OGH 7Ob46/14m

OGH7Ob46/14m22.4.2014

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Vizepräsidentin Dr. Huber als Vorsitzende und durch die Hofrätinnen und Hofräte Dr. Hoch, Dr. Kalivoda, Mag. Dr. Wurdinger und Mag. Malesich als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei H***** Versicherung AG, *****, vertreten durch Dr. Franz Gütlbauer und andere Rechtsanwälte in Wels, gegen die beklagte Partei T***** Gesellschaft mbH, *****, vertreten durch Dr. Michael Brunner, Rechtsanwalt in Wien, wegen 13.377,45 EUR sA, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 27. September 2013, GZ 2 R 47/13s‑62, mit dem das Urteil des Handelsgerichts Wien vom 11. Dezember 2012, GZ 47 Cg 321/10y‑58, abgeändert wurde, zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, dass das Urteil des Erstgerichts wiederhergestellt wird.

Die beklagte Partei hat der klagenden Partei die mit 3.532,20 EUR (darin enthalten 361,70 EUR USt und 1.362 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Berufungs‑ und Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Entscheidungsgründe:

Die M***** GmbH (im Folgenden: Versicherungsnehmerin) beauftragte die Beklagte am 30. 11. 2006 mit dem Transport von vier Kartons mit medizinischen Geräten von Innsbruck zu einem Unternehmen in Mailand. Die Sendung erreichte zwar Mailand, wurde aber der Empfängerin nicht zugestellt. Der LKW‑Fahrer trug im System der Beklagten (unrichtig) ein, dass die Empfängerin die Annahme verweigert habe. Es kann nicht festgestellt werden, dass der LKW‑Fahrer tatsächlich einen Zustellversuch unternahm oder dass die Empfängerin die Annahme verweigerte. Nachdem die Versicherungsnehmerin in Kenntnis gesetzt wurde, dass der Zustellversuch erfolglos verlaufen war, erteilte sie der Beklagten die Weisung, das Frachtgut nach Innsbruck zu retournieren. Daraufhin veranlasste die Beklagte den Rücktransport auf dem Landweg über Wien nach Salzburg und von dort nach Innsbruck. Anlässlich der Rückstellung der Sendung an die Versicherungsnehmerin am 14. 12. 2006 stellte sich heraus, dass ein Karton (15 kg Gewicht) mit Sprachprozessoren und einem Nettowarenwert von 13.518 EUR in Verlust geraten war.

Im „Track & Trace‑System“ der Beklagten waren in allen Depots von Mailand bis Innsbruck jeweils nur drei Pakete gescannt worden, weshalb für die Mitarbeiter der Beklagten das Schicksal des vierten Pakets unklar war. Es kann nicht festgestellt werden, dass die Beklagte im Dezember 2006 oder Anfang Jänner 2007 ‑ nach Bekanntwerden des Verlusts ‑ ihr Lagerhaus in Salzburg durchsuchte. Das allgemeine Sicherheitssystem der Beklagten entspricht dem Stand der Technik und weist ‑ ausgenommen Nachforschungsmaßnahmen betreffend Frachtstücke, die vermeintlich einen bestimmten Warenwert nicht erreichen ‑ keine groben Mängel auf. Die Beklagte verfügt neben den Daten aus dem „Track & Trace‑System“, das den Sendungsverlauf aufzeichnet, auch über ein sogenanntes „Piece Tracking“, das in einen History Report mündet und den Verlauf einzelner Packstücke nachvollziehbar macht. Aus diesem History Report wurden von der Beklagten nur einzelne Seiten vorgelegt; die übrigen Daten oder Seiten wurden aus nicht mehr nachvollziehbaren Gründen vernichtet. Nachforschungsmaßnahmen über verschollene Frachtgüter können im „Track & Trace‑System“ oder im „Piece Tracking‑System“ als Kommentare dokumentiert werden, ab einem bestimmten Warenwert muss dies in einem eigenen „Risk Management System“ erfolgen. Das verschollene Paket erreichte diesen Warenwert nicht.

