OGH 7Ob47/13g

OGH7Ob47/13g23.5.2013

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Vizepräsidentin Dr. Huber als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Dr. Hoch, Dr. Kalivoda, Mag. Dr. Wurdinger und Mag. Malesich als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei A***** Ö*****, vertreten durch Mag. Helmut Gruber, Rechtsanwalt in St. Jakob in Haus, gegen die beklagte Partei S***** AG, *****, vertreten durch Pressl Endl Heinrich Bamberger Rechtsanwälte GmbH in Salzburg, wegen 25.196,50 EUR sA, über den Rekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom 7. Jänner 2013, GZ 4 R 199/12f‑31, womit das Urteil des Landesgerichts Ried im Innkreis vom 24. Juli 2012, GZ 32 Cg 12/12h‑25, zum Teil aufgehoben wurde, beschlossen und zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Dem Rekurs (gegen Punkt II der angefochtenen Entscheidung, nämlich Aufhebung des klagsstattgebenden Teils des Ersturteils) wird Folge gegeben.

Punkt II der angefochtenen Entscheidung, die in ihrem Punkt I (Bestätigung der Abweisung des Mehrbegehrens von 10.078,60 EUR sA) als in Rechtskraft erwachsen unberührt bleibt, wird dahin abgeändert, dass das insoweit klagsstattgebende Urteil des Erstgerichts und dessen Kostenentscheidung wiederhergestellt wird.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 3.631,74 EUR (darin enthalten 389,29 EUR an USt und 1.296 EUR an Barauslagen) bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Zwischen den Parteien besteht ein Unfallversicherungsvertrag, dem die „Klipp & Klar Bedingungen U 500“ (in der Folge AVB) zu Grunde liegen. Art 7 lautet:

Soweit nichts anderes vereinbart ist, gilt:

1. Voraussetzung für die Leistung:

Die versicherte Person ist durch den Unfall auf Dauer in ihrer körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit beeinträchtigt. ...

2. Art und Höhe der Leistung:

...

2.2. Bei völligem Verlust oder völliger Funktionsunfähigkeit der nachstehend genannten Körperteile und Sinnesorgane gelten ausschließlich, soweit nicht etwas anderes vereinbart ist, die folgenden Invaliditätsgrade:

...

eines Beines 70 %

...

2.3 Bei Teilverlust oder Funktionsbeeinträchtigung gilt der entsprechende Teil des jeweiligen Prozentsatzes.

3. Für andere Körperteile und Sinnesorgane bemisst sich der Invaliditätsgrad danach, inwieweit die normale körperliche oder geistige Funktionsfähigkeit insgesamt beeinträchtigt ist. Dabei sind ausschließlich medizinische Gesichtspunkte zu berücksichtigen. ...

Am 4. 9. 2009 verletzte sich der Kläger beim Abladen von Holzplatten am linken Knie. Er erlitt einen unverschobenen Längsbruch der linken Kniescheibe, der ordnungsgemäß abgeheilt ist. Es bestehen aber unfallbedingte Dauerfolgen, und zwar auf Grund einer Knorpelfissur eine Beugehemmung und Schmerzen beim Beugen des Kniegelenks. Das linke Kniegelenk kann er um 20 % weniger beugen als das rechte. Die linke Oberschenkelmuskulatur ist verschmächtigt (2 cm Umfangdifferenz).

Durch den Unfall wurde das vordere Kreuzband nicht verletzt. Die schon davor bestandene Instabilität des vorderen Kreuzbands führt ebenfalls zu einer Muskelschwäche des linken Beins.

Die unfallkausale dauernde Invalidität des linken Beins beträgt 6 % des Beinwerts.

Der Kläger begehrte aus der Unfallversicherung den Klagsbetrag, weil er durch den Längsbruch der Kniescheibe links eine dauerhafte Minderung des Beinwerts von 10 % erlitten habe.

Die Beklagte beantragt die Abweisung des Klagebegehrens, weil der von ihr beauftragte Gutachter für Unfallchirurgie festgestellt habe, dass das linke Kniegelenk des Klägers uneingeschränkt beweglich und bandstabil sei und keine Muskelverschmächtigungen vorlägen.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren mit 15.117,90 EUR sA statt, was dem festgestellten Invaliditätsgrad von 6 % des Beinwerts entspricht. Der Unfall sei in diesem Ausmaß kausal gewesen. Das Mehrbegehren wies es ab.

