahme mit den Vorgaben der österreichischen öffentlichen Ordnung im Sinn des Art 16 MSA nicht vereinbar. Überdies fehle für die Obsorgeübertragung an einen ausländischen Jugendwohlfahrtsträger eine gesetzliche Grundlage.
Das Rekursgericht bestätigte die Antragsabweisung und sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs im Hinblick auf die Einzelfallbezogenheit mangels erheblicher Rechtsfrage nicht zulässig sei.
Rechtliche Beurteilung
Die Revisionsrekurswerber, die ihren Antrag auf Übertragung der Obsorge an den türkischen Jugendwohlfahrtsträger weiter verfolgen, vermögen keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 62 Abs 1 AußStrG aufzuzeigen.
Entgegen dem Vorbringen der Eltern besteht Rechtsprechung zu konkurrierenden Obsorgeentscheidungen im Anwendungsbereich des Haager Minderjährigenschutzabkommens (MSA).
Gemäß Art 4 Abs 3 MSA haben die Behörden des Staates, dem der Minderjährige angehört, für die Durchführung der getroffenen Maßnahmen zu sorgen. Dem entsprach die türkische Botschaft, indem sie mit Verbalnote vom 19. April 2013 das Urteil des 6. Familiengerichts Ankara vom 9. November 2012 übermittelte, das den Minderjährigen „in Obhut nimmt“.
Für Maßnahmen nach dem MSA sind primär die Behörden (Gerichte) des Aufenthaltsstaates des Minderjährigen zuständig. Die Heimatbehörde hat sorgfältig abzuwägen, ob das Wohl des Kindes ihr Einschreiten erfordert (7 Ob 294/05v SZ 2006/6). Die Maßnahmen der Heimatbehörde verdrängen nach Art 4 Abs 4 MSA jene der Behörden am gewöhnlichen Aufenthaltsort und schließen für die Zeit ihrer Dauer (mit Ausnahme der Gefährdungszuständigkeit nach Art 8 MSA) auch die weitere Zuständigkeit der Behörden des gewöhnlichen Aufenthalts aus. Es besteht daher ein eindeutiger Vorrang der Heimatbehörden (8 Ob 653/87 SZ 60/234 uva; RIS‑Justiz RS0074231).
Art 16 MSA legt fest, dass die Bestimmungen dieses Abkommens nur dann unbeachtet bleiben dürfen, wenn ihre Anwendung mit der öffentlichen Ordnung offensichtlich unvereinbar ist. Dies entspricht der Vorbehaltsklausel nach § 6 IPRG, wonach die Anwendung fremden Rechts nicht zu Ergebnissen führen darf, die mit den Grundwertungen der österreichischen Rechtsordnung unvereinbar sind.
Als systemwidrige Ausnahme erfordert die ordre‑public-Klausel sparsamsten Gebrauch (RIS‑Justiz RS0077010, RS0110743). Eine schlichte Unbilligkeit des Ergebnisses genügt ebensowenig wie der bloße Widerspruch zu zwingenden österreichischen Vorschriften. Vielmehr müssen Grundwertungen der österreichischen Rechtsordnung verletzt sein. Das Ergebnis der Anwendung fremden Rechts muss anstößig sein und nicht das fremde Sachrecht an sich, überdies muss eine ausreichende Inlandsbeziehung bestehen (RIS‑Justiz RS0110743).
Der Inhalt der geschützten Grundwertungen des österreichischen Rechts lässt sich im Einzelnen nicht definieren und ist auch zeitlichen Veränderungen unterworfen. Neben den verfassungsrechtlich geschützten Grundwerten zählt insbesondere auch das Kindeswohl im Kindschaftsrecht dazu (RIS‑Justiz RS0076998); eine eklatante Gefährdung des Kindeswohls steht unter der Vorbehaltsklausel (5 Ob 131/02d SZ 2002/89). Das Kindeswohl ist oberste Maxime des Pflegschaftsverfahrens (1 Ob 4/01x mwN).
Die Anwendung der Vorbehaltsklausel des Art 16 MSA durch die Vorinstanzen bildet keine vom Obersten Gerichtshof im Interesse der Rechtssicherheit aufzugreifende Fehlbeurteilung. Da der türkische Minderjährige seit mehr als vier Jahren in Österreich lebt, abgesehen von seiner Staatsangehörigkeit mangels dort lebender Bezugspersonen keine Bindungen in die Türkei hat, aber durch die angestrebte Obsorgeübertragung an eine türkische Behörde in der Türkei die reale Gefahr seiner Traumatisierung besteht, also eine eklatante Gefährdung des Kindeswohls droht, liegt die Anwendung der Vorbehaltsklausel des Art 16 MSA nahe.
Der Revisionsrekurs ist daher zurückzuweisen.
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