Das Paket war deshalb zeitweise verschollen, weil es entweder bereits in Mailand kein Label erhielt oder dieses Label auf dem Weg von Mailand nach Salzburg verloren ging. Das Paket wanderte mit den anderen drei Paketen mit, blieb aber dann im Salzburger Lager der Beklagten liegen. Da es auch nicht in das „DUC‑System“ der Beklagten, in dem nicht zuordenbare Sendungen verzeichnet werden, eingetragen wurde, konnte es im Rahmen der sonstigen Nachforschungsbemühungen der Beklagten nicht entdeckt werden.

Der fehlende Karton wurde erst im Jahr 2010 (während des anhängigen Prozesses) im Salzburger Lager der Beklagten entdeckt und der Versicherungsnehmerin übergeben. Die darin enthaltenen Hörimplantat‑Systeme sind technisch veraltet und nicht mehr auf dem Markt verkäuflich.

Die Sendung war von der Versicherungsnehmerin für den Transport bei der Rechtsvorgängerin der Klägerin versichert worden. Diese erbrachte der Versicherungsnehmerin im Zusammenhang mit dem in Verlust geratenen Karton eine Versicherungsleistung von 13.518 EUR. Die Beklagte leistete an die Klägerin eine bei dieser am 3. 4. 2009 eingegangene Zahlung von 140,55 EUR.

Die Klägerin begehrte zuletzt Zahlung von 13.377,45 EUR sA und brachte zusammengefasst vor, sie sei Rechtsnachfolgerin des Transportversicherers und habe an die Versicherungsnehmerin im Zusammenhang mit dem in Verlust geratenen Karton eine Versicherungsleistung in der Höhe des Nettowarenwerts von 13.518 EUR bezahlt. Das zur Auftragserteilung verwendete Computerprogramm „T***** Shipper“ habe über keine Möglichkeit zur Angabe des Warenwerts verfügt. Da mehrfach Vertreter der Beklagten bei der Versicherungsnehmerin vorstellig geworden seien und einmal auch an einer Führung durch deren Produktionsräume teilgenommen hätten, sei dieser durchaus bekannt und bewusst gewesen, dass der Wert der von der Versicherungsnehmerin versendeten Transportgüter im Verhältnis zum jeweiligen Transportgewicht sehr hoch sei. Unklar sei, welche Recherchen oder Überprüfungen die Beklagte nach Bekanntwerden des Verlusts unternommen habe. Über ein umfangreiches und ausgezeichnetes Sicherheitssystem verfüge sie nicht. Ihre Depots habe sie nicht durchsucht. Die Beklagte treffe am Verlust des Frachtguts jedenfalls ein grobes Verschulden, weshalb weder die Haftungsbeschränkungen der CMR anzuwenden seien, noch Verjährung oder Präklusion eingetreten sei.

Die Beklagte wendete ‑ soweit für das Revisionsverfahren von Relevanz ‑ ein, der vierte Karton sei auf dem mittels LKW durchgeführten Rücktransport abhanden gekommen. Die Wegstrecken von Mailand nach Wien, von Wien nach Salzburg und von Salzburg nach Innsbruck seien von jeweils namentlich genannten Subfrächtern durchgeführt worden. Sie habe wiederholt an jedem Ort des Sendungsverlaufs Recherchen und Überprüfungen unter Beschreibung der Gütersendung durchgeführt, die erfolglos geblieben seien. Alle „Warehouse Checks“ seien negativ verlaufen. Die Suche nach den Kartons sei bis 2009 ergebnislos geblieben, weil auf dem Karton das Label nicht mehr vorhanden gewesen sei. Als weltweit tätiges Unternehmen verfüge die Beklagte über ein umfangreiches Sicherheitssystem. Sämtliche die Beförderung betreffende Daten würden im Computersystem „Track & Trace“ gespeichert, der Sendungsverlauf werde in einem sogenannten „History Report“ festgehalten. Sie habe daher in keinem Fall grob fahrlässig oder vorsätzlich gehandelt. Über die gesetzliche Haftungshöchstsumme hinausgehende Ansprüche der Versicherungsnehmerin bestünden nicht.