Das Berufungsgericht bestätigte den klagsabweisenden Teil des Urteils, hob aber den klagsstattgebenden Teil und die Kostenentscheidung auf. Die Invalidität sei nach der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit eines durchschnittlichen Versicherten zu beurteilen. Vergleichsmaßstab sei die normale Leistungsfähigkeit eines unversehrten Versicherten gleichen Alters und Geschlechts, wobei besondere individuelle Begabungen und Fähigkeiten außer Betracht zu bleiben hätten. Es sei ausschließlich auf medizinische Gesichtspunkte zurückzugreifen. Der Gutachter habe das verletzte Knie mit dem gesunden Knie des Versicherungsnehmers verglichen. Wenn jemand das Knie mehr beugen könne als dies dem Normwert entspreche, so sei auch die Beugehemmung auf seinem verletzten Knie größer. Der Gutachter sei davon ausgegangen, dass der Kläger vor dem Unfall das Kniegelenk mehr als die durchschnittliche Bevölkerung habe beugen können. Damit sei auch die Funktionsminderung größer. Die Begriffe „normale körperliche oder geistige Funktionsfähigkeit“ könnten von einem durchschnittlichen Versicherungsnehmer nur so verstanden werden, dass es bei der Beurteilung der Invalidität auf die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit des durchschnittlichen Versicherten seiner Altersgruppe ankomme. Ob die Beugefähigkeit des linken Knies des Klägers auf Grund des Unfalls von der Beugefähigkeit einer abstrakten Vergleichsperson gleichen Alters abweiche, sei nicht festgestellt. Es bedürfe in dieser Hinsicht einer Verfahrensergänzung.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass der Rekurs zulässig sei, weil zur Frage, ob bei der Bemessung des Invaliditätsgrads der Vergleichsmaßstab die normale Leistungsfähigkeit eines Versicherten gleichen Alters und Geschlechts sei oder ob es auf die individuellen Fähigkeiten der betroffenen versicherten Person ankomme, Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs nicht vorliege.

Gegen den Aufhebungsbeschluss richtet sich der Rekurs des Klägers mit dem Antrag, insoweit das erstinstanzliche Urteil wiederherzustellen, hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Beklagte beantragt, den Rekurs zurückzuweisen, hilfsweise ihm nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Der Rekurs ist zulässig, er ist auch berechtigt.

Im Verfahren vor dem Obersten Gerichtshof ist nur mehr strittig, ob der Invaliditätsgrad nach der normalen Leistungsfähigkeit eines durchschnittlichen Versicherungsnehmers gleichen Alters und Geschlechts auszumessen ist, oder ob zu berücksichtigen ist, dass der Kläger vor dem Unfall allenfalls über eine überdurchschnittliche Beugefähigkeit der Kniegelenke verfügte.

Die vorliegenden AVB legen ‑ wie in der Unfallversicherung üblich ‑ für bestimmte Körperteile (wie hier für ein Bein) und Sinnesorgane abstrakt Invaliditätsgrade bei völligem Verlust oder völliger Funktionsfähigkeit fest. Bereits durch die AVB ist klargestellt, dass es bei der Beurteilung des Invaliditätsgrads nicht auf individuelle Umstände, die nicht medizinischer Art sind, ankommen darf. Dies wird im Art 7.3 AVB noch ausdrücklich für die nicht in der Tabelle genannten Körperteile und Sinnesorgane ausgesprochen.

Die von der Beklagten gewünschte Einschränkung, dass bei der Beurteilung einer teilweisen Funktionseinschränkung auch in medizinischer Hinsicht nur von einem durchschnittlichen Versicherten auszugehen ist, findet im Text der AVB keine Deckung. Es ergibt sich daraus nur die generell abstrakte Bewertung des völligen Verlusts eines bestimmten Körperteils oder Sinnesorgans, sodass es eben nicht auf das individuelle Umfeld des Versicherten wie Beruf, Befähigungen und dergleichen ankommt.