Das Erstgericht gab dem Zahlungsbegehren unter Abweisung des 5 % übersteigenden Zinsenmehrbegehrens statt. Da sich der Sachverhalt vor dem Inkrafttreten des UGB mit 1. 1. 2007 zugetragen habe, seien die Bestimmungen des HGB anzuwenden, nach dessen § 413 die Spedition zu fixen Kosten und die Beförderung in einer Sammelladung zur Anwendung des Frachtrechts führe. Beim grenzüberschreitenden Frachtvertrag handle es sich um ein multimodales Beförderungsgeschäft, bei dessen Durchführung das Sendungsgut mehrfach umgeladen und beim Rücktransport per LKW transportiert worden sei. Da der Karton auf einer mittels LKW abgewickelten Wegstrecke verloren gegangen sei, sei der Sachverhalt nach den Bestimmungen der CMR zu beurteilen. Dem Rücktransport des Frachtguts sei gemäß Art 15 Abs 1 CMR eine entsprechende Weisung der Versicherungsnehmerin zugrunde gelegen. Der Beklagten sei der ihr gemäß Art 18 Abs 1 iVm Art 17 Abs 2 CMR obliegende Beweis, dass der Verlust des Packstücks durch Umstände verursacht worden sei, die sie nicht vermeiden und deren Folgen sie nicht abwenden habe können, nicht gelungen. Insbesondere habe nicht festgestellt werden können, dass die Beklagte in ihrem Salzburger Lager in den Wochen nach Bekanntwerden des Verlusts tatsächlich Nachschau gehalten habe. Die Beklagte treffe ein grobes Verschulden. Bei ihr seien Nachforschungsmaßnahmen auch nur ab einer bestimmten ‑ vom verschollenen Karton jedenfalls nicht erreichten ‑ Wertgrenze überhaupt zur Dokumentation vorgesehen. Sie nehme allgemein die „Nichtdurchführung von Suchen“ und damit den dauerhaften Verlust von Packstücken billigend in Kauf, sofern diese einen bestimmten Wert nicht erreichten. Ihre Organisation sei in Bezug auf die Überprüfung von Nachforschungsmaßnahmen bei von ihr als nicht wertvoll bewerteten Frachtstücken grob mangelhaft. Sie habe die ‑ gegebenenfalls die Dokumentation solcher Maßnahmen enthaltenden ‑ historischen Daten des „Track & Trace‑Systems“ („Piece Tracking Record“) vernichtet. Sie dürfe nicht künstlich Unklarheiten zu ihrem Vorteil schaffen, indem sie ihre Dokumentation vernichte. Da die Beklagte ein grobes Verschulden treffe, hafte sie für den Schaden in voller Höhe.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten Folge und wies das Klagebegehren ab. Es übernahm die Feststellungen des Erstgerichts und führte rechtlich aus, die Beklagte sei ihrer Darlegungs‑ oder Aufklärungsobliegenheit über „die Organisation in ihrem Unternehmen zur Sicherung des übernommenen Gutes und über die im konkreten Fall gepflogenen Maßnahmen“ nachgekommen. Ein grob fahrlässiges Organisationsverschulden der Beklagten im Sinn des Art 29 Abs 1 CMR liege nicht vor. Die auf der Grundlage eines eingeholten Sachverständigengutachtens im Ersturteil getroffene Feststellung, das Sicherheitssystem weise hinsichtlich Nachforschungsmaßnahmen betreffend Frachtstücke, die vermeintlich einen bestimmten Warenwert nicht überstiegen, grobe Mängel auf, sei eine nicht näher substanziierte und als vorweggenommene rechtliche Beurteilung zu qualifizierende Konstatierung. Bei der Beklagten könnten Nachforschungsmaßnahmen über verschollene Frachtstücke im „Track & Trace‑System“ oder im „Piece Tracking‑System“ als Kommentare dokumentiert werden; ab einem bestimmten Warenwert müsse das in einem eigenen „Risk Management System“ erfolgen. Damit bestehe aber ein System, in welchem Nachforschungsmaßnahmen unabhängig von der Höhe des Warenwerts dokumentiert würden. Zwar seien Daten des „Track & Trace‑Systems“ („Piece Tracking Record“) aus nicht mehr nachvollziehbaren Gründen vor Abschluss des Schadenfalls von der Beklagten vernichtet und dem Gericht nur unvollständig vorgelegt worden. Jedoch könne daraus nicht auf ein grobes Organisationsverschulden geschlossen werden, weil das Verschwinden von Daten oder Unterlagen bei einem Großunternehmen niemals gänzlich ausgeschlossen werden könne. Überdies sei dieser Fehler für den zeitweiligen Verlust der Sendung auch nicht kausal gewesen, weil kein Label mehr auf dieser vorhanden gewesen und nur Pakete mit Label in das „Piece Tracking‑System“ kommen könnten. Auch die unterbliebene Eingabe oder mangelnde Auffindbarkeit der Sendung im „DUC‑System“ und die Negativfeststellung zur Durchführung eines Lagerchecks in Salzburg vermöge den Vorwurf eines groben Organisationsverschuldens nicht zu rechtfertigen, „zumal Negativfeststellungen zu Lasten der beweisbelasteten Klägerin ausschlagen“ würden. Die Klägerin sei daher auf den ‑ von der Beklagten bereits geleisteten ‑ Ersatz nach Art 23 Abs 3 CMR beschränkt.

Das Berufungsgericht ließ nachträglich gemäß § 508 Abs 3 ZPO die Revision zu, weil ihm die Klägerin die Verletzung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes vorwerfe und es sich bei den erstgerichtlichen Feststellungen zum Stand der Technik für bestimmte Nachforschungsmaßnahmen nicht um Rechtsausführungen handeln könnte.

Rechtliche Beurteilung

Die von der Beklagten beantwortete Revision der Klägerin ist zulässig und im Sinn der Wiederherstellung des Ersturteils berechtigt.

1. Die von der Klägerin behauptete Aktenwidrigkeit und Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens liegt nicht vor. Übernimmt das Berufungsgericht die erstgerichtlichen Feststellungen, übergeht es bei seiner Entscheidung aber erhebliche Tatsachen, so verwirklicht dieser Fehler nicht den Tatbestand der Aktenwidrigkeit (RIS‑Justiz RS0043389; Zechner in Fasching/Konecny ² § 503 ZPO Rz 171).

Das Berufungsgericht verletzt den Grundsatz der Unmittelbarkeit, wenn es von erstgerichtlichen Feststellungen, die auf einer unmittelbaren Beweisaufnahme beruhen, ohne Beweiswiederholung abgeht oder sich bei wesentlichen Feststellungen zu einem Tatsachenkomplex, die von jenen des Erstgerichts abweichen, mit einer partiellen Beweiswiederholung begnügt ( Zechner aaO § 503 ZPO Rz 128 mwN; RIS‑Justiz RS0043193; RS0043461; RS0043057). Das Berufungsgericht hat nicht unter Verletzung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes (andere oder ergänzende) Tatsachenfeststellungen getroffen, sondern (unzutreffend) die erstgerichtliche Feststellung zu bestimmten Mängeln des Sicherheitssystems der Beklagten der rechtlichen Beurteilung zugeordnet. Der behaupteten Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens kommt keine Relevanz zu, weil ohnedies von den insofern unbekämpften Feststellungen auszugehen ist.