Die deutsche Rechtslage ist mit der österreichischen nicht ident. Auch dort wird aber ‑ im Gegensatz zur Rechtsmeinung der Beklagten ‑ nicht die von ihr geforderte, strikt vom durchschnittlichen Versicherungsnehmer ausgehende Beurteilung vertreten. Überwiegend besteht die Ansicht, dass dauerhafte Beeinträchtigungen der körperlichen oder der geistigen Leistungsfähigkeit am Maßstab der Leistungsfähigkeit einer durchschnittlichen, gesunden Person gleichen Alters zu beurteilen ist (vgl Rixecker in Römer/Langheid , VVG³, § 180 Rn 2; Dörner im Münchener Kommentar zum VVG, § 178 Rn 238, § 180 Rn 2), doch wird einhellig betont, dass dies primär bedeute, dass auf typische berufsbedingte Notwendigkeiten nicht abzustellen sei und auch nicht darauf, zu welchem Zweck die Körperteile oder Sinnesorgane eingesetzt würden ( Grimm , Unfallversicherung 5 , AUB 2 Rn 3; Rixecker aaO; Dörner aaO; Leverenz in Bruck/Möller 9 , AUB 2008, Ziff.2.1 Rn 185f; Beckmann/Matusche-Beckmann , Versicherungsrechts‑Handbuch², S 2950; Knappmann in Prölss/Martin , VVG 28 , § 180 Rn 3).

Die generalisierende, abstrakte Betrachtungsweise zur Ermittlung des Invaliditätsgrads in der Unfallversicherung bezieht sich nur darauf, dass individuelle Erfordernisse des Berufs oder besondere Fähigkeiten, soweit sie medizinisch keine Bedeutung haben, außer Betracht zu bleiben haben. Ansonsten ist aber bei der Funktionsbeeinträchtigung vom konkreten Versicherungsnehmer und seiner individuellen Körpergestaltung auszugehen. Dies gilt umso mehr, wenn ‑ wie hier ‑ die beiden Gliedmaßen auf Grund des Unfalls nicht mehr gleich funktionsfähig sind und der Versicherte schon durch diese Differenz beeinträchtigt ist.

Das bedeutet für den vorliegenden Fall, dass der Ermittlung des Invaliditätsgrads beim Kläger seine konkrete Funktionsbeeinträchtigung auf Grund eines Vergleichs zwischen der Beweglichkeit des rechten und linken Kniegelenks zugrunde zu legen ist. Auch diese Beurteilung erfolgt damit rein nach medizinischen Gesichtspunkten.

Die Rechtssache ist daher bereits spruchreif. In diesem Fall ist in der Sache selbst zu entscheiden (RIS‑Justiz RS0043853) und das erstinstanzliche Urteil im klagsstattgebenden Umfang wiederherzustellen.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 50, 41 ZPO. Das Berufungsgericht hat bereits über den Kostenrekurs des Klägers entschieden. Im Hinblick auf die Wiederherstellung des Ersturteils in der Hauptsache ist vom Revisionsgericht auch über den Kostenrekurs der Beklagten zu entscheiden (RIS-Justiz RS0036069 [T1]; 7 Ob 111/12t). Dieser ist nicht berechtigt:

Die Ratio des § 43 Abs 2 ZPO ist es, dem Kläger die mit der Bezifferung des Klagebegehrens verbundenen Schwierigkeiten abzunehmen (RIS‑Justiz RS0122016). Die Bestimmung ist nur anwendbar, wenn die ziffernmäßige Höhe des Anspruchs vom Sachverständigen festgestellt werden muss (RIS‑Justiz RS0035998). Die Einschätzung des Invaliditätsgrads und damit der Höhe des Klagebegehrens ist für den Kläger ‑ im Gegensatz zur Rechtsmeinung der Beklagten ‑ keinesfalls leicht, hängt sie doch von der Beurteilung einiger medizinischer Fragen ab. Die Höhe des Anspruchs ergibt sich aus der Ausmittlung durch den Sachverständigen. Das Erstgericht hat zu Recht die Kostenentscheidung auf § 43 Abs 2 ZPO gestützt, sodass seine Kostenentscheidung wiederhergestellt wird.

Der Kläger hat im Rechtsmittelverfahren Anspruch auf Ersatz der Kosten seiner Berufungsbeantwortung und Revision.

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