2. Im österreichischen Straßengüterbeförderungs-recht gilt das „Übereinkommen über den Beförderungsvertrag im internationalen Straßengüterverkehr“ (CMR; BGBl 1961/138 idF BGBl 1981/192) sowohl für grenzüberschreitende als auch gemäß § 439a UGB (vormals: HGB) für rein innerstaatliche Transporte. Soweit die CMR keine leges speciales enthält, kommen die §§ 425 bis 453 UGB zur Anwendung.

Nach Art 17 Abs 1 CMR haftet der Frachtführer für „gänzlichen oder teilweisen Verlust und für Beschädigung des Gutes, sofern der Verlust oder die Beschädigung zwischen dem Zeitpunkt der Übernahme des Gutes und dem seiner Ablieferung eintritt [...]“. Hiebei handelt es sich um eine vertragliche Obhutshaftung. Die Beweislast trifft im Bereich des leichten Verschuldens den Frachtführer (6 Ob 257/07y = SZ 2008/13). Nachdem die Pakete der Empfängerin in Mailand nicht zugestellt wurden und die Versicherungsnehmerin in Kenntnis gesetzt wurde, dass der „Zustellversuch erfolglos verlaufen war“, erteilte diese der Beklagten die Weisung, das Frachtgut an sie zu retournieren. Bei weisungsgemäßem Rücktransport an den Absender übernimmt dieser die Stellung des Empfängers ( Boesche in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn , Handelsgesetzbuch² [2009] Art 17 CMR Rn 11; Herber/Piper , CMR [1996] Art 17 Rn 31; Koller , Transportrecht 8 [2013] Art 17 CMR Rn 7).

Gemäß Art 20 Abs 1 CMR kann der Verfügungsberechtigte das Gut, ohne weitere Beweise erbringen zu müssen, als verloren betrachten, wenn es ‑ falls wie hier keine Lieferfrist vereinbart wurde ‑ nicht binnen 60 Tagen nach der Übernahme des Gutes durch den Frachtführer abgeliefert worden ist. Es handelt sich insoweit um eine unwiderlegbare Vermutung. Der Anspruchsberechtigte soll nach dem festgelegten Zeitpunkt disponieren können, ohne Gefahr zu laufen, das Gut später doch annehmen zu müssen. Er kann daher auch aufgrund der bloßen Verlustfiktion den im Verlustfall allgemein vorgesehenen Schadenersatzanspruch geltend machen (BGH I ZR 187/99 = NJW‑RR 2002, 905 = TranspR 2002, 198; BGH I ZR 152/09 = NJOZ 2011, 1153, jeweils mwN). Dem auf die Klägerin übergegangenen Schadenersatzanspruch der Versicherungsnehmerin steht nicht entgegen, dass der in Verlust geratene Karton im Jahr 2010 wieder aufgefunden wurde. Zu diesem Zeitpunkt war die Ablieferungsfrist von 60 Tagen bereits abgelaufen. Wird das Gut nach Ablauf der Frist des Art 20 Abs 1 CMR wieder aufgefunden, so kann sich der Ersatzberechtigte gleichwohl auf die Verlustfiktion gemäß Art 20 Abs 1 CMR berufen (BGH I ZR 187/99 = NJW‑RR 2002, 905 = TranspR 2002, 198; BGH I ZR 152/09 = NJOZ 2011, 1153, jeweils mwN).

3. Will der Anspruchsteller den Frachtführer für den eingetretenen Schaden unbeschränkt haftbar machen, so hat er ihm gemäß Art 29 CMR qualifiziertes Verschulden nachzuweisen. Dem Vorsatz gleichstehendes Verschulden (Art 29 Abs 1 CMR) bedeutet in Österreich grobe Fahrlässigkeit; die Beweislast für Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit des Frachtführers trifft grundsätzlich den Geschädigten (RIS‑Justiz RS0073961; RS0062591; zur Aufklärungslast oder Aufklärungsobliegenheit des Frachtführers 6 Ob 257/07y = SZ 2008/13; 7 Ob 216/10f = SZ 2011/54).

Grob fahrlässiges Organisationsverschulden erfordert einen objektiv und auch subjektiv schweren Verstoß gegen die Anforderungen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt. Diese Sorgfalt muss in einem ungewöhnlich hohen Maß verletzt sein. Dasjenige muss unbeachtet geblieben sein, was im gegebenen Fall eigentlich jedem hätte einleuchten müssen. Voraussetzung dafür ist dabei typischerweise das Bewusstsein der Gefährlichkeit des eigenen Verhaltens (RIS‑Justiz RS0110748). Der Frachtführer hat demnach unbeschränkt für den Schaden am Transportgut oder dessen Verlust einzustehen, wenn ihm eine ungewöhnliche, auffallende Vernachlässigung bei durchaus vorhersehbarem Schaden vorzuwerfen ist. Wesentlich kommt es dabei auf die Umstände des Einzelfalls an (7 Ob 184/01m; 6 Ob 257/07y = SZ 2008/13).

4. Eine Vielzahl von Nachlässigkeiten und Unvorsichtigkeiten, von denen jede für sich die Gefahr eines Schadens erhöht, kann zur Haftung wegen grober Fahrlässigkeit führen (so zur Gefahr eines Diebstahls BGH I ZR 128/81 = TranspR 1984, 68 [ Heuer ]; Harms in: Thume , CMR‑Kommentar³, Art 29 Rn 58). Ein solches grobes Verschulden ist hier der Beklagten anzulasten.

4.1. Nach der im Berufungsverfahren unbekämpften Feststellung des Erstgerichts entspricht das allgemeine Sicherheitssystem der Beklagten dem Stand der Technik und weist ‑ ausgenommen Nachforschungs-maßnahmen betreffend Frachtstücke, die vermeintlich einen bestimmten Warenwert nicht erreichen ‑ keine groben Mängel auf. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts handelt es sich bei der Feststellung der Mangelhaftigkeit des Sicherheitssystems für bestimmte Nachforschungsmaßnahmen nicht um eine vorweggenommene rechtliche Beurteilung. „Regeln der Technik“ oder ‑ wie hier ‑ der „Stand der Technik“ sind keine rechtlichen Phänomene, sie geben bloß ein bestimmtes oder bestimmbares Fachwissen wider, mit dessen Hilfe ein Werk, eine Arbeit, ein Unternehmen, ein Auftrag möglichst reibungslos mangel‑ und störungsfrei durchgeführt werden kann; sie geben Auskunft, ob und wie das gemacht werden kann oder sollte. Sie gehören ausschließlich dem Tatsachenbereich an (1 Ob 564/95 = SZ 68/105; RIS‑Justiz RS0048339 [T1]; Herschel , Regeln der Technik, NJW 1968, 617 f; Schlosser/Hartl/Schlosser , Die allgemein anerkannten Regeln der Technik und ihr Einfluss auf das (Bau‑)Werkvertragsrecht, ÖJZ 2009/8, 58 [59]). Damit handelt es sich insoweit um eine Tatsachenfeststellung und nicht um eine rechtliche Beurteilung des Erstgerichts.

Zwar kann nicht gesagt werden, dass ein Verstoß gegen die Regeln der Technik (oder den Stand der Technik) immer grobe Fahrlässigkeit nahelegt. Hier entscheiden zusätzliche Kriterien: Je naheliegender, einleuchtender und im Hinblick auf die Schadensabwehr wichtiger die Technik‑Regeln sind, desto eher wird eine Missachtung der Regeln der Technik den Vorwurf einer groben Fahrlässigkeit rechtfertigen können ( Krejci , Die Bedeutung der Regeln der Technik im Bauvertragsrecht, in FS Kralik [1986], 435 [446]). Jedenfalls kann aber der Feststellung zur strukturellen Mangelhaftigkeit bestimmter Nachforschungsmaßnahmen die Relevanz für die Beurteilung eines grob fahrlässigen Verhaltens der Beklagten nicht abgesprochen werden.

4.2. Zwar trifft dann, wenn sich die Schadensursache letztlich nicht aufklären lässt, das non liquet den Geschädigten (RIS‑Justiz RS0062591 [T13]; 7 Ob 268/08z). Jedoch stellt sich entgegen der Rechtsansicht des Berufungsgerichts weder diese Beweislastfrage noch blieb die Ursache, warum das Paket im Salzburger Lager der Beklagten unentdeckt blieb, ungeklärt. Vielmehr steht fest, dass die Eingabe des in Verstoß geratenen Pakets im „DUC‑System“ unterblieb. Nicht festgestellt werden konnte, dass die Beklagte im Dezember 2006 und Anfang Jänner 2007 einen Lagercheck in Salzburg durchführte. Diese Feststellungen schlagen aber nicht „zu Lasten der beweisbelasteten Klägerin“ aus, sondern rechtfertigen in einer Gesamtbetrachtung die Annahme groben Verschuldens der Beklagten.

4.3. Steht bei der Ablieferung fest, dass ein Transportgut fehlt, so besteht ‑ sofern nicht besondere Umstände vorliegen (1 Ob 134/02s = SZ 2002/156) ‑ für den Frachtführer Anlass, nach dem verschollenen Packstück gezielt zu suchen. Obwohl der Beklagten der Weg des Rücktransports des Frachtguts bekannt war, steht (nach der dislozierten Feststellung in der rechtlichen Beurteilung des Erstgerichts) nicht fest, dass sie in ihrem Salzburger Lager in den Wochen nach Bekanntwerden des Verlusts tatsächlich Nachschau hielt. Erst anlässlich einer routinemäßigen Besichtigung des Salzburger Lagers im Jahr 2010 wurde das verloren gegangene Paket aufgefunden. Nunmehr sind die darin enthaltenen Hörimplantat‑Systeme technisch veraltet und nicht mehr auf dem Markt verkäuflich. Das Paket war deshalb zeitweilig verschollen, weil es entweder bereits in Mailand kein Label erhielt oder dieses Label auf dem Weg von Mailand nach Salzburg verloren ging. Jedenfalls sind im „Track & Trace‑System“ der Beklagten in allen Depots von Mailand bis Innsbruck jeweils nur drei Pakete gescannt worden, sodass von vornherein das Schicksal des vierten Pakets unklar blieb. Damit konnte das „Track & Trace‑System“, das den Sendungsverlauf aufzeichnet, keine Aufklärung zum verschollenen vierten Paket geben. Aus dem „History Report“, der den Verlauf einzelner Packstücke nachvollziehbar machen soll, legte die Beklagte nur einzelne Seiten vor und die übrigen Daten wurden von ihr aus nicht mehr nachvollziehbaren Gründen vernichtet. Das verschollene Paket, das den von der Beklagten festgelegten Warenwert nicht erreichte, musste auch nicht in ihr „Risk Management‑System“ eingetragen werden. Die Prozessbehauptung der Beklagten, dass dies ihre „unternehmerische Entscheidung“ sei, erklärt diesen Umstand nur unzureichend. Das in Verstoß geratene Packstück trug kein Label und wurde auch nicht im „DUC‑System“ der Beklagten, in das nicht zuordenbare Sendungen eingetragen werden, eingetragen und war damit auch nicht auffindbar. Dass jener Suchvorgang, der während des Prozesses im Jahr 2010 zur Auffindung des vierten Kartons führte, nicht bereits Ende 2006/Anfang 2007 durchgeführt hätte werden können, behauptet die Beklagte gar nicht.

Aus dieser Vielzahl von Unterlassungen und Nachlässigkeiten der Beklagten ergibt sich ihr grob fahrlässiges Verhalten, sodass sie der Klägerin für den der Versicherungsnehmerin ersetzten Warenwert gemäß Art 29 Abs 1 CMR Ersatz zu leisten hat.

5. In Stattgebung der Revision ist daher das Ersturteil wiederherzustellen.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 41 und § 50 ZPO.